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Fluchtpunkt Yucatán: BsB_Schicksalsroman
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Fluchtpunkt Yucatán: BsB_Schicksalsroman
eBook349 Seiten4 Stunden

Fluchtpunkt Yucatán: BsB_Schicksalsroman

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Über dieses E-Book

Jeder ist so vieles, lebt aber von dem, was er ist, nur einen Bruchteil aus.
Jannick will eigentlich nur ein paar Tage allein sein, ohne seine Frau und seine beiden halbwüchsigen Kinder. Doch die kleine Flucht aus dem Alltag wird zum Abenteuer, zum Albtraum. Der schnell gefundene Freund für abwechslungsreiche Tage verrät ihn. Jannick schlägt blindwütig zu - erschlägt ihn.
Jannick Erdmanns wohlbehütete bürgerliche Existenz ist vernichtet. Aber hat er nicht immer schon von einem aufregenden, „alternativen“ Leben geträumt? Er fliegt nach Yucatán, um dort unter einem anderen Namen ein neues Leben zu beginnen.
Hinrich Matthiesen hat einen spannenden, an abenteuerlichen Verwicklungen und dramatischen Konflikten reichen unterhaltsamen Roman geschrieben, der eindrucksvoll zeigt, wie Menschen mit den Sehnsüchten und Träumen anderer skrupellos spielen können.
SpracheDeutsch
HerausgeberBest Select Book
Erscheinungsdatum2. März 2016
ISBN9783864663635
Fluchtpunkt Yucatán: BsB_Schicksalsroman

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    Buchvorschau

    Fluchtpunkt Yucatán - Hinrich Matthiesen

    Hinrich Matthiesen

    Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexiko. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.

    1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.

    Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.

    »Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«

    Deutsche Tagespost

    »Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«

    Deutsche Welle

    »Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«

    FAZ-Magazin

    Werkausgabe Romane Band 14

    Herausgegeben von Svendine von Loessl

    Der Roman

    Jeder ist so vieles, lebt aber von dem, was er ist, nur einen Bruchteil aus.

    Jannick will eigentlich nur ein paar Tage allein sein, ohne seine Frau und seine beiden halbwüchsigen Kinder. Doch die kleine Flucht aus dem Alltag wird zum Abenteuer, zum Albtraum. Der schnell gefundene Freund für abwechslungsreiche Tage verrät ihn. Jannick schlägt blindwütig zu – erschlägt ihn.

    Jannick Erdmanns wohlbehütete bürgerliche Existenz ist vernichtet. Aber hat er nicht immer schon von einem aufregenden, „alternativen" Leben geträumt? Er fliegt nach Yucatán, um dort unter einem anderen Namen ein neues Leben zu beginnen. 

    Hinrich Matthiesen hat einen spannenden, an abenteuerlichen Verwicklungen und dramatischen Konflikten reichen unterhaltsamen  Roman geschrieben, der eindrucksvoll zeigt, wie Menschen mit den Sehnsüchten und Träumen anderer skrupellos spielen können.

    Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches

    Hinrich Matthiesen

    Fluchtpunkt

    Yucatán

      Roman

    :::

    BsB_BestSelectBook_Digital Publishers

    Werkausgabe Romane

    Herausgegeben von Svendine von Loessl

    Band 14

    Alle Rechte vorbehalten

    © 2016 by BestSelectBook_Digital Publishers München

    ISBN 978-3-86466-363-5

    Teil 1

    1.

    Jannick Erdmann stand draußen am Heck. Ein paar Frosttage hatten die sonst so ansehnliche Kieler Förde in ein schmutziges grauweißes Gewässer verwandelt. Die treibenden Eisschollen sahen aus wie nachlässig drapierte Tupfen aus Eierschaum auf einem großen Teller Suppe.

    Er sah hinunter ins Schraubenwasser und beobachtete, wie die Möwen in die quirlige Gischt hineinschossen, um sich die Brotbrocken herauszufischen, die die Schulkinder ihnen vom oberen Deck aus zuwarfen. Aber er verfolgte das Geschehen, das sich täglich wiederholte, nur mit halbem Interesse. Er dachte an die Deutschstunde, die erst vor gut zwanzig Minuten zu Ende gegangen war. Marlies Menke hatte wieder einmal so ungeniert dagesessen. Vorn, in der ersten Reihe. Sie trug, im Gegensatz zu den meisten ihrer Mitschülerinnen, keine Jeans, sondern Kleider und Röcke, und heute war ihr Rock noch höher gerutscht als sonst. Ist sie einfach nur naiv?, fragte er sich. Oder weiß sie genau, was sie da tut?

    Trotz der Kälte und des Windes zog Jannick Erdmann die Handschuhe aus, bückte sich und holte sein Notizbuch aus der zu seinen Füßen stehenden Aktentasche, blätterte darin, sah sich Marlies Menkes Zensuren an. Geschichte: vier, zwei, drei, drei. Deutsch: zwei, zwei, drei. Sonstiges: nur der Vermerk über eine nicht abgelieferte Hausaufgabe und einmal ein Pluszeichen für ein freiwillig übernommenes Referat. Sie hat also, sagte er sich, keinen Grund, es mit unlauteren Mitteln zu versuchen. Wenn es ihr aber doch um die Zensuren geht und sie also noch bessere haben will, wieso denkt sie dann, dass solche Tricks verfangen könnten?

    Er steckte das Notizbuch zurück in die Tasche, hauchte in die kalt gewordenen Hände, zog die Handschuhe wieder an. Sein Blick glitt hinüber zum Ufer, aber auch jetzt nahm er nur mit halber Aufmerksamkeit in sich auf, was dort zu sehen war; die Reventlow-Brücke, keine Brücke im eigentlichen Sinn, sondern nur einer der Anlegestege des westlichen Förde-Ufers; auf den Bohlen ein paar winterlich gekleidete Menschen, die auf das andere, das stadtwärts fahrende Schiff warteten; links von dem hölzernen Steg die Kais der großen Fähr-Linien, die ihre Schiffe nach Skandinavien schickten, nach Korsør, Oslo und Helsinki; rechter Hand das Landeshaus, Sitz der Behörden, auch des Schulamtes, auf dessen Korridoren er einige Male auf und ab gegangen war, ähnlich beklommen wie früher als Kind auf den langen dunklen Fluren seiner Schule.

    Seine Gedanken kehrten zurück zu Marlies Menke, aber nun war er nicht mehr mit ihren Zensuren beschäftigt, sondern überlegte: Vielleicht könnte es auf einem Maskenball geschehen, auf dem man sich für ein paar Stunden hinter dem Kostüm und der schwarzen Larve verstecken kann. Ich würde als rancher gehen und einen Texashut mit breiter Krempe tragen, damit auch das, was die Larve nicht verdeckt, im Schatten bleibt. Und meine Stimme halte ich zurück. Oder ich verstelle sie. Es ist Sommer, ein Sommerfest, und ich gehʼ in der Nacht, weilʼs mir drinnen zu warm ist und zu laut, hinaus in den Garten. Und da sitzt sie dann schon, allein, auf einem Brunnenrand oder einer Bank. Auch sie voller Träume und Sehnsüchte oder einfach nur ein bisschen gelöst von dem Wein, den sie getrunken hat. Und sie sagt: »Hallo, rancher, suchst du nach deinen entlaufenen Tieren?« Und ich sagʼ, weil sie einen Umhang aus Sevillaner Spitzen trägt: »Hallo, Carmen!« Und dann: »Ja, die Tiere. Willst du mir nicht helfen?« Und wir suchen gemeinsam, entfernen uns immer mehr vom Haus. Der Garten ist groß wie ein Park, und wir geraten an seinen Rand. Die Musik kommt von ganz weit, tönt nur noch schwach zu uns herüber. Wir legen uns nebeneinander ins Gras, streifen uns gegenseitig die Larven vom Gesicht. Aber sie erkennt mich nicht, denn es ist dunkel. Sie löst den Gürtel des Texaners, und ich komme, an allen Staatsanwälten vorbei, zu meinem Glück. Und am nächsten Morgen – es ist ein Montag, und er beginnt mit Geschichte – frage ich sie ganz milde nach dem Wiener Kongress oder nach dem Deutschen Bund und billige ihr zu, mir alle Antwort schuldig zu bleiben, weil sie immer noch den Texaner im Kopf hat.

    Der Stoß des Fährschiffs gegen den Kitzeberger Anlegesteg riss ihn aus seinen Träumen. Er betrat die Gangway, grüßte zerstreut ein paar Bekannte, ging vorsichtig über die vereisten Bohlen der Mole. Als er eine Minute später den Waldweg erreichte, stellte er sich auf seine Familie ein.

    Der Tisch war gedeckt. Die Kinder saßen schon. Er war mittags immer der letzte, der nach Hause kam. Carola ging mit der Schüssel von Platz zu Platz und legte auf.

    »Herr Mischke hat mir in Kunst dreizehn Punkte gegeben, eine Eins minus.« Ninas Hand glitt über die Tischdecke, schob einen graugrünen Gegenstand neben den Teller ihres Vaters. »Ist aus Speckstein gemacht«, ergänzte sie.

    Jannick Erdmann nahm das kleine Gebilde in die Hand, betrachtete es. Es stellte einen Kopf mit zwei Gesichtern dar, einem, das nach links, und einem, das nach rechts sah.

    »Ich habʼ lange daran gefeilt und geschliffen«, fuhr Nina fort. »Ich hatte Pech, kriegte den allerletzten Stein. Die anderen hatten viel schönere, auch größere, aus denen sich mehr machen ließ. Holger holte aus seinem ein ganzes Pferd heraus. Mit Reiter.«

    »Das ist ein Januskopf«, sagte Erdmann.

    »Ja, das meinte Herr Mischke auch. Was ist das eigentlich, ein Januskopf?«

    »Ein römischer Gott. Der Gott des Torbogens. Später nannte man ihn auch den Gott des Anfangs.« Seine Hand umspannte die Figur, umschmeichelte den glatten Stein. »Fasst sich tatsächlich wie ganz fester Speck an. Wie Fleisch. Wie kühle Haut. Warum hast du ihm zwei Gesichter gegeben?«

    »Na ja, nur so ein gewöhnlicher Kopf, das war mir zu simpel. Und da habʼ ich mir gedacht, machst ihm ein Doppelgesicht; dann ist er wenigstens ein bisschen geheimnisvoll.« Nun nahm auch die Mutter die Figur in die Hand, betrachtete sie lange. »Die Gesichter sind sehr verschieden«, sagte sie. »War das Absicht? Oder war es zu schwer, das Gleiche noch einmal zu schaffen?« Sie schob ihrem Mann den Stein wieder zu.

    »Zuerst wollte ich sie genau gleich machen«, antwortete Nina, »aber dann fiel mir ein, dass man manchmal von einem Menschen sagt, er hat zwei Gesichter oder auch zwei Seelen, und damit meint man ja gerade den Unterschied, nämlich zwei ganz verschiedene Charakteranlagen. Und ich finde, das sind meistens die interessanten Typen, und darum habʼ ichʼs so gemacht. Ich gebe zu, das war natürlich etwas leichter, als sich beim zweiten Gesicht ganz genau an das erste zu halten.«

    Jannick Erdmann schob seinen Teller zur Seite, nahm die Figur wieder auf und hielt sie mit beiden Händen, wobei die Finger wie streichelnd über die beiden Gesichter fuhren.

    »Ja, es sind wirklich zwei verschiedene Menschen«, sagte er. »Der eine lächelt ein bisschen.« Er hob den Stein in die Höhe, zeigte ihn herum.

    »Vater, ich schenke dir den Kopf«, sagte Nina. »Ich merkʼ schon, dir sagt er am meisten. Du kannst ihn als Briefbeschwerer benutzen. Außerdem heißt du so ähnlich, Jannick und Janus, das ist doch fast das Gleiche.«

    Der Vater sah seine Tochter an. »Ist das nicht ein bisschen zu impulsiv? Irgendwann würdest du ihn vielleicht gern einem Freund schenken, und dann hast du ihn nicht mehr.«

    »Ach was!«

    »Vielen Dank, Nina!« Er griff mit der Linken über den Tisch, streichelte den Arm seiner Tochter. »Ich freue mich über die Figur. Sie soll auf meinem Schreibtisch stehen und mir, je nachdem, wie ich mich fühle, ihr ernstes oder ihr heiteres Gesicht zeigen.«

    Er wandte sich seinem Sohn zu: »Und was hast du von der Zensurenfront zu melden?«

    Ralph wischte sich den Mund mit der Serviette ab. Während die Tochter mehr dem Vater ähnelte, seine graugrünen Augen hatte und das blonde Haar und manchmal sogar sein Mienenspiel, war der Sohn der Mutter nachgeraten, hatte ihr südländisches Aussehen geerbt, ihren dunklen Teint und das fast schwarze Haar. Auch die haselnussbraunen Augen und die Art, wie er seinen Gesprächspartner bisweilen ansah, ein wenig keck, wenn nicht gar herausfordernd, hatte er von der Mutter. Diese zugleich lustigen und listigen Augen waren auf den Vater gerichtet, als der Vierzehnjährige nun antwortete: »Die Einsen holt man sich in den allerersten Klassen und in den allerletzten. In der Pubertät kriegt man Dreien, Vieren und Fünfen. Das ist immer so. Das sagen sogar unsere Lehrer.« Und um seine Behauptung zu untermauern, übertrieb er den Stimmbruch, legte es, als er weitersprach, förmlich an auf die heiseren und krächzenden Töne: »Ihr könnt froh sein, dass ich nicht ausschließlich Fünfen anbringe! Und dabei bin ich wirklich mittendrin.«

    Jannick Erdmann zündete sich eine Zigarette an. »Also gehtʼs in zwei Jahren, wenn du halbwegs da hindurch bist, wieder aufwärts?«

    »Aber sicher doch!«

    »Dann bin ich ja beruhigt. Und wie sieht heute«, fragte er in die Runde, »das Nachmittagsprogramm aus?«

    »Ich muss in die Stadt«, antwortete Carola, »zum Zahnarzt. Ich nehme die Kinder mit. Ralph setze ich in Welllingdorf ab; er will mit Norbert Englisch machen. Und Nina möchte sich ein Paar Schuhe kaufen. Wir sind alle drei gegen halb sechs zurück. Und du? Willst du dich erst mal ein bisschen hinlegen?«

    »Ja, eine halbe Stunde. Danach habe ich ein paar Arbeiten zu korrigieren.«

    Er zog gleich die Schuhe aus und legte sich auf die Couch, winkte seiner Frau zu, als sie das Zimmer verließ.

    Neben der Couch stand ein flacher runder Tisch. Auf ihn hatte Jannick Erdmann die Specksteinfigur gestellt, seinem Kopf ganz nah. Er drehte die Figur, betrachtete den Mund des ernsten Gesichtes. Kein Lächeln und nicht so volle Lippen wie auf der anderen Seite. Das Wort ›gedrängt‹ fiel ihm ein. Ein gedrängter Mund. Ein Mund, der Härte verriet.

    Das ist es, dachte er, was mir immer gefehlt hat: Härte.

    Plötzlich gingen seine Gedanken weit zurück. Er sah sich als Kind. Auf dem Weg zur Schule. Schüchtern. Ängstlich. Mit der Verzweiflung des Sechsjährigen, der nicht zur Schule gehen will. Voller Angst vor dem Hausmeister, der, wie immer, in seinem grauen Kittel an der Tür stehen und Macht ausüben wird, indem er die ins Gebäude drängenden Massen abfängt, sie mit Herrscherblick und strengem Wort zur Räson bringt und in kleine geordnete Gruppen einteilt. Dieses Zittern vor dem Mann mit der Feldherrn-Attitüde, der die Schüler dirigiert, als stelle er Schlachtordnungen auf, der sich einzelne aus der lärmenden Schar herauspickt und sie an die Wand stellt.

    Später dann, die erste Stunde hat begonnen, die Angst vor dem Lehrer, vor seinen Kontrollen, selbst wenn alles in Ordnung ist; vor seinen tadelnden Worten ebenso wie vor seinem Notizbuch, diesem schrecklichen Register mit Langzeitwirkung. Und obendrein die Angst vor den Mitschülern, vor ihrer Überlegenheit, die sich allein schon darin zeigt, dass sie keine Angst haben. Mittags, endlich, die Erlösung!

    Doch am nächsten Morgen erneut die Beklommenheit und für einen Augenblick sogar der Argwohn gegenüber der Mutter, die es mit den anderen zu halten scheint und ihn, der wieder nicht in die Schule will, zum Gehen drängt, die ihn vorwärtsschiebt, weil er sich mit seinem ganzen kleinen verkrampften Körper auflehnt gegen den qualvollen Weg, sich auf den Fußboden wirft, sodass der Mutter nichts anderes übrigbleibt, als ihn mit dem sich schließenden Türblatt wie mit einem starken Besen ins Treppenhaus hinauszukehren.

    Ein anderes Bild. Der Fünfzehnjährige. Immer noch ängstlich gegenüber den anderen, immer noch voller Misstrauen, sobald er es mit ihrer Überlegenheit zu tun hat. Aber da ist auch schon der Zorn über die eigene Schwäche und der heiße Wunsch, anders zu sein, so zu sein wie die Starken, die er fürchtet und hasst und bewundert. Ein kläglicher Versuch, es ihnen gleichzutun, jedoch an der falschen Person, an der Mutter. Ausgerechnet an ihr, bei der es am wenigsten Sinn hat, Überlegenheit zu proben. Das Ergebnis? Ein geschmackloser, hässlicher Sieg: »Führst dich vor mir auf, als hättest du in deinem Leben alles richtig gemacht. Bei dir geht es immer nach Plan, jedes Wort, jeder Schritt. Sogar meine Spiele genau nach der Uhr, und das auch sonntags, wenn so viel Zeit ist. Und jeden Pfennig ins schwarze Büchlein. Mein Taschengeld ist gar keins, weil ich dieses verdammte Buch führen muss. Alles muss da rein, jede Feder, jeder Bleistift, sogar die Löschblätter zu einem Pfennig das Stück. Bist wie ein Revisor, falls du weißt, was das ist. Kein Wunder, dass mein Vater dich schon nach drei Jahren sitzenließ!«

    Ja, das hatte wohl ausgesehen wie ein Sieg damals, vor allem wegen ihrer Tränen und weil sie danach tagelang still war.

    Jannick Erdmann dachte: Wie konnte ich das nur tun? Wenn ich stattdessen Bert Manski verprügelt hätte, der immer meine Schultasche in anderer Leute Gärten warf, oder wenn ich überhaupt nur irgendwann einmal versucht hätte, einen der vielen, die mich quälten, zu verprügeln, das wäre, selbst wenn ich dabei den Kürzeren gezogen hätte, ein Sieg gewesen. Aber meine Mutter?

    Ihm fiel der Zwanzigjährige ein, der sich schon anders präsentierte, zwar immer noch schüchtern und befangen, aber doch schon so, dass es ihm manchmal durch eine lockere Geste und ein derbes Wort gelang, den anderen zu verbergen, wie sehr die Angst sich breitmachte in seinem Bauch.

    Er gehörte zu den ersten Bundeswehrjahrgängen, und bei den Soldaten ging es ihm ähnlich wie in der Schule. Er litt unter der ständigen Anwesenheit anderer, empfand ihre Nähe als Bedrohung und das Zusammensein mit ihnen als permanentes Austragen von Rivalität, als den lästigen Zwang, sich immer wieder gegen sie behaupten zu müssen. Aber, im Unterschied zu dem Abc-Schützen von einst, wusste der Soldat Jannick Erdmann, dass es entscheidend darauf ankam, die Bewährungsängste nicht zu zeigen und so zu tun, als sei man gelassen und habe schon wer weiß welche Wagnisse überstanden. Es fiel ihm schwer, dieses Spiel zu spielen, vor allem, es durchzuhalten.

    Und noch einmal ein Sieg, der gar keiner war. Der Zufall kam ihm dabei zu Hilfe. In der zweiten oder dritten Woche seines Kasernendaseins, nach einem Quartierwechsel, fand der Unteroffizier vom Dienst unter seiner Matratze eine flache Schachtel, die wohl vom Vorgänger dort vergessen worden war. Vor den Augen der Stubengenossen öffnete der Kapo sie und warf, was er mit spitzen Fingern da herausfischte, auf den Tisch, wobei er mehrmals ausrief: »Ein ganz dicker Hund ist das!«

    Was schließlich vor aller Augen dalag, war in der Tat verfänglich: ein Stapel Fotos von nackten Mädchen, ein paar Präservative, ein Damenhöschen, das in einer Streichholzschachtel Platz gefunden hätte, und dann noch etwas, was nicht nur nach Meinung des Unteroffiziers, sondern auch im Urteil des später hinzugezogenen Kompaniechefs als das eigentlich Belastende galt: eine Schachtel in der Schachtel. Der Unteroffizier öffnete sie, roch daran und stellte fest: »Normaler Tabak ist das jedenfalls nicht!« Natürlich hätte Jannick Erdmann die Chance gehabt, die Herkunft des verfänglichen Sortiments aufzuklären. Doch in diesem Augenblick, als er spürte, dass die auf ihn gerichteten Blicke seiner Stubengenossen nicht Ekel und Ablehnung, sondern in überwiegendem Maße Erstaunen und Anerkennung, ja, Bewunderung ausdrückten, witterte er in der Rolle des Überführten eine größere Chance für sich als in dem Bemühen, seine Unschuld zu beweisen, beging also die Flucht nach vorn und nutzte den Eklat zur Schaffung eines wenn auch sehr zweifelhaften Ansehens. Er gestand und nahm sogar den über ihn verhängten Arrest in Kauf. Doch auf die Dauer half ihm das nicht. Schon bald deckten die Stubengenossen auf, dass er der Held oder auch der Unhold, als der er sich zu Beginn ausgewiesen hatte, gar nicht sein konnte.

    Später hatte er dann, jedenfalls nach außen hin, doch einen respektablen Weg eingeschlagen. Er hatte sich mit Wissen gewappnet, war Lehrer geworden und also ausgerechnet an die Stelle zurückgekehrt, die seine ältesten und heftigsten Ängste erzeugt hatte.

    Merkwürdig, dachte er, dass ich sogar ein ganz guter Lehrer geworden bin, einer, den die Kinder mögen.

    Vom Flur her hörte er, dass seine Familie zum Aufbruch rüstete.

    Er gähnte, warf noch einen letzten Blick auf die Janus-Figur, schloss die Augen. Bald darauf schlief er ein.

    2.

    Eine halbe Stunde später ging er in die Küche und kehrte dann mit Kaffee und Keksen ins Zimmer zurück. Die Wintersonne warf ein fahles, hartes Licht in den Raum. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Plötzlich spürte er, dass er sich freute, allein zu sein, und zugleich erschreckte ihn diese Feststellung.

    Er stand wieder auf, stellte sich ans Fenster. Verrückt!, dachte er. Es ist verrückt! Sie sind mir doch nicht im Weg, und dennoch habʼ ich das Gefühl, mir seien ganz unerwartet ein paar schöne Stunden geschenkt worden.

    Er zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch genussvoll gegen die Gardinen, deren gelbliche Verfärbung schon oft Carolas Unmut erweckt hatte, und beobachtete, wie der graublaue Rauch durch die engen Maschen kroch.

    Wieso freue ich mich, allein zu sein?, fragte er sich. Weiß ich doch schon jetzt, dass ich spätestens ab fünf auf die Uhr sehe und darauf warte, dass sie zurückkommen, und mir, wenn sie um Viertel vor sechs noch nicht da sind, Sorgen mache.

    Erst jetzt zog er seine Schuhe an. Ein Schuhanzieher war ganz in der Nähe, lag in der Schreibtischschublade, weil Carola es hasste, wenn er die Hacken heruntertrat. Trotzdem stampfte er sozusagen freihändig in die noch ziemlich neuen braunen Slipper, verbog das Leder. Er musste drei-, viermal kräftig zutreten, bis es glatt anlag. Das tat ihm sogar weh, aber es tat ihm auch gut.

    Er hatte jetzt keine Lust, Aufsätze zu korrigieren, wollte sich die Hefte später vornehmen, wenn die drei wieder da wären, oder kurz vor ihrer Rückkehr mit der Arbeit beginnen.

    Er nahm die Specksteinfigur, stellte sie auf den Schreibtisch, setzte sich davor und drehte sie diesmal so herum, dass ihm weder das heitere noch das ernste Gesicht, sondern eines der beiden seltsam geformten Doppelohren zugekehrt war.

    Er überlegte: Wer bin denn nun ich? Der Schattenmann oder der andere? Ich glaube, ich habe von beiden etwas, bin keiner ganz und dann doch wieder mehr als beide zusammen. Ich bin der Schattenmann, aber ich habe nicht die Härte, die von seinem Mund ausgeht; und ich bin auch der Heitere, aber mir fehlt die Gelassenheit dieses Specksteinlächelns. Andererseits habʼ ich einiges, was keiner der beiden mir zeigt. Ich glaube, jeder Mensch ist so vieles und lebt von dem, was er ist, nur einen Bruchteil aus, ähnlich wie die Eisberge immer nur ihre Spitzen zeigen, während der Anteil des Unsichtbaren ein Vielfaches davon beträgt.

    Wer ich wohl geworden wäre, wenn mein Vater sich nicht aus dem Staub gemacht, sondern mich früh genug in den Wind gehalten hätte, statt mich meiner Mutter zu überlassen?

    Wie hätte mein Weg ausgesehen, wenn ich nicht in Deutschland, sondern an irgendeinem anderen Platz dieser Welt aufgewachsen wäre? Im Norden von Sonora vielleicht, als Kind armer mexikanischer Eltern, das heimlich über die Grenze gehen muss, um drüben, auf der anderen, der gesegneten Seite, in der Baumwollernte zu arbeiten? Dann wäre ich wohl ein tapferer kleiner Bursche geworden, der sich durchbeißt und dem es immer wieder gelingt, den Jägern an der Grenze durch die Lappen zu gehen. Dann wäre ich mit zwanzig ein Mann gewesen, den das Gelächter der anderen kaltlässt, oder sogar einer, bei dem niemand zu lachen wagt.

    Denkbar wäre auch, als Sohn des Plantagenbesitzers geboren zu sein, für den diese Mexikaner arbeiten. Dann hätte ich, schon als Kind, die Felder kontrolliert, zu Pferde, und hätte vom Sattel aus den Indios und Mestizen meine Macht gezeigt, natürlich nicht mit der Peitsche, die Zeiten sind längst vorbei, aber mit Blicken und Worten.

    Gut wäre auch gewesen, mit fünfzehn oder sechzehn auf ein Schiff zu gehen und um die Welt zu fahren. Dann wäre ich Offizier geworden oder sogar Kapitän, jedenfalls jemand, über den keiner lacht.

    Jannick Erdmann fand, dass die Verteilung der Chancen etwas bestürzend Zufälliges hatte, und er überlegte, ob das einmal Ausgeteilte nicht vielleicht doch korrigierbar sei. Ihm fielen Beispiele ein, Fälle, in denen es mutigen und ausdauernden Männern gelungen war, den durch die elterlichen Lebensumstände abgesteckten kleinen Weg zu verlassen und stattdessen den großen zu wagen. Heinrich Schliemann. Hans Christian Andersen. Ja, sogar Karl May fiel ihm ein, der sich aus Armut, Krankheit und Kriminalität befreite, schließlich Ruhm und Wohlstand erreichte.

    Aber ich will ja gar nicht den Glanz des großen Schicksals, dachte er, sondern ich lehne mich dagegen auf, aus der Vielfalt der Möglichkeiten nur eine einzige zugeteilt bekommen zu haben, und das ein für alle Mal. Es ist erst wenige Tage her, dass ich vor meiner Klasse den »Malte« zitiert habe. »Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus…« Und dann, ein paar Zeilen weiter, die Einfälle, die vielen Möglichkeiten, etwas anderes zu sein, als man war: der Bukanier auf der Insel Tortuga, der Belagerer von Campeche, der Eroberer von Veracruz. Alles Mögliche konnte man sein, sogar ein ganzes Heer oder ein Anführer, zu Pferd oder zu Schiff. Aber auch ein Vogel, ungewiss welcher. Doch am Schluss stand die Zeile: »Nur dass der Heimweg dann kam.«

    Ist es nicht genau das, was ich schon immer, schon seit meiner Jugend gekannt habe, das Spiel mit einer beliebigen Existenz? Sind das nicht meine Träume? Und habe nicht auch ich es immer wieder erlebt, dass danach der Heimweg kam?

    Ja, überlegte er, sie sind zu anfällig, die Träume. Man müsste ihnen mehr Raum geben, sie mit Vitalität füllen, müsste verhindern, dass schon der kleinste Hauch von Wirklichkeit wie ein Sturmwind in sie hineinbläst und sie zerspellt. Denn sie sind ja meine Zuflucht, mein Refugium, sind der Ersatz fürs Abenteuer, das es in meinem wirklichen Leben nicht gibt. Und plötzlich, er hatte die ganze Zeit an seinem Schreibtisch gesessen, mal auf den Januskopf, mal nach draußen in die Winterlandschaft gesehen, fragte er sich: Warum eigentlich geht es in meinem Alltag so armselig zu? Und wusste die Antwort nur allzu gut: weil es mir am nötigen Mut fehlt. Weil mir immer wieder die Angst in die Quere kommt.

    Und plötzlich grübelte Jannick Erdmann nicht mehr und träumte auch nicht. Sondern er plante. Er schob die Aktentasche, die gegen den Schreibtisch lehnte, mit dem Fuß zu sich heran, hob sie auf, öffnete sie, kramte eine Weile zwischen Lehrbüchern und Heften und zog schließlich ein Blatt Papier heraus. Vor ein paar Tagen hatte er es in seinem Fach im Lehrerzimmer vorgefunden, es flüchtig gelesen und dann achtlos in seine Schultasche gesteckt. Nun las er den Text ein zweites Mal und mit wachsendem Interesse.

    Das Schreiben enthielt die Einladung zu einem Germanistentreffen in Lübeck. Für eine Woche der bevorstehenden Osterferien sollten Deutschlehrer aus dem gesamten Bundesland sich mit Kollegen aus der Hansestadt treffen, um ihre Erfahrungen im Umgang mit der Studienstufe auszutauschen. Die Teilnehmerzahl war auf dreißig Personen beschränkt. Für Unterkunft in einem Lübecker Hotel, so las er, sei gesorgt. Das Land könne wegen der angespannten Haushaltslage allerdings nur einen Zuschuss zahlen, sodass eine Eigenleistung von DM 150.- je Teilnehmer erforderlich sei.

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