was Leiden schafft
Von Hermann Brünjes
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mit Geist, Herz und Theologie
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Buchvorschau
was Leiden schafft - Hermann Brünjes
Prolog
Was Leiden schafft
Ein Jens Jahnke-Krimi
von
Hermann Brünjes
Gewidmet
jenen Menschen in Dorf und Region,
die krank, schwach, ausgegrenzt, einsam,
mit Schuld beladen sind
oder sonst irgendwie leiden müssen.
Möge Gott euch seine Vaterliebe zeigen und die
Gnade schenken, an seine Gegenwart im Leben, Leiden und sogar noch im Sterben zu glauben.
Danke.
Prolog
Er sammelt Granaten. Nicht Briefmarken, Bierdeckel oder Meißener Porzellan. Nein, Granaten.
Begonnen hatte es vor vielen Jahren. Damals war er zwölf. Mit seiner Mutter und dem Stiefvater wohnte er direkt am Truppenübungsplatz. „Stop! Live Firing stand in Rot auf Warntafeln am Rande der verbotenen Zone. Wenn er auch damals noch kein Englisch sprach, die Bedeutung dieser Schilder war klar: „Betreten verboten. Lebensgefahr!
Als ob sich Kinder und Jugendliche davon abschrecken ließen. Nein, er selbst und drei Nachbarskinder hatten etwas Großartiges entdeckt: Ein Gebiet, in das ihnen niemand folgte, eine „erwachsenenfreie Zone".
Natürlich waren sie vorsichtig.
Sorgfältig hatten sie die Pfade durch den dichten Kiefernwald auf Gefahren untersucht. Sie waren den kaum erkennbaren Spuren des Wildes gefolgt, hatten unter dem Wurzelteller einer vom Sturm umgeworfenen Kiefer tief im Heidesand ihr erstes Depot errichtet und später alles in einen vergessenen Bunker verlegt. Die Hülsen abgeschossener Patronen hatten sie zu Beginn vorsichtig auf Stöcker gespießt und in einem Eimer gesammelt. Dann waren sie mutiger geworden. Es war ja nur Übungsmunition. Immer wieder gab es darunter auch unversehrte, scharfe Patronen. Einige hatten sie aufgeschnitten und das Schwarzpulver daraus gesammelt.
Die erste selbstgebaute Rohrbombe war zwar nicht explodiert, aber es hatte gezischt wie bei einem Feuerwerkskörper. Die zweite hatten sie im Mülleimer neben dem Unterstand am Tor zur Schießbahn deponiert, die in Wachs getränkte Zündschnur angesteckt und sich hinter den dicken Planken der Schutzhütte in Sicherheit gebracht. Die Explosion zerfetzte den Mülleiner und machte ihn samt Inhalt zu einer Art Streubombe. Er wusste, sie hatten sich ein gefährliches Hobby ausgesucht. Aber ein überaus aufregendes.
Bis heute sind sie in Kontakt geblieben. Längst robben sie nicht mehr in Tarnklamotten durchs Gebüsch. Sowohl die Kindheit am Truppenübungsplatz als auch ihre gemeinsame Zeit bei den Pfadfindern war viel zu schnell vorbei. Zwei seiner Kumpel allerdings haben weitergemacht und manchmal beneidet er sie: Was er sich illegal, heimlich und im Verborgenen gönnt, können sie ganz legal, offiziell und staatlich gefördert bei der Bundeswehr ausleben. Aber gut, dass er sie hat. So sind inzwischen echte und größere Granaten in seiner Sammlung gelandet. Zu den zwei Blindgängern vom Truppenübungsplatz, der defekten Landmine, die ihm ein Mitschüler aus der Zehnten für seine komplette Sammlung Yu-Gi-Oh-Karten überlassen hatte und diversen Hülsen und Blindgängern aus einer alten Deponie, waren mehrere Handgranaten, eine 120er Mörsergranate und allerhand Gewehr- und Artilleriemunition gekommen.
Klar, sein Hobby war nicht nur gefährlich, er machte sich auch strafbar. Doch man würde ihn niemals erwischen. Er hatte sich einen bestens abgeschirmten Ort der Freiheit und Sehnsucht geschaffen, gewissermaßen eine neue „erwachsenenfreie Zone". Hier, meist in Tarnkleidung, lässt er seine Hände liebevoll über das kalte Metall seiner Sammelobjekte gleiten und simuliert in Computerspielen, was er mit seinen Granaten alles machen könnte. Hier fühlt er sich unbezwingbar, frei und spürbar jung.
Sein Kumpel beim Bund hat ihm angeboten, auch andere Waffen zu besorgen. Außer einer halbautomatischen Pistole hatte er jedoch nichts angenommen. Er ist Sammler, kein Krimineller, Terrorist oder abgedrehter Nazi.
Und nun hat er eine neue Option.
Er kann eine ganz besondere Granate erwerben. Liebevoll, fast zärtlich betrachtet er das gestochen scharfe Foto, das sein Kumpel ihm hat zukommen lassen. Schlank, in mattem Grau, glänzend und wunderschön werden drei Schmuckstücke präsentiert. Tödlich, aber gesichert. Er lehnt sich genüsslich zurück. Um eines dieser Prachtstücke in seine Sammlung zu integrieren, wird er weder Mühe noch Kosten scheuen.
Dienstag, 1. März
„Die spinnen doch!"
Erst nach einem einfachen Mittagessen, Nudeln mit Pesto, komme ich dazu, unser heutiges „Käseblatt" zu lesen. Am Vormittag war ich zum Testen im Nachbarort. Negativ lautet das Ergebnis und in diesen Zeiten ist „negativ das neue „positiv
. Endlich darf ich wieder unter Leute.
Maren lacht. „Da kannst du dann ja gleich mitmachen. Eine Pappnase habe ich oben noch irgendwo herumliegen!"
„Niemals! Ich mache mich doch nicht zum Affen!"
„Du bist eben ein typisch Norddeutscher, völlig unterkühlt! Wärst du am Rhein geboren, könntest du nicht anders. Die haben Karneval im Blut."
„Aber genetisch ist das ganz sicher nicht, sondern antrainiert. Die fahren schon als Babys im Prinzenwagen mit und werden bei Alaaf- und Helau-Rufen der Mutter gestillt. Das verstehe ich ja. Aber hier bei uns? Die haben vermutlich im tristen Februar einfach zu viel Langeweile."
Ich habe gerade den Artikel meiner Kollegin Elske gelesen. Wie immer sauber recherchiert und ansprechend geschrieben, berichtet sie über Karneval bei uns im Landkreis. In den letzten zwei Wochen hat sie mich vertreten. Ein bisschen regen sich deshalb Schuldgefühle in mir, deutlich mehr jedoch Erleichterung. Gut, dass nicht ich mich mit den Jecken herumschlagen musste.
Maren tippt auf das große Foto mit den verkleideten, lachenden und verzückten Karnevalisten. „Schau sie dir doch an! Die leben ihre Sehnsucht. Karneval ist ihre Leidenschaft, ihre Passion. Sie fiebern darauf hin, basteln monatelang an ihren Kostümen, Umzugswagen und Büttenreden herum und gehen ganz darin auf. Das ist doch etwas Schönes!"
Sie lacht und wehe, ich widerspreche ihr.
„Stimmt. Das hat natürlich was. Aber Passion definieren wir Christen ja wohl etwas anders, oder?"
Ich weiß, dass Maren auf meine Anspielung anspringt.
Sie ist es, die mich in den christlichen Glauben und die Gemeinde von Himmelstal hineingezogen hat. Sie ist jedenfalls mehr Experte als ich, der ich „von draußen" in die christliche Szene gekommen bin.
Sie lacht und streicht sich ihre braunen Locken aus dem Gesicht. „Na ja, so ganz anders ist es mit der christlichen Passion auch nicht gemeint. Gottes Leidenschaft für uns Menschen schafft ihm am Ende Leiden."
Leidenschaft schafft Leiden. Das Wortspiel habe ich bereits gehört. „Jesus leidet aus lauter Leidenschaft? Das klingt ein bisschen idealisiert und abgehoben", erwidere ich deshalb. „Unter Passionszeit habe ich bisher etwas anderes verstanden. Echtes Leiden, Sterben, Folter, Blut, Einsamkeit … Jesus hatte jedenfalls nichts zum Lachen wie die da auf dem Foto."
Maren nickt. „Das stimmt. Am Aschermittwoch ist es aber ja auch vorbei mit dem Spaß. Da beginnt die Fasten- und Passionszeit …"
Sie wird jäh unterbrochen. Ein gellender Alarmton baut sich auf und dringt schnell durch jede Ritze. Die Sirene steht auf dem Dach des Tagungshauses, etwa dreihundert Meter von Marens Haus entfernt. Wenn sie losgeht, fordert sie unbedingte Aufmerksamkeit. Wir sind irritiert.
„Es muss etwas passiert sein, lass uns nachsehen."
Ich stehe bereits an der Haustür. Maren folgt mir. Nur am Montag, Punkt zwölf, wird die Sirene getestet. Heute ist Dienstag. Zu sehen ist nichts.
„Wenn du nicht Journalist wärst, Jens, würde ich sagen, sei nicht so neugierig und sensationsgeil!"
„Danke. Aber ich bin nun mal Journalist." Ich grinse sie an. „Und neugierig und sensationsgeil ist eben meine Passion!"
Erste weniger laute Sirenen sind aus der Ferne zu hören.
„Sie rücken echt schnell aus! Bin gespannt zu hören, wer diesmal der Erste war."
Oft erreicht Theo Beyer, Leiter vom Tagungshaus, als erster das Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr. Die Geschichten haben sich herumgesprochen.
„Vielleicht kommt er wieder auf Socken!" Maren lacht.
Der laute Alarm endet so plötzlich wie er begonnen hat. Man hört andere, leisere Sirenen, sieht von hier aus allerdings nichts.
„Ich muss los!" rufe ich meiner Liebsten zu und hole Schuhe und Jacke aus dem Schrank.
Maren reicht mir meine Fototasche. „Dann mal viel Erfolg auf der Jagd nach Schlagzeilen …" Ihre Ironie ignoriere ich.
*
Es ist diesig. Man hat das Gefühl, es ist noch früher im Jahr. Schon seit Tagen zeigt sich die Sonne kaum. Es nieselt bei Temperaturen um acht bis vierzehn Grad. Ich nehme dennoch das Rad. Was immer passiert ist, es ist im Norden von Himmelstal geschehen. Vielleicht ein Brand im Schweinestall, oder ein Unfall auf der schmalen Straße ins Nachbardorf. Feuchte Luft kriecht in meine Kleidung. Hände und Ohren frieren. Ich hätte mich winterlicher kleiden sollen.
Als ich an der alten Wassermühle vorbei bin, sehe ich die ersten Blaulichter. Ein Rettungswagen vom Roten Kreuz biegt gerade ab. Ich folge ihm so schnell ich kann. Es geht bergauf, aber nur ein kleines Stück. Ein Polizeiwagen mit Blaulicht rast an mir vorbei. Ein Feuerwehrfahrzeug steht mitten auf dem Acker. Es scheint sich festgefahren zu haben. Aufgeregt laufen einige Gestalten in rot-gelber Uniform um das Fahrzeug herum. Rechts davon gibt es mitten auf dem riesigen braunen Acker ein kleines rundes Busch- und Waldstück. Gesehen habe ich es bei Spaziergängen oft, dort gewesen bin ich noch nie. Einen Weg dorthin scheint es nicht zu geben. Man muss querfeldein über den Acker stapfen. Ich schätze, das Waldstück hat einen Durchmesser von etwa ein- oder zweihundert Metern. Ich stelle mein Rad an eine Birke, schnappe mir die Fototasche, ignoriere die Fahrzeuge mit Blaulicht und stapfe über den Acker Richtung Waldstück. Ich schaffe es bis zum Rand. Dann hält mich ein Polizist zurück.
„Presse. Ich bin von der Presse."
Der junge Mann in Uniform schaut grimmig drein.
„Keine Presse. Niemand darf weiter. Lebensgefahr!"
Zwei weitere Polizeiwagen heulen heran und parken am Rand des Ackers. Unzählige Blaulichter wirbeln durch die feuchte Luft. Die Beamten sperren den Zugang zum Acker. Ich bin schon durch, gut so. Weiter voran allerdings komme ich nicht – und muss ich auch nicht unbedingt.
Ich zücke meine Canon. Einen Blitz brauche ich nicht. Von hier aus schaue ich zwischen Bäumen und Büschen hindurch in eine Senke oder sowas wie einen Krater. Unter mir kracht und funkt es. Einmal explodiert etwas. Fast denke ich an eine Handgranate – aber das kann ja wohl nicht sein. Vielleicht Feuerwerkskörper? Jedenfalls brennt der Busch und eine kleine Holzhütte steht in Flammen.
Ein Krankenwagen hat es bis zum Rand der Senke geschafft. Sanis springen heraus und klettern mit einer Trage und einer großen Erste-Hilfe-Tasche hinunter. Zwei, nein drei Jugendliche stehen etwas weiter von mir entfernt am Rand des Kraters und schauen wie ich hinunter. Ein Sanitäter kommt von unten herauf. Er stützt einen Jungen, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, und hilft ihm den Abhang hinauf. Das Gesicht des blonden Jungen ist blutverschmiert und schwarz von Ruß. Er muss inmitten des Infernos gewesen sein. Eine zweite Person wird auf der Trage hochgehievt. Auch dieser Junge, etwas älter, ist verletzt. Aber er winkt den Jugendlichen zu. Immerhin lebt er.
Ich fotografiere weiter.
Jetzt ist das Feuerwehrfahrzeug zwar noch nicht freigekommen, sie haben aber lange Schläuche ausgerollt. Ich erkenne unseren Brandmeister Enno, Theo und Gerd. Die Himmelstaler Feuerwehr war als Erste am Brandort. Nun stehen mindestens drei weitere an der Straße. Ein Trecker kommt von unten über den Acker gefahren. Sie scheinen aber darauf zu verzichten, das Löschfahrzeug weiter zum Brandherd zu ziehen. Dafür versucht ein robustes Feuerwehrauto, fast schon ein Oldtimer, den aufgeweichten Acker zu überqueren. Es hat Erfolg und erreicht tatsächlich den Rand der Senke.
Direkt neben mir wird es hektisch. Schläuche werden ausgerollt, Kommandos ertönen.
Der junge Polizist ermahnt mich. Ich soll nicht im Weg herumstehen, sondern zurück zur Straße gehen! Okay, ich ziehe mich zurück. Allerdings interessiert es mich, was die Jungen dort hinten am Kraterrand zu berichten haben. Mindestens zwei Jugendliche sind verletzt abtransportiert worden und einer kannte die jungen Leute dort drüben.
Als die drei bemerken, dass ich auf sie zukomme, befürchte ich einen Moment, sie laufen davon. Doch einer scheint mich zu kennen. Sie besprechen sich kurz und bleiben stehen. Nun erkenne ich unseren Nachbarsjungen.
„Dennis. Wie gut, dass du nicht auch verletzt bist!"
Er senkt den Kopf. Soweit ich weiß ist Dennis vierzehn Jahre alt. Jetzt trägt er nicht die Fußballklamotten oder Jeans mit T-Shirt, in denen ich ihn sonst gesehen habe, sondern so etwas wie Tarnkleidung. Auch die beiden anderen haben olivgrüne und gefleckte Klamotten an. Ich vermute allerdings, es sind keine Original- sondern improvisierte Tarnuniformen. Mir schwant nichts Gutes.
Ich nicke in Richtung Polizeiwagen an der Straße.
„Haben die euch schon befragt?"
Sie schütteln mit dem Kopf. Ich wundere mich, dass sie nicht einfach abgehauen sind und sage das.
„Wir wollten unsere Kumpels nicht im Stich lassen!" erklärt Dennis mit leiser Stimme.
Ich frage, wer die beiden Verletzten sind. Dennis nennt mir ihre Namen.
„Und was ist passiert?"
Die Jungen schauen sich gegenseitig an.
„Es kommt sowieso raus!" meint Dennis. Die anderen nicken. „Und wenn es in die Zeitung kommt, sollen die Leute wenigstens unsere Version lesen!" Wieder nicken die zwei jüngeren. Dennis wird von ihnen offenbar als Wortführer anerkannt.
„Ja, dann erzählt mal."
Ich zücke mein Handy und drücke auf Aufnahme. Die Jungen scheint das nicht zu stören und Dennis erzählt mir, was passiert ist. Als ich das Gerät ausschalte, ist mein journalistischer Einstieg nach 14 Tagen Corona-Quarantäne gesichert.
Ich verzichte darauf, die Jungen zu fotografieren – das datenschutzrechtliche Theater mit den Eltern erspare ich mir. Ein alter Hase wie ich hat keine Lust mehr, sich durch Nebelkerzen ausbremsen zu lassen.
Etwa zwei Stunden später hole ich mir noch ein paar Fakten und Zahlen zum Feuerwehreinsatz von Enno Diekmann, unserem Brandmeister. Dann schicke ich mein Material an die Redaktion.
Mittwoch, 2. März
„Nehmt euch ein Beispiel an Jens! Kaum gesund, liefert er eine Bomben-Story!"
Florian reibt sich die fleischigen Hände und grinst über das breite Gesicht. Die anderen am Tisch der Redaktionskonferenz, einschließlich mir selbst, wirken nicht besonders fröhlich.
Steini trägt heute ein T-Shirt mit „99Jahre und stilisierter Prinzenmütze, vermutlich ein Symbol des Braunschweiger Karnevalvereins, den er besonders gut findet. Er murmelt etwas vor sich hin. „Der hat die Bomben doch selbst gezündet
. Ich sitze direkt neben ihm, kann mich aber auch irren. Obwohl es zu Steini passt. Er ist permanent neidisch auf die Erfolge anderer.
Laut sagt er: „Jahnke war ja auch ausgeruht. Wir dagegen mussten seine Arbeit wochenlang mitmachen."
Niemand geht auf die Bemerkung unseres Sportreporters ein. Man weiß: Typisch Steini. Der Endvierziger drückt sich gerne vor allzu viel Arbeit und treibt sich am liebsten auf Sportplätzen, in Vereinsheimen und auf feucht-fröhlichen Siegesfeiern herum. Und er klopft gerne Sprüche, besonders hohle.
Unser Chef Florian Heitmann merkt nun wohl doch, dass sein vermeintliches Kompliment eher kritisch aufgenommen wurde. Schnell schiebt er ein weiteres nach, vermutlich um die Stimmung zu verbessern.
„Elske, das soll nicht heißen, deine Karneval-Recherche war schlecht. Nein, im Gegenteil! Du hast einen richtig guten Artikel abgeliefert. Aber diese Story mit dem Granatenkrater ist nun mal doch was anderes."
Elske ist meine Lieblingskollegin, eine kluge, hübsche und wortgewandte Ostfriesin. Sie ist mit neunundzwanzig die Jüngste in der Runde. Eigentlich ist sie die Öffentlichkeitsbeauftragte der Redaktion, in Notzeiten jedoch arbeitet sie auch als Journalistin – und Notzeiten sind während der nun bereits zwei Jahre anhaltenden Pandemie nicht Ausnahme- sondern Normalzustand.
Jetzt reagiert Elske auf ihre typisch hintergründige Art.
„Danke, Chef. Aber du weißt hoffentlich, dass wir alle uns für diese wunderbare Tageszeitung und unseren noch großartigeren Chef immer und leidenschaftlich ins Zeug legen!"
Florian merkt nichts von ihrer Ironie. Er nickt.
„Danke Elske, natürlich weiß ich das."
Ich nehme Elskes Bemerkung als Vorlage, da ich mich beim Stichwort „leidenschaftlich" an das gestrige Gespräch mit Maren erinnere. Wir wurden ja durch die Sirene unterbrochen, das Thema finde ich aber bemerkenswert.
„Chef, ist ja klar, dass ich an der Bombenstory dranbleibe! Da steckt vielleicht sogar mehr dahinter als Kinder, die mit dem Feuer spielen. Aber da ist noch was, etwas hoch Aktuelles jetzt nach dem Karneval. In gewisser Weise hat es auch mit dem durch Bomben verursachten Leid zu tun …".
Elske scheint meine Gedanken zu lesen. Sie weiß, dass ich gerne auch christliche Themen in unser Blatt bringe, seit ich mich mit dem Glauben beschäftige. Nun fällt sie mir völlig überraschend ins Wort.
„… ja Chef, als Theologe ist dir ja klar, dass heute Aschermittwoch ist, oder? Und Steini ist aktives Mitglied im Karnevalsverein. Der weiß sicher auch, was Aschermittwoch bedeutet."
Steinis Gesichtsausdruck widerlegt diese Annahme.
Unser Chef nickt. Hätte ihn jemand anders als Elske auf seine Vergangenheit hin angesprochen, hätte er jetzt abgeblockt.
Florian Heitmann hat einmal ein paar Semester Theologie studiert. Zu vorgerückter Stunde während einer Betriebsfeier mit ausgesprochen viel Alkohol ist dies einst herausgekommen. Bis heute weiß niemand, warum er sein Studium abgebrochen und statt Pastor dann Journalist geworden ist. Irgendetwas muss passiert sein. Heute jedenfalls ist Florian Heitmann fast zwanghaft ablehnend, wenn es um Kirche und Themen des Glaubens geht. Oder anders ausgedrückt: Er präsentiert sich als leidenschaftlicher Atheist.
Nun verstehe ich, warum Elske mich unterbrochen hat. Sie will mich unterstützen und weiß, dass Florian ihr so gut wie nichts ausschlägt, selbst religiöse Themen nicht.
Unser Chef tappt ihr in die Falle.
„Klar weiß ich das, Elske. Dazu muss man nicht Theologie studieren. Das weiß jeder Jeck!" Er schaut Steini an und grinst wissend. „Der Aschermittwoch ist der Beginn der Fastenzeit. Da ist Schluss mit lustig. Und wenn du es auch aus meinem Mund noch auf christlich hören willst: Die Kirchen bezeichnen die kommenden 40 Tage bis zum Karfreitag als Passionszeit."
Ich juble innerlich. Meine clevere Kollegin erspart mir ätzende Diskussionen und mühsame Überzeugungsarbeit. Ich überlasse die Sache nun lieber gänzlich ihr.
„Genau, Chef. Das ist eine wichtige Zeit für viele unser Leser und Leserinnen. Du weißt ja, Fasten, Abnehmen, weniger Müll und Konsum, Verzicht wegen Klimaschutz, Konzentration auf das Wesentliche … das interessiert einen Großteil unserer Leserschaft. Was wir Christen Fasten nennen, ist heute ein hoch aktuelles Thema. Und Passion allemal. Leiden, Schmerz und Sterben sind doch an der Tagesordnung. Also Jens hat recht! Das müssen wir in der Passionszeit unbedingt thematisieren."
Sie ist großartig. Dabei habe ich noch kein Wort dazu gesagt. Aber ihr sprühendes Statement verfehlt nicht seine Wirkung. Florian tippt auf seinem iPad herum. Es wirkt, als versuche ein Gorilla zu telefonieren. Geöffnet ist der Monatsplan, das habe ich vorhin gesehen. Dann hebt er den Blick, schaut zunächst Elske an und dann mich.
„Okay. In der K-Woche vor Ostern machen wir eine dreiteilige Serie. Aber ich bin nicht senil, Kollegen. Ihr macht zusammen was über die Fasten- und die Passionszeit. Aber ihr sucht unbedingt den weltlichen Bezug. Wir sind keine Kirchenzeitung und machen keine Propaganda für die christliche Ideologie! Ist das klar?"
Ich nicke. „Chef, dass ich das hinkriege, habe ich doch wohl in der Vergangenheit bewiesen – oder?"
Die Kuh ist vom Eis.
Auch die drei Lokalredakteure am Tisch, unser Rechtsberater Dr. Mayer und der Chef der Druckerei nicken. Selbst Steini schluckt eine Bemerkung runter, die ihm wohl schon auf der Zunge lag.
Die Redaktionssitzung ist noch vor elf Uhr zu Ende. Florian lockert seine Krawatte und verschwindet hinter der Tür seines Chefbüros, wir anderen setzen uns an unsere Arbeitsplätze im Großraumbüro. Wäre heute nicht die wöchentliche Besprechung gewesen, zu der Florian uns alle verpflichtet hat, ständen unsere Schreibtische unbesetzt im Raum. Außer dem Chef, der täglich kommt und mit der Zeitung gewissermaßen verheiratet ist, arbeiten wir anderen in diesen Corona-Zeiten entweder „an der Front", wie sich Florian ausdrückt, oder im Homeoffice.
„Danke!" Ich nicke Elske zu. Unsere Schreibtische stehen einander gegenüber. Sie schenkt mir ihr strahlendes Lachen und tippt mit einem Bleistift auf den Block vor sich.
„Gern geschehen. Ich weiß doch, worüber unser Starreporter gerne berichtet! Und ich weiß auch, dass er mit seinem Chef nicht besonders diplomatisch umgeht."
„Vermutlich hast du recht. Aber es ist schon ein bisschen unheimlich, wie du meine Gedanken liest."
Sie wickelt sich den Bleistift um eine ihrer blonden Locken und mimt die Geheimnisvolle.
„Jens Jahnke, merke dir: Du bist für mich ein offenes Buch."
„Dann weißt du ja auch, was ich vorhabe."
Elske überlegt einen Moment und starrt mir mit ihren hellblauen Augen direkt in meine.
Dann antwortet sie: „Du willst die Bomben und das damit verbundene Leid mit dem Thema Passion verbinden. Du willst aufzeigen, wie das Leid der Welt und die Leiden Christi sich zueinander verhalten. Du willst unseren Leserinnen und Lesern einen Blick in menschliche Abgründe zumuten, sie dann aber auch trösten und ihnen Perspektiven aufzeigen."
Nun grinst sie, weist mit dem Bleistift in