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Auch Du wirst weinen, Tupamara: BsB_Roman
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eBook268 Seiten3 Stunden

Auch Du wirst weinen, Tupamara: BsB_Roman

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Über dieses E-Book

Dem Terrorkommando ROTE KOLONNE (auch Tupamaros genannt) gehört auch Inge Kathrin Schwerdtfeger an. Die Tupamara erschießt im fanatischen Kampf gegen den US-Imperialismus auf dem Vorplatz des Tanzlokals WHY NOT die beiden amerikanischen Soldaten William Harper und Frank Summerfield. Harpers Sohn Steven ist zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt. Der gewaltsame Tod des Vaters trifft ihn schwer und beeinträchtigt sein ganzes weiteres Leben.
Als die Schwerdtfeger nach zwanzigjähriger Haft vorzeitig entlassen wird und der Presse gegenüber bekundet, sie könne ihre Tat nicht bereuen, ist es für den mittlerweile 35-jährigen Amerikaner so, als brächte sie seinen Vater ein zweites Mal um.
Das will er nicht hinnehmen.
Er reist nach Deutschland und heftet sich an die Fersen der Ex-Terroristin…
SpracheDeutsch
HerausgeberBest Select Book
Erscheinungsdatum8. Jan. 2016
ISBN9783864663826
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    Buchvorschau

    Auch Du wirst weinen, Tupamara - Hinrich Matthiesen

    Hinrich Matthiesen

    Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexiko. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.

    1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.

    Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.

    »Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«

    Deutsche Tagespost

    »Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«

    Deutsche Welle

    »Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«

    FAZ-Magazin

    Werkausgabe Romane Band 31

    Herausgegeben von Svendine von Loessl

    Der Roman

    Dem Terrorkommando ROTE KOLONNE (auch Tupamaros genannt) gehört auch Inge Kathrin Schwerdtfeger an. Die Tupamara erschießt im fanatischen Kampf gegen den US-Imperialismus auf dem Vorplatz des Tanzlokals WHY NOT die beiden amerikanischen Soldaten William Harper und Frank Summerfield. Harpers Sohn Steven ist zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt. Der gewaltsame Tod des Vaters trifft ihn schwer und beeinträchtigt sein ganzes weiteres Leben.

    Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches

    Hinrich Matthiesen

    Auch du wirst weinen,

    Tupamara

    Roman

    :::

    BsB_BestSelectBook_Digital Publishers

    Werkausgabe Romane

    Herausgegeben von Svendine von Loessl

    Band 31

    Alle Rechte vorbehalten

    © 2016 by BestSelectBook_Digital Publishers München

    ISBN 978-3-86466-382-6

    Prolog

    Sie war jung und schön und entschlossen und besuchte den »Ball der einsamen Herzen«, nicht um zu tanzen, sondern um zu töten.

    1.

    Und so kam es dazu, dass der vierzehnjährige Steven Harper seinen Vater verlor. Dieses Ereignis sollte sein Leben für immer überschatten.

    Wäre er damals nicht vierzehn, sondern vier Jahre alt gewesen, hätte er vermutlich am ersten Tag geweint, allein schon deshalb, weil er seine Mutter weinen sah wie nie zuvor, aber schon am nächsten Tag wieder draußen herumgetollt mit Bob oder Henry oder gar mit Mike, dessen ungebändigtes Temperament immer für besonders wilde Spiele gut gewesen war.

    Als Vierundzwanzigjährigen hätte die Todesnachricht ihn ohne Zweifel mit Trauer erfüllt, aber er wäre nicht aus dem Lot geraten, und die trotz ihrer Abnutzung immer wieder dienliche Devise, das Leben gehe weiter, hätte auch ihn schon bald in heilende Betriebsamkeit zurückgeholt. Er hätte seinen Job gemacht und auch wohl nichts dabei gefunden, sich an einem der nächsten Wochenenden mit einer Margret zu treffen oder mit einer Lucy oder wie sie auch heißen mochte.

    Vier oder vierundzwanzig, der Tod des Vaters hätte ihn auf die eine oder die andere Weise gefestigt gefunden, aber mit vierzehn? Mögen andere in diesem Alter gefeit sein gegen einen solchen Schlag, vielleicht, weil ihre Lebensumstände sie früh gefordert hatten oder der Vater ihnen aus wer weiß welchen Gründen nicht wirklich nahestand, auf Steven Harper traf das nicht zu. Für ihn bedeutete Vierzehn ein ganz verfluchtes Alter. Zum einen wohnte er nicht mehr in der Kindheit, wo er eine Art Welpenschutz genossen hätte, zum anderen war er aber auch noch nicht etabliert in der Erwachsenenwelt, die ihm mit ihrem Bestand an Erfahrungen Halt und Hort gewährt hätte, sondern hauste genau dort, wo das Nichtmehr und das Nochnicht den Unfertigen in bedrohlicher Schwebe hielten und jeder nur halbwegs heftige Wind ihn umblasen konnte.

    Prompt geriet er denn auch in einige Wirbel, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichten. Er war jetzt Mitte Dreißig, und immer noch gab es Gelegenheiten, bei denen er um den so früh Verstorbenen weinte, bitterlich weinte.

    Wahrscheinlich wäre William Harpers Sterben dem Vierzehnjährigen weniger rigoros in die Seele und in den Leib gefahren, wenn es sich angekündigt, wenn es Vorboten geschickt hätte, zum Beispiel beunruhigende Werte im Gewebe oder im Blut, lesbare Zeichen, die den Angehörigen den einen oder anderen Schwachpunkt im Befinden des Zweiundvierzigjährigen signalisiert hätten. Doch da hatte es keinerlei Meldungen gegeben. Ja, es war stets nur die Rede gewesen von einer geradezu unverschämten Physis. Und da die Ärzte sich nicht geirrt hatten, er dennoch im besten Mannesalter verstorben war, musste der Tod einen anderen als den üblichen Weg gegangen sein.

    William Harper hatte zu den in Deutschland stationierten amerikanischen Truppen gehört. Die kleine Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Sohn Steven, hatte, wie viele andere nach Kaiserslautern beorderte Soldaten und ihre Angehörigen, in einer ehemals deutschen, nach dem Krieg von den Besatzern belegten Kaserne ein paar Zimmer zugewiesen bekommen. Dort, in dieser für zivile Nutzung umgebauten Wohnung, hielten sich am 5. September vor zwanzig Jahren Williams Frau Mabel und ihr Junge auf, als spätabends ein Telefonanruf von der Standortverwaltung kam und ein captain Bruce Stanford sich bei ihnen meldete. Und wenn man denn doch für Mabel Harper und ihren Sohn eine gewisse Vorwarnung als erteilt ansehen will, so lag sie allenfalls in der Art begründet, wie der captain seinen Besuch ankündigte. Da schwang in der Tat Alarmierendes mit. Doch für eine Wappnung, wie etwa die Kenntnis eines seit Langem schwelenden Leidens sie ihnen ermöglicht hätte, war es absolut untauglich, denn Stanford war, nachdem er seinen Namen, seinen Dienstgrad und seine Einheit genannt hatte, fortgefahren:

    »Ma’am, ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie zu Hause sind. Ich komme in etwa einer halben Stunde zu Ihnen. Es geht um Ihren Mann.«

    Auf Mabel Harpers ängstliche Frage, ob ihrem William etwas zugestoßen sei, erwiderte Stanford nur: »Bin gleich bei Ihnen, ma’am!« Und dann legte er auf.

    Mabel Harpers telefonische Rückfrage beim Sekretariat der Standortverwaltung erbrachte nur, dass der captain bereits zu ihr unterwegs war. Worum es bei dem bevorstehenden Besuch ging, wusste der Mann nicht. Jedenfalls behauptete er das.

    Nun hatte Geduld noch nie zu ihren Stärken gehört, und so war sie nervös, ging hektisch im Zimmer hin und her, und als Steven sie fragte: »Was will der Mann von uns?«, brachte die Antwort ihre tiefe Besorgnis zum Ausdruck:

    »Ich weiß es nicht, aber es kann nichts Gutes sein. Sonst hätte er, bevor er den Hörer auflegte, noch schnell etwas Beruhigendes gesagt.«

    Dem Plan nach, der in der Küche an einer Magnetleiste haftete, hatte ihr Mann in dieser Woche Spätdienst von 6 p.m. bis Mitternacht. Am nächsten Tag, das war ein Sonnabend, hatte er frei, und den wollten er, Mabel und der Junge für einen Besuch amerikanischer Freunde in Heidelberg nutzen. Da sie beabsichtigten, sehr früh am Morgen aufzubrechen, hatte sie schon jetzt Williams Zivilkleidung bereitgelegt. Auf einem Sessel im Wohnzimmer hatte sie alles deponiert, auch das Kästchen mit seinen goldenen Manschettenknöpfen sowie das den Freunden zugedachte Geschenk, einen mit dem rot-weißen Stadtwappen von Kaiserslautern bemalten Bierkrug aus Steingut. Ihr Blick streifte die fürsorglichen Drapierungen, und in diesem Augenblick ahnte sie, dass die kleine Reise nach Heidelberg nicht stattfinden würde.

    Sie sollte recht behalten. Als der Erwartete dann kam und Platz nahm, sah sie es seiner Miene an, dass im nächsten Moment die schlimmste aller Nachrichten über seine Lippen kommen würde. Er machte denn auch nicht viele Umstände, sprach von einem traurigen und zugleich barbarischen Vorfall, der sich an diesem Abend in einem der Außenbezirke von Kaiserslautern abgespielt hatte, und als er eine Stunde später wieder ging, war Mabel Harper und ihrem Jungen das ganze furchtbare Geschehnis bekannt:

    William Harper, Unteroffizier der US-Army, war, zusammen mit Frank Summerfield und Jorge Orellana, zwei anderen amerikanischen Soldaten, Opfer eines terroristischen Anschlags geworden.

    Die drei Männer, turnusgemäß als Ordonnanzen der Military Police eingesetzt, befanden sich auf einer Streife. In ihrem kleinen, offenen Jeep fuhren sie durch Kaiserslautern, als Kontrollorgane kenntlich gemacht durch weiße Armbinden mit dem Aufdruck MP. Sie überprüften in den Straßen und Lokalen die Papiere der GIs. Von 20.15 Uhr bis kurz vor 21 Uhr hatten sie das Why Not inspiziert, eine Diskothek, die wegen der zahlreich dort anzutreffenden weiblichen Singles gern von amerikanischen Soldaten aufgesucht wurde. Das Sichten der Papiere war ohne Zwischenfälle abgelaufen. Danach hatten sie sich noch eine Weile neben ihrem Jeep aufgehalten und geraucht. Ganz zufällig hatten sie nebeneinander gestanden, wie aufgereiht, und dabei den Blick über ihr Fahrzeug hinweg auf die weitgeöffnete Tür des Why Not gerichtet.

    Da war eine Frau herausgekommen, eine junge, mittelgroße, blonde Frau mit leicht getönter Brille. In der Linken trug sie eine Handtasche. Sie hatte sich mit raschen Blicken nach links und rechts auf dem Vorplatz umgesehen, war dann an den Jeep herangetreten und hatte sich kurz mit beiden Ellenbogen auf den Türrahmen gestützt, sodass die drei Männer auf einen lockeren Plausch eingestellt waren, jedenfalls nichts Böses dachten.

    Doch dann hatte die Frau blitzschnell eine Pistole mit Schalldämpfer gezogen und dreimal gefeuert. Wie Schießbudenfiguren – so der Ausdruck des captains – waren die Männer nach hinten gekippt, wobei dem sergeant Harper die Zigarette aus der rechten und der Wagenschlüssel aus der linken Hand gefallen waren.

    Sofort darauf war die Frau um den Jeep herumgelaufen, über die drei Männer hinweggesprungen, hatte sich, den aufgeklaubten Schlüssel in der Hand, hinters Steuer gesetzt, den Motor gezündet, in einem rabiaten Manöver den Wagen gewendet und war davongebraust.

    Über das Drum und Dran und das Hinterher hatte der captain auch schon einiges erfahren und es an Mabel Harper und den Jungen weitergegeben: William Harper und Frank Summerfield waren sofort tot gewesen. Die Kugeln waren ihnen ins Herz gegangen, was auf eine zumindest im Umgang mit Handfeuerwaffen geschulte Täterin schließen ließ. Dass der dritte, Jorge Orellana, mit einer nicht lebensgefährlichen Verletzung davongekommen war, hatte er seiner schnellen Reaktion zu verdanken, und die Möglichkeit dazu hatte sich aus der Reihenfolge der Schüsse ergeben; sie nämlich hatte ihm, weil er das letzte der drei Ziele gewesen war, den entscheidenden Bruchteil einer Sekunde belassen, den er für das Wegducken gebraucht hatte. Für ein völliges Abtauchen jedoch hatte selbst die nicht ausgereicht, und so hatte die dritte Kugel sein linkes Schlüsselbein durchschlagen. Trotz des Schmerzes war er nicht ohnmächtig geworden, sodass er über den Tathergang und die Flucht der Mörderin umfassend hatte Auskunft geben können.

    Auch über die bei dem Anschlag verwendete Munition hatte Stanford berichtet. Es handelte sich um Parabellumgeschosse, Kaliber 9 Millimeter, und vermutlich waren sie aus einer Sig-Sauer-Combat-Pistole abgefeuert worden.

    Den Jeep hatte man vierzig Minuten nach der Tat in einer vielbefahrenen Straße der Innenstadt von Kaiserslautern gefunden. Eine gründliche Untersuchung der Fingerabdrücke hatte, als Stanford bei Mabel Harper war, noch nicht stattgefunden, doch davon, so der captain, verspreche man sich ohnehin nicht viel, weil, wie Orellana sich zu erinnern glaubte, die Täterin weiße Sommerhandschuhe getragen hatte.

    Nach dem Besuch des Offiziers erlitt Steven weitere schwere Erschütterungen. Zunächst war da, zwei Tage später, das Hintreten vor den toten Vater, das die Mutter ihm hatte verwehren wollen. Doch er hatte, wie schwer ihm dieser Schritt auch gefallen war, darauf bestanden, denn er wusste, dass er es sich nie verzeihen würde, den letzten Blick auf den Verstorbenen verschenkt zu haben aus Angst vor der damit verbundenen Prüfung. Er hatte dagestanden an der Hand der Mutter, den in seiner Uniform Aufgebahrten angestarrt und es nicht hinnehmen wollen, dass dieser Mund für immer verstummt, diese Augen für immer geschlossen sein würden, und hatte sich mit heißem Herzen diejenige herbeigesehnt, die seinem Vater die Kugel gegeben hatte wie bei einer Hinrichtung. Ein paar ekstatische Augenblicke lang stellte er sich sogar vor, er hätte die Chance, sie zu strafen mit dem denkbar grausamsten Tod. Er war christlich erzogen worden, aber in diesen Minuten ging ihm so manche Todesart durch den Kopf, eine martialischer als die andere, und erst als die Mutter ihn mit den Worten »Aber Steven!« leise zur Ordnung rief, bemerkte er, dass er darauf und daran gewesen war, ihr die Finger zu brechen. Seine Hand entkrampfte sich, und dann weinte er, weinte hemmungslos.

    Bald darauf wurden die beiden getöteten Soldaten in einer Transportmaschine der US-Airforce nach New Orleans überführt. Die Harpers waren, abgesehen von den in Deutschland verbrachten Jahren, in Baton Rouge zu Hause, die Summerfields in Lake Charles. Eine kleine gemeinsame Trauerfeier sollte auf dem Airport von New Orleans stattfinden, bevor man die Toten dann in die jeweiligen Heimatorte bringen würde.

    Zusammen mit seiner Mutter sowie den Eltern und Geschwistern von Frank Summerfield und sechs Männern einer militärischen Abordnung stand Steven am frühen Morgen dieses regnerischen Septembertages neben der soeben gelandeten Maschine, als die Ladeklappen sich öffneten und die Särge herausgeschoben wurden.

    Er hatte Fieber und fühlte sich elend, ging aber tapfer mit in der kleinen Eskorte, die den von Jeeps langsam über das Rollfeld gezogenen, schwarz ausgeschlagenen und mit dem Sternenbanner geschmückten Lafetten folgte. Und wieder kreisten seine Gedanken um die Frau, die, wie inzwischen durch ein Bekennerschreiben publik geworden war, einem deutschen Terrorkommando angehörte, das – so hieß es in dem kämpferisch abgefassten Text – gegen den amerikanischen Imperialismus vorging, wo immer der sich zeigte.

    Es gab kein Bild von ihr. Er wusste nur, was der captain erzählt hatte und was später in den Medien berichtet worden war. Mittelgroß, blond, hübsch, das waren die spärlichen Attribute, die zur Verfügung standen und auf abertausend Frauen zutrafen. So geisterte sie als eine verschwommene Erscheinung durch seine Gedanken, war dennoch mehr als nur ein Phantom, war ein Mensch aus Fleisch und Blut, aus faulem Fleisch und faulem Blut, eine Mörderin eben, die gemeinsam mit nicht minder verruchten Artgenossen in Deutschland ihr Unwesen trieb, dabei so vermessen war, ihr Vorgehen als einen Krieg und ihre Verbrechen als geboten, ja, der Lage nach als notwendig hinzustellen.

    Er wusste nicht viel über die Gruppe, die sich Rote Kolonne nannte und die ihm in seinem deutschen Gymnasium als eine ursprünglich gegen den Vietnamkrieg ins Leben gerufene Initiative beschrieben worden war, aber als er an diesem Morgen hinter den Särgen herging, beschloss er, sich umfassend über jenes Kommando, das auch den Namen Tupamaros führte, zu informieren.

    In heftigsten inneren Aufruhr geriet der Junge zwei Monate nach dem Anschlag, als Jorge Orellana zu einem Genesungsurlaub in die USA kam. Der von puerto-ricanischen Eltern abstammende Zweiundzwanzigjährige war in einem kleinen Ort in Alabama zu Hause und machte auf seiner Reise einen Abstecher nach Baton Rouge, wohin die beiden Harpers nun zurückgekehrt waren.

    Einerseits freute Steven sich, dem Mann wiederzubegegnen, der seinen Vater als Letzter lebend gesehen und den er nach dem Attentat in der Klinik besucht hatte. Zum anderen gingen ihm unwillkürlich Gedanken durch den Kopf wie: »Warum stand er und nicht mein Vater rechts in der Reihe?« oder »Warum hat sie links und nicht rechts mit ihrer mörderischen Salve begonnen?« Im einen wie im anderen Fall hätte es dann sein Vater sein können, dem die Zeit blieb, in Deckung zu gehen. Doch solche Überlegungen, das wusste er natürlich, waren müßig. Genauso gut hätte er fragen können: »Warum mussten die drei ihre Kontrolle ausgerechnet zu dieser Stunde im Why Not durchführen?« Oder gar: »Warum ist die Mutter der Terroristin nicht vor zwanzig oder dreißig Jahren mit ihrem Teufelsbaby im Bauch die Treppe heruntergefallen?« Ihm war klar, auf viele der großen und kleinen Warum-Fragen dieser Welt gab es keine Antwort oder eben nur die, dass der große Adressat es in seiner Allmacht so und nicht anders gewollt hatte. Aber von einer solchen Generallinie hielt er nichts, zumindest meinte er, sie entlaste nicht das Heer der sterblichen Schuldigen, also auch nicht die Frau, die seinen Vater umgebracht hatte.

    Er wurde ein denkwürdiges Ereignis, der Kaffeebesuch Jorge Orellanas bei der Witwe Harper und ihrem Sohn. Neben der schon vom Anlass her bedingten Bedeutung des Treffens ergab sich für Steven noch eine Besonderheit. Sie stellte sich erst gegen Ende ein und irritierte ihn derart, dass sie ihm noch jetzt, viele Jahre danach, zu schaffen machte. Es ging dabei um die letzten Worte des Vaters. Er wusste, solche Bekundungen fielen manchmal banal aus oder unangemessen, ja, grotesk. Das hing vom Zufall ab. Da konnten beglückende Aussagen gemacht werden, wohlgeeignet, verwahrt zu werden. Wer kannte sie nicht, die Worte »Mehr Licht!« oder »Gebt mir das Buch!« oder »Gott schütze Amerika!«, die in die Geschichte eingegangen waren. Sie waren auch ihm geläufig, weil kaum ein Lehrer sie in seinem Unterricht ausließ. Aber es gab auch Nichtssagendes oder gar Anrüchiges, das man dann lieber verschwieg. Alle Varianten waren möglich. Versierte oder einfach nur barmherzige Überbringer schwindelten bisweilen, erfanden etwas, womit die Familie sich trösten konnte. Nun war Jorge Orellana weder versiert noch sonderlich barmherzig, wohl aber gehorsam, jedenfalls hinsichtlich dessen, was er Mabel Harper zu überbringen hatte. Dabei hielt er sich an jenen Text, den sein Vorgesetzter, ein findiger Leutnant, ersonnen hatte, breitete also an dem kleinen runden Tisch bei Kaffee und Gebäck die amtliche Version aus, leitete sie – auf Mabel Harpers Frage, ob ihr William gelitten habe – ein mit den Worten:

    »Nein, ma’am! Nicht die Spur! Die Kugel ging ja mitten ins Herz, also war kein bisschen Zeit zum Leiden. Plopp, plopp, plopp, so kam es aus dem Schalldämpfer, und wir drei fielen um, das heißt, ich fiel nicht, sondern warf mich zu Boden, weil ich der Letzte war und darum ’ne Chance hatte.«

    »Dann… hat er also gar nichts mehr sagen können?«

    »Nein, ma’am. Aber ich erinnere mich noch ziemlich genau an das, worüber wir vorher gesprochen hatten.«

    »O ja, sagen Sie uns das!«

    Der Leutnant hatte ihm eingebläut, es nicht zu direkt zu machen, um Himmels willen nicht herauszuplatzen mit so ’nem dicken Spruch wie »Ach, könnte ich doch jetzt bei meiner Mabel sein!« Zwar sollte er die Frau und den Jungen erwähnen, hatte der Offizier gemeint, aber mehr am Rande, beiläufig, in der Hauptsache müsste es um etwas anderes gegangen sein. Nach seinem Vorschlag für eine brauchbare Drehbuchpassage hatte der Leutnant wörtlich zu ihm gesagt: »So machst du’s! Die filtern sich schon selbst heraus, was sie für ihre Seelen brauchen können.«

    »Wir hatten uns«, berichtete Orellana, »über unser ödes Kasernendasein unterhalten und über die Stadt, also Kaiserslautern, auch über andere deutsche Städte, zum Beispiel Köln mit dem berühmten Dom, und William meinte, als wir da draußen standen und noch eine rauchten, er würde gern mal dahin fahren, dann aber nicht in einer Kaserne übernachten, sondern in einem guten Hotel. Und er sagte: ›Ich würde meine beiden mitnehmen und ihnen alles zeigen…‹.«

    Dass er keine Namen genannt, nur von seinen beiden gesprochen hatte, machte das Zitat zugleich beiläufig und glaubwürdig, und was der Leutnant beabsichtigt hatte, stellte sich ein: Mabel Harper horchte auf, fragte nach, ließ sich die Stelle wiederholen, und Orellana war sicher, sie verwahrte sie von da an in ihrem Herzen. Ihren Sohn aber hatte der Bericht so erregt, dass er aufstand, die leeren

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