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Liebe Sünde
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eBook473 Seiten6 Stunden

Liebe Sünde

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Über dieses E-Book

Vincent ist ein erfolgreicher Sternekoch. Zusammen mit seiner Tochter Joséphine und der achtjährigen Enkelin Marie führt er ein erfülltes Leben. Dieses Familienglück droht Rolf, ein Mitstreiter aus früheren Tagen, zu zerstören. Er will Vincents kriminelle Vergangenheit als Kunstdieb aufdecken, falls dieser nicht für ihn drei der bedeutendsten Bilder aus der Londoner National Gallery stiehlt. Erst als Rolf Marie entführen lässt, wird für Vincent die wahre Bedrohung sichtbar. Mit seinen in die Jahre gekommenen Gefährten plant er den Diebes-Coup des Jahrhunderts. Inmitten rationaler Planungen und der ständigen Angst um Marie entwickelt sich ein nervenaufzehrender Kampf. Die Situation eskaliert zusehends, als die Polizei im Entführungsfall ermittelt und klar wird, dass auch die chinesische Mafia im Hintergrund die Fäden zieht. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Okt. 2018
ISBN9783743946156
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    Buchvorschau

    Liebe Sünde - Martin Luther Fuller

    Von Sünde und Seelenheil

    Der nasskalte Wind blies ihm ins Gesicht und massierte seine kalten Wangen. Heute Morgen fühlte sich sein Körper besonders bleiern an. Völlig übermüdet und leicht fröstelnd joggte Vincent am Ufer des Rheins entlang. Jeder Schritt kostete ihn eine existenzielle Überwindung. Schwerfällig platzierte er ein Bein vor das andere auf dem feuchten Asphalt. Nur mühsam spulte er seine für ihn sonst so leichte Trainingsstrecke ab. Das normalerweise so wohlige Körpergefühl wollte sich heute ebenfalls nicht einstellen. Gerne hätte er sich wieder ins behagliche Bett verzogen. Alleine die Vorstellung, sich bis zur Nasenspitze im warmen Federbett verkriechen zu können, löste in ihm eine mittelschwere Sinnkrise aus. Was machte er hier eigentlich? War das wirklich noch gesund? Wie konnte er nur mentale Anspannung durch körperlichen Stress ersetzen? Mit seinen dreiundsechzig Jahren überschätzte er sich möglicherweise grundlegend, ganz zu schweigen von seinem besserwisserischen Hausarzt. Dieser Dr. Walther sollte erst mal wie er zehn bis sechzehn Stunden in der Küche stehen, dann würde er sich bestimmt kein solches Fitnessprogramm verordnen. Wahrscheinlich brach der liebe Herr Doktor bereits nach seinem achtstündigen Praxisalltag entnervt zusammen. — Aber was jammerte er wieder mimosenhaft vor sich her. Oft, wenn er sein Laufziel trotz heftigster mentaler Gegenwehr erreicht hatte, fühlte er sich anschließend wohltuend frisch. Heute war aber eindeutig nicht ›oft‹. Selbst der arme Rhein lag bleiern in seinem Flussbett. Graublau schoben sich die dunklen Wassermassen schweigsam flussabwärts. Nebelschwaden waberten schwermütig über den Fluss. Nur mühsam ließ sich der Rhein von dem gespenstig anmutenden Dunstschleier unterscheiden, zu ähnlich waren ihre Farben. Die Kopfweiden, die hier am Niederrhein bei Kaiserswerth vereinzelt auf den weitläufigen Wiesen standen, hatte der Nebel zum größten Teil verschluckt. Dort, wo sie sich schemenhaft als dunkle, meterhohe Schatten absetzten, glaubte er schwerfällige Riesen aus dem Moor auf sich zuwanken zu sehen. Die Szenerie erinnerte ihn stark an den Gran Signore des meisterhaften Thrillers Alfred Hitchcock und löste in ihm etwas Melancholisches bis Klaustrophobisches aus. Die bedrückende Stimmung rief in seinem Gedächtnis seine Mutter wach. Als kleiner Junge, es musste in den späten Fünfzigern gewesen sein, hatte er oft seine Mama in der Waschküche mit der dampfenden Wäsche kämpfen gesehen. Blaugraue Nebelschwaden hatten ihr vor Anstrengung hochrotes, verschwitztes Gesicht umrahmt, während vereinzelte Haarsträhnen wirsch unter dem bunten Kopftuch hervorlugten. Ungläubig hatte er das Wasser beobachtet, das in einem großen hölzernen Wasserbottich gespenstisch vor sich hin brodelte. Mit einem breiten Holzlöffel hatte seine Mutter die Wäsche in dem Zuber hin und her gerührt. Ihn hatte dann eine nicht enden wollende Angst befallen. Dieser schäumende Waschbottich verkörperte für ihn, den kleinen Vincent von acht Jahren, die Inkarnation der Hölle. In diesem gurgelnden Blubbern, da war er sich sicher, hörte er die Schreie und das Wehklagen der zur Verdammnis Verurteilten. Er glaubte, ihre Hände zu erkennen, die sich verzweifelt aus der heißen Lauge gegen den rettenden Himmel streckten. Für die armen Teufel gab es in seiner Erinnerung kein Entrinnen. Wenn seine Mutter ihn dann auch noch fragte, ob er seine Schularbeiten erledigt hatte, waren seine Knie so weich wie warme Butter. Unter diesem Gefühlschaos gestand er ihr einfach alles.

    Der Geruch von Seifenlauge und süßlichem Schweiß stieg ihm ekelerregend in seine feine Nase. Er zuckte für einen Moment zusammen. Roch der Rhein hier nach Lauge und menschlicher Transpiration? Oder war er in Gedanken so tief in seine Historie eingetaucht, dass seine Nervenzellen die Geruchsmelange der Waschküche von damals, jetzt in ihm hervorrief? Ein Schauer des Entsetzens fuhr durch seinen immer noch unterkühlten Körper. Meldete sich seine Kindheit unaufgefordert zu Wort?

    Er erreichte den Düsseldorfer Stadtteil Wittlaer. Eine alte Eiche markierte für ihn den Wendepunkt seines allmorgendlichen Martyriums. Jetzt führte ihn sein Weg über die Uferpromenade direkt zurück zur heimatlichen Espressomaschine und der wohlverdienten heißen Dusche. Die Vorstellung von cremigem Kaffee verdrängte seine apokalyptischen, vorpubertären Kindheitsfantasien des Infernalen.

    Kaffee war ein gutes Stichwort. Er musste unbedingt Bohnen bestellen. Der Vorrat würde maximal bis Ende der Woche reichen. Gestern war ein guter Abend gewesen. Das Restaurant war komplett belegt, für einen Sonntagabend ein hervorragendes Ergebnis. Gerade die Sonntagabende konnten so unterschiedlich sein. Manchmal waren sie bereits Monate zuvor ausgebucht, dann wieder mussten sie sich mit zwölf Buchungen zufriedengeben. Er hatte versucht, das Geheimnis des wechselhaften Sonntags zu ergründen, leider ohne nennenswerten Erfolg. Das Fernsehprogramm oder andere Veranstaltungen konnten nicht als Ursache herhalten. Wer in seinem Sternerestaurant speisen wollte, buchte bereits Wochen vorher seinen Tisch. Laufkundschaft kannte er nicht. Es mussten schon wirklich gute Stammgäste sein, denen er kurzfristig noch einen Platz einräumte, sofern seine Mannschaft nicht am Rande ihrer Küchenkapazität war. Glutrot durchbrach die Sonne jetzt den graublauen Schleier und zauberte eine gleißend-rote Reflexion auf den Flusslauf. Die Szene erinnerte ihn spontan an das Bild ›Sonnenaufgang‹ von Claude Monet. Dort brach sich ebenfalls das Sonnenlicht auf den Wellen des Hafens von Le Havre und drei schemenhaft angedeutete Fischerboote kreuzten vor der Hafenkulisse die Fahrrinne. Für ihn war diese Farbstimmung einmalig. Immer, wenn er das Bild des Impressionisten betrachtete, ergriff ihn das Atmosphärische des Lichts. Die glutrote Sonne bohrte sich dann wohltuend in sein Seeleninnerstes. Sein Körper begann völlig unvermittelt, freudig erregt zu beben. Jedes Mal fühlte er, wie sein Herzschlag zu rasen begann. Seine Handflächen wurden feucht und sein Mund glich der Sahara in der Trockenzeit. Dann zog ihn das Gemälde wie ein Wasserstrudel in sich hinein. Für einen Moment schien es, als würde er ohnmächtig, um kurz darauf eins mit den Fischern auf dem Boot zu werden. Er erinnerte sich noch ganz genau an den Augenblick, als er dieses Werk zum ersten Mal betrachtet hatte. Es war während der großen Kunstausstellung 1972 in Basel. Mit seinen achtzehn Jahren wusste er schon damals, dass er zu so einem begnadeten Maler nie taugen würde, aber mit Kunst wollte er auf jeden Fall zu tun haben. Ganz schön arrogant von mir, dachte er. Vincent schmunzelte, während er die vierunddreißig Stufen hinaufsprintete. Er, der aus kleinen Arbeiterverhältnissen des Saarlandes stammte, war mit dieser Fiktion ein echter Exot in seinem sozialen Umfeld gewesen. Stahl und Bergbau war der Stoff, aus dem die Träume seiner Kameraden waren. Schöngeistige Themen rückten ihn in die Nähe von Schwulen und Taugenichtsen. Was für eine verklemmte Zeit. — Nach der Realschule absolvierte er auf Druck seines Vaters eine Lehre als Elektroniker bei der Völklinger Hütte. Das waren die drei schlimmsten Jahre seines Lebens. Der alte Herr erinnerte ihn bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit daran, dass er den Ausbildungsplatz nur dank seiner guten Beziehungen zur Personalabteilung bekommen hatte. Mit beschwörenden Worten ermahnte er ihn immer wieder, sein Bestes zu geben. Interessiert hatte ihn der Beruf nicht wirklich. Zwar gab er, wie gewünscht, sein Bestes, aber sein eigentliches Interesse galt ungebrochen der Kunst. Jede freie Minute studierte er in den Katalogen der großen Museen und Galerien. Schnell erreichte er einen Wissensstand, der es ihm erlaubte, mit Fachleuten zu debattieren, ohne sich die Blöße eines Unwissenden oder eines Nichtakademikers zu geben. Was ihm auf dem Gebiet der Kunst nur so über Nacht zuflog, erwies sich in seiner Lehre als Schwerstarbeit. Wen interessierten schon die trockenen ohmschen Gesetze, wenn auf der anderen Seite die Expressionisten mit ihren leuchtenden Farben bereits sehnsüchtig warteten. Daher war es auch nicht verwunderlich, dass er nach seiner Ausbildung das Saarland verließ, um nach Frankreich, in das Land der Kunst und Künstler zu flüchten. Weg von den Eltern, fort von dem Mief des Provinziellen. Dort lernte er bei einer Vernissage den erfolgreichen Starkoch Paul Bocuse kennen. An das Gespräch dachte er oft und gerne zurück. Bocuse war es, der ihm seine jugendlichen Augen öffnete. Er begriff, wie viel Kochen mit Kunst gemein hatte. Als Schöpfer am Herd kam es auf die richtigen Zutaten an. Die tägliche Suche nach der ultimativen, wahren Geschmackskomposition als elementares Lebensgefühl von Glück; das Arrangement von Farben und Formen auf dem Teller als Vollendung eines künstlerischen Ausdrucks, ja, das begeisterte ihn sofort. Er wusste, dass als Nichtakademiker ihn die Welt der Kunstsachverständigen nie akzeptieren würde. Aber als Koch könnte er seine künstlerische Profession ungehindert ausleben. Im Gegensatz zu vielen anderen liebte er seine Lehrzeit bei Paul Bocuse. Bis zum heutigen Tage verband ihn eine enge Freundschaft mit seinem einstigen Lehrherrn und geistigen Förderer.

    Er bog von der Uferpromenade in Richtung Innenstadt ab. Aus der Auslage eines Dekorationsgeschäftes sprang ihm ein Holzschild mit der Abbildung eines Aals entgegen. Aal!? Interessant dachte Vincent. Jetzt, wo der Spätsommer sich dem Ende neigte, setzte er in der Küche wieder Produkte mit markanteren und erdigen Aromen ein. Da würde Aal als Amuse-Gueule ganz gut passen. Bei dem Gedanken an den schlangenartigen Wanderfisch entfaltete sich in seinem Mund spontan der Geschmack von frisch geräuchertem Aal. Eine rauchig-nussige Note umschmeichelte seinen Gaumen. Dazu passten bestimmt gut Berglinsen mit einer Vinaigrette aus Olivenöl, seinem Cranberry-Chutney, Senf und ein wenig Waldhonig. Kräuter, es fehlten Kräuter. Es mussten unbedingt Kräuter her. Ein Hauch von frischem Thymian. Ja, das Rauchige harmonierte bestimmt gut zu dem süßen Honig in Kombination mit der fruchtigen Säure der Cranberrys und dem Thymian, der nach würzig duftendem, süßlichen Nadelboden roch.

    Zufrieden mit der ersten Überlegung führte ihn sein Weg in eine enge Gasse, die an der St. Suitbertus Basilika endete. Hier legte er einen scharfen Zwischenspurt ein. Der enge Weg schütze ihn vor den neugierigen Blicken der Anwohner. Das war auch gut so. Es wäre ihm nämlich unendlich peinlich, wenn die Nachbarn sähen, wie er sich mit letzter Kraft durch die historische Altstadt von Kaiserswerth schleppte. Er keuchte, blieb stehen und stützte sich mit den Händen in den Hüften ab. Während er sich nach vorne beugte und verzweifelt nach Luft rang, musste er sich eingestehen, dass sein Körper vor Anstrengung zwar zitterte, wie das sagenumwobene Espenlaub, aber durch all seine Gliedmaßen strömte die lang ersehnte, angenehme Wärme, die ihn so glücklich machte wie einen Junkie nach seinem Schuss.

    »Patron, Sie werden mir hier doch nicht entschwinden!?«

    Vincent drehte sich um. Monsignore Schürmann, der am Tor des Pfarrgartens stand, hatte wohl das chaplineske Schauspiel betrachtet und konnte sich eines spitzen Kommentars nicht enthalten. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Vincent, ob er den Fehdehandschuh aufnehmen sollte. Mit dem Pfarrer verband ihn ein freundschaftliches, wenngleich intellektuelles Verhältnis, das in einer allmonatlichen Schachpartie kulminierte. Es wäre zu plump gewesen, auf seine Leibesfülle und die damit verbundene Unsportlichkeit zu verweisen. Allerdings konnte und wollte er die Bemerkung seines Freundes nicht völlig unkommentiert lassen; das war er Schürmann, aber vor allem sich selbst, schuldig. Daher lachte er verschmitzt und erwiderte gelassen: »Monsignore, sehen Ihre Bilanzen so schlecht aus, dass Sie auf eine stattliche Beerdigung spekulieren?«

    Der Geistliche zuckte überrascht zusammen. Seine Augen blitzten ihm kampfeslustig entgegen.

    »Mein teurer Freund, wie könnte ich mit Ihrem Tod rechnen? Lebend sind Sie mir eindeutig wertvoller. Wen sollte ich im Räuberschach schlagen?«

    »Ja, so ist der Klerus. Sie lassen das arme Volk so lange zur Ader, bis der letzte Stein genommen ist.«

    »Spaß beiseite. Wie geht es Ihnen heute Morgen Patron Vincent Lambert?«

    »Ach, Monsignore Gottfried Schürmann, was soll ich sagen? Es ist kalt, ich friere, die Müdigkeit hat mich fest im Griff, aber sonst geht es mir blendend bis bescheiden.«

    »Bescheiden! Das klingt schwer nach Selbsterkenntnis. Ich sehe, Sie sind auf dem Pfad der Läuterung. Das hört sich für mich sehr hoffnungsvoll an.«

    »Ich bin durchgeschwitzt. Bevor meine gerettete Seele doch noch auf Ihrem Friedhof landet, muss ich schnell unter die warme Dusche. Wir sollten auf jeden Fall vermeiden, dass Sie gegen sich selbst im Schach antreten müssen. Denken Sie nur an die vielen Niederlagen, die Ihnen dann blühen. Das kann ich Ihnen nicht zumuten. Herr Pfarrer, Ihnen noch einen schönen Tag. Man sieht sich.«

    Vincent erhob seine Hand zum Gruß und setzte seinen Lauf fort. Die Beziehung zum Monsignore ließ sich durchaus als außergewöhnlich charakterisieren. Jetzt kannte er Schürmann schon fünfzehn Jahre und sie siezten sich immer noch. Er, als überzeugter Atheist, liebte die kleinen Scharmützel mit dem Pfarrer. Sie ließen keine Gelegenheit aus, um sich intellektuell zu messen. Die Nennung des gesamten Namens zeugte von großem Respekt voreinander, ungeachtet der Tatsache, dass in der artifiziellen Anrede eine gehörige Portion Veralberung mitschwang. Als er vor Jahren sein Restaurant im Schatten der Basilika eröffnet hatte, hatte er lange nach einem passenden Namen für seinen Gourmettempel gesucht. Damals war ihm unvermittelt der Monsignore über den Weg gelaufen und hatte sich sehr interessiert nach dem Fortschritt der Umbauarbeiten erkundigt. Da hatte er bereits die angenehme und so erfrischende Rivalität gespürt. In diesem Augenblick war ihm klar geworden, dass Schürmann für sein weiteres Leben eine nicht unbedeutende Rolle spielen würde, daher musste die Namensgebung unbedingt Bezug auf die nahe gelegene Kirche nehmen. Da der Monsignore die Personifizierung von Seelenheil und Absolution darstellte, suchte er nach einem geeigneten Pendant. Mit dem Namen ›Liebe Sünde‹ schuf er genau die Provokation, die die sonderbare, wenn auch herzliche Freundschaft zu Schürmann bis heute charakterisierte.

    Er erreichte das barocke Kaufmannshaus, das im Parterre das Sternerestaurant und die Küche beherbergte. Im ersten Stock lag seine Privatwohnung mit dem Blick auf den Rhein und das historische Gemäuer der Kaiserpfalz. Zum Garten hin hatten die Erbauer seines Hauses einen zweistöckigen Anbau errichtet. Dort lebte seine Tochter Joséphine mit ihrer achtjährigen Marie. Über den Zugang des urwüchsigen Gartens erreichte er nicht nur die Räumlichkeiten seiner Tochter, sondern gelangte über eine steile Treppe auch in seine Wohnung. Er klopfte seine Laufschuhe auf dem Gitterrost aus. Schwungvoll öffnete er die schwere, grüne Eichentüre, die ihn in den weiß gekälkten Flur und von dort direkt in Joséphines Küche mit dem von ihm gesponserten Kaffeeautomaten führte.

    »Guten Morgen allerseits!«

    »Morgen Opa.«

    »Marie, was machst du denn hier? Solltest du nicht längst in der Schule sein? Komm her, lass dich küssen.«

    Er beugte sich herunter und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. Er liebte seine Enkelin über alles. Sie war ein kleines, aufgewecktes Ding, sein persönlicher Sonnenschein. Für ihre acht Jahre wirkte sie äußerst selbstständig. Marie sah seiner Tochter Joséphine erschreckend ähnlich. Er bereute zutiefst, dass er in jungen Jahren seine Prioritäten beruflich gesetzt hatte. Von der Kindheit seiner direkten Nachkommenschaft hatte er daher nur wenig mitbekommen. Das sollte jetzt mit Marie unbedingt anders werden. Ihm war vollkommen bewusst, dass er die Vergangenheit nicht zurückdrehen konnte, aber sie gab ihm die Illusion, auf eine unschuldige Art gebraucht zu werden. Liebevoll strich er seiner Enkelin durch die schulterlangen, blonden, engelsgleichen Haare.

    »Vincent, wann lernst du es denn endlich? Heute ist Montag, da beginnt die Schule deiner Enkelin erst zur zweiten Stunde.«

    Es war seine Tochter Joséphine, die ihn aus der Küche heraus belehrte. Er nickte, stellte eine Espressotasse unter den Auslauf des Kaffeeautomaten und drückte eine silberne Taste. Unter leichtem Getöse zerkleinerte das Mahlwerk die Bohnen. Ein leises Brummen verriet den Brühvorgang. Vincent betrachtete, wie sich ein goldbrauner Strahl kunstvoll in die Tasse ergoss. Der Vorgang hatte etwas Meditatives. Auf die Crema ließ er behutsam zwei gehäufte Löffel Zucker gleiten. Die weiße Pracht versank langsam im Kaffeeschaum wie Atlantis im Meer. Köstliche Röstaromen verströmten zudem ihren frischen Duft nach Malz, Karamell und Rauch in der wohnlichen Küche. Sie weckten in ihm den Wunsch, an der Tasse zu nippen. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seine Enkelin, die ihren bunten, übergroßen Schulranzen auf den Rücken wuchtete. Mitleidsvoll fragte er: »Engelchen, soll ich dich zur Schule bringen? Du brichst mir unter der schweren Last noch zusammen. Brauchst du denn wirklich all die Dinge in deinem Tornister?«

    »Mensch Vater, verhätschle meine Tochter nicht so. Marie ist nicht aus Zucker. Bei mir hast du auch nicht so eine Welle gemacht, wenn Du überhaupt je da gewesen wärst. — Geh lieber duschen, sonst erkältest du dich noch.«

    Vincent verzog sein Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Im Rausgehen drehte er sich noch einmal zu seiner Enkelin um.

    »Engelchen, viel Spaß in der Schule. Ich hab’ dich lieb.«

    Die warme Regendusche hüllte seinen wieder leicht fröstelnden Körper in einen Schauer von sanften Tropfen ein. Während der Brauseregen seine Haut auf erfrischende und zugleich entspannende Weise sprudelnd massierte, dachte er über die letzten Worte seiner Tochter nach. Machte er wirklich zu viel Aufheben um Marie? Hatte er als Großvater nicht das ultimative Recht auf ›verwöhnen dürfen‹? War Joséphine vielleicht eifersüchtig auf seine großväterliche Zuwendung? Sie hätte allen Grund gehabt. In jungen Jahren war er als Vater eine ausgesprochene Niete gewesen. Doch in den letzten fünf Jahren hatte er sich um sie und Marie ernsthaft bemüht, was seine Tochter bemerkt haben sollte. Nach dem tödlichen Autounfall von Rolf hatte er keinen Augenblick gezögert, die beiden bei sich aufzunehmen. Als junge Witwe mit einem Kleinkind und ohne Arbeit hatte sie mächtig in der Klemme gesteckt. Ein Lächeln huschte über sein nachdenkliches Gesicht. Dafür, dass seine Tochter nichts von der Gastronomie und schon gar nichts von der Sterneküche verstanden hatte, schlug sie sich heute exzellent im Service. Erst letztes Jahr hatte sie ihr Ehrgeiz auf die Position der Restaurant-Managerin gebracht. Ihre freundliche und unkomplizierte Art schätzten die Gäste sehr. Bei aller Hektik hinter den Kulissen behielt sie immer einen kühlen Kopf. Was ihn aber am meisten faszinierte, das war ihr untrügliches Gedächtnis. Nichts, aber auch rein gar nichts, entging ihrer Wahrnehmung. In diesem Punkt glichen sich ihre Charaktere auf wundersame Weise. Er wischte sich Shampoo aus den Augen. Inzwischen war seine begehbare Dusche mit den weiß mattierten Fliesen zu einer epochalen Dampfsauna mutiert. Er griff nach einem flauschigen Frotteehandtuch und rubbelte sich energisch ab. Sein warmer Körper glühte jetzt. ›Für so ein Gefühl lohnt es doch sich zu schinden, oder?‹, dachte er. Bei dem Gedanken überkam ihn das Gefühl, als schössen Tausende Glückshormone in seinen Organismus und wirbelten unkontrolliert umher. Beschwingt wischte er mit dem Handtuch den beschlagenen Spiegel frei. Zum Vorschein kamen grau melierte Haare und ein sportlicher Mann mit dunklem Teint. Er betrachtete sein Spiegelbild aufmerksam. Für sein Alter sah er noch äußerst attraktiv aus. Er fand, dass sein straffer Körper durchaus etwas Clooneyoides hatte. Die Frauen machten ihm jedenfalls reichlich Avancen. Das schmeichelte ihm, dem einsamen Wolf, sehr. — Aber vielleicht bewunderte das weibliche Geschlecht auch nur seinen starken Willen oder den Erfolg als Sternekoch. Bei Bedarf verwandelte sich sein schelmenhafter Dackelblick schnell in einen Gesichtsausdruck größter Entschlossenheit. Genau dieser Wille, siegen zu wollen, Erster zu sein, und das um jeden Preis, zeichnet auch Joséphine aus. Das musste in den Genen liegen. Über die mangelnde Erziehung väterlicherseits konnte sie die Eigenschaften wohl kaum erworben haben. Ihre Mutter, seine verstorbene Frau Clara, tickte da völlig anders. Sie war …, er hielt inne. Sie war so sanft und liebevoll. Ja, das traf es präzise. Clara war voll von Liebe, wiederholte er andächtig. Während er die Worte leise, ja zärtlich flüsterte, blickte ihn nebulös aus dem beschlagenen Spiegel seine verstorbene Frau an. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. Für jeden und alles hatte sie permanent großes Verständnis gezeigt. Am meisten Nachsicht hatte sie mit ihm und seinen jugendlichen, dummen Eskapaden gehabt. Vincent standen die Tränen in den Augen. Er hätte die restliche Zeit mit ihr besser nutzen sollen. Was war er doch für ein erbärmlicher Feigling. Stattdessen hatte er nach Gelegenheiten gesucht, um auswärts Jobs zu erledigen. Er hatte Angst gehabt vor dem verfluchten Krebs und dem unbarmherzigen Gesicht der elenden Pein. Er hatte sie nicht leiden sehen können, vielleicht wollte er es auch nicht. ›Verdammt, ich habe es mir zu einfach gemacht! Ich habe dich in deiner größten Not im Stich gelassen, Clara. Das tut mir so unendlich leid.‹ Ihr Spiegelbild zeigte wieder Verständnis. Erst jetzt merkte er, wie verkrampft er das Frottiertuch in seinen Händen zerquetschte. Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort. Dann zog er akkurat seinen Seitenscheitel. Nackt verließ er das Bad und schritt durch den kleinen Flur in sein gewaltiges Wohnzimmer. Seine depressive Stimmung verlangte nach schwerer, gewaltiger Musik. Vincent startete seine Stereoanlage, wodurch der Raum in eine mittelgroße Konzerthalle verwandelt wurde. Luciano Pavarotti schmetterte sein unvergessliches Nessun Dorma. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Aufführung im Central Park 1993. Er zählte zu den drei Köchen, die für den Startenor mit Gefolge köcheln durften. Es war ihm schon ein wenig peinlich, für den großen Maestro Tagliatelle al ragù kochen zu müssen. Zu gern hätte er sich gewünscht, Pavarotti das hohe ›C‹ des Kochens vorführen zu dürfen. Doch der Maestro liebte es bescheiden und bodenständig.

    Vincent vollführte passend zur Musik gekonnt einige Tanzschritte. In Gedanken hielt er seine Clara fest umschlungen. Wenn er mit ihr tanzte, fühlte er sich ihr besonders nah. Die Musik verband sie beide auf mystische Weise. Er spürte, ausgehend von ihren Händen, wie ihre Unbeschwertheit auf ihn überging; auf ihn, den Kontrollfreak, der zwanghaft jede Situation beherrschen musste. Ich bin halt der geborene Stratege, flüsterte er sich zu. Überraschungen hasste Vincent wie der Teufel das Weihwasser. Sein Motto lautete: Kreativität ist der Ausdruck höchster Organisiertheit. Seine Küchenbrigade wusste, davon ein Liedchen zu singen. Er drehte die Musik lauter bis an seine persönliche Schmerzgrenze. In Gedanken wirbelte er Clara im Kreis herum. Vor seinen Augen tanzten die Wandgemälde im Takt. Paul Signac, Henri Manguin und sein verehrter Emil Nolde gaben sich virtuell die Hände. Er schwebte im siebten Himmel. Er zitterte ekstatisch …

    »Vater, mach die Musik leiser. Die Nachbarn werden sich noch beschweren!«, schrie die Tochter von unten.

    Wie bei einer Bruchlandung schlug Vincent auf den spröden Boden der nackten Realität auf.

    »Ja, ist ja schon gut«, rief er in Richtung Erdgeschoss.

    Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas gut oder in Ordnung war. Er hasste Montage, weil dann das Restaurant geschlossen war. Regelmäßig holte ihn dann seine, wie er fand, vergeigte Vergangenheit ein. Der Trubel des Alltagsgeschäftes erlöste ihn praktischerweise von seinen beklemmenden Gedanken.

    »Vincent beeil dich, wir müssen noch die Bestellung für Dienstag durchgehen.«

    Vincent betrat das Büro. Joséphine saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Von Zeit zu Zeit schob sie ihre Unterlippe vor und atmete kräftig aus. Eine dunkelblonde Haarsträhne, die ihr vorwitzig ins Gesicht hing, flog kunstvoll auf ihren Kopf. Er war sich sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis die gleiche Strähne wieder zurück in die Ausgangsposition fallen und sich das Schauspiel wiederholen würde. Clara hatte auch ständig mit ihrer Haarpracht gekämpft. Das musste sich die Tochter von ihr abgeguckt haben.

    »Papa, ich bekomm keine bretonischen Austern!«

    »Versuch es bei Philippe!«

    »Was glaubst du, mache ich hier? Alle unsere Lieferanten sind restlos ausverkauft.«

    »Da fällt mir dann nur noch der Halsabschneider Pierre Girard ein.«

    »Weißt du, wie teuer das Stück bei ihm ist? Da fliegt uns die gesamte Kalkulation um die Ohren.« Joséphine blickte ihren Vater vorwurfsvoll an. »Am besten wir nehmen die Austern von der Speisekarte!«

    »Für den Mittagstisch sollten wir so verfahren. Abends kommt der blasierte Herr Weißhaupt mit seinen debilen Geschäftspartnern. Dem Dummkopf verkaufen wir Flugaustern. Ruf Philippe an. Er soll uns für morgen Abend per Luftexpress eine Kiste Austern liefern.«

    »Weißt du, was das kostet? Die Mehrkosten wird Herr Weißhaupt nie bezahlen!«

    »Glaub mir Joséphine, mein Schatz, er wird. Da bin ich zuversichtlich. Manche Menschen sind so narzisstisch, die würden alles unternehmen, um nicht ihre mühsam errichtete Fassade bröckeln zu sehen. Frag die Runde, ob sie als ›Horsd'oeuvre‹ etwas wirklich Exquisites wünschen. Austern, die vor wenigen Stunden noch unbeschwert im Meer gebadet haben. Weißhaupt wird in seiner impertinenten Art nicht widerstehen können. Später erst wird er dich nach dem Preis fragen. Dann ist es für ihn und sein krankes Ego zu spät. Vor seinen Geschäftspartnern wird er keinen Rückzieher machen. Welcher Narzisst will sich schon vor seinem Auditorium blamieren? Weißhaupt, der elende Blender, nimmt eher einen Kredit auf, bevor er öffentlich eingesteht, dass ihm das Ganze zu teuer wäre. Schätzchen bestell eine Kiste und grüß mir Philippe.«

    »Papa du riechst, als wolltest du auf Brautschau gehen!«

    »Ich? Das muss das neue Duschgel sein, dass du mir gekauft hast. Wie dem auch sei, mir reichen zwei Frauen. Glaub mir.«

    Vincent küsste seine Tochter auf den Kopf und grinste. Doch Joséphine ließ sich nichts anmerken und wählte den Kurzwahlspeicher, um beim Händler in Frankreich eine Kiste bretonische Premium-Austern zu ordern. Der Patron kam sich überflüssig vor und zog es vor, sich in seine Privatgemächer zurückzuziehen. Insgeheim freute er sich auf sein neues Buch über die aktuelle Ausstellung im New Yorker MoMa. Von unten hörte er Joséphine mit Philippe auf Französisch flirten. Ganz meine Tochter. Gerade, als er sich in Wohlwollen ergehen wollte, wurde ihm klar, wie dringend Joséphine einen Mann brauchte und Marie einen Vater. Durchaus bewertete er ihr Engagement als überaus löblich, aber sie war im Begriff, mit ihren zweiunddreißig Jahren ihr Privatleben aufzugeben. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass dies der falsche Weg war. Wenn er jetzt einen Food and Beverage Manager einstellte, würde das seine Tochter entlasten. Wie er sie aber kannte, würde sie sich zurückgesetzt und aufs Schärfste verletzt fühlen. Böte er ihr die Position als Wirtschaftsdirektorin an, fehlte ihr der allabendliche Auftritt auf der großen Bühne als Service-Chefin im Restaurant. Sie liebte es, die Gäste zu beraten und als Dirigentin das große Ganze im Blick zu behalten. Vincent musste unbedingt eine Lösung finden. Marie sollte unter der Personalknappheit auf gar keinen Fall leiden. Es wäre gut, wenn er mit seiner Tochter in einer stillen Stunde sprechen würde, aber leichter gesagt als getan. Er hasste solche Aussprachen. Er kannte die Gefahr, in der er dann schwebte. Diese Art der Gespräche neigten fast immer dazu, zu eskalieren. Frauen können so verletzlich sein, murrte Vincent. Vielleicht fand er auch einfach nicht die richtigen Worte. Er war den engen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht in den letzten Jahren nicht mehr gewohnt. Selbst in seiner Küchenbrigade arbeiteten nur Männer, wenn man von Emma, der Pâtissière, einmal absah. Emma konnte man durchaus als robust bis maskulin charakterisieren und zählte daher nicht. In ihrer unerschütterlichen Art trank sie nach Feierabend so manchen männlichen Kollegen spielend unter den Tisch. Es wäre vielleicht hilfreich, wenn einer seiner Freunde beim Gespräch dabei wäre. Während er überlegte, wer ihm Schützenhilfe leisten könnte, griff er nach seiner Kunstlektüre.

    Überraschend rief Joséphine von unten herauf: »Schöne Grüße von Philippe. Er schickt uns eine Kiste.«

    Vincent musste schlagartig wieder an diesen Schaumschläger Weißhaupt denken. Er hasste solche impertinenten Typen, die permanent mit sich und ihrer Eigeninszenierung beschäftigt waren. Diese Hohlbirne bestellte zu jedem Essen einen Bordeaux, weil er glaubte, dass ab einer bestimmten Preiskategorie seine Unwissenheit in Sachen Esskultur nicht auffiele. Weißhaupt war so ungebildet, dass er noch nicht einmal den Unterschied zwischen einer Stange weißen Spargel und einer Schwarzwurzel kannte. Für solche Kunstbanausen machte es einfach keinen Spaß, zu kochen. Gut ein Drittel seiner Gäste waren Spesenritter oder Gourmetanalphabeten, die in seinem Restaurant nur auf den Putz hauten. Ihm war klar, dass er ohne diese seltsamen Kreaturen seinen Laden schließen müsste, wie alle anderen Sterneköche auch. Daher fand er es fast schon tröstlich, dass seine restlichen Gäste seine und die Arbeit des gesamten Teams zu schätzen wussten. Genau dieses Verständnis motivierte ihn Tag für Tag, Spitzenleistung abzuliefern. Er hing diesem versöhnlichen Gedanken ein wenig nach. Dann lachte er laut. ›Auf jeder Bühne gibt es Schauspieler, die etwas zu sagen haben, die etwas darstellen. Dann gibt es die Figuranten, die als Statisten vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht sind. — Weißhaupt der Figurant. Was für ein Aphorismus. ‹

    »Drei Amuse-Gueule an Tisch Sieben. Einen Seeteufel, eine Gelbflossen Dorade und zweimal Milchlamm für Tisch Vier.«

    Die Küchenbrigade antwortete daraufhin: »Oui, Chef.«

    Für Außenstehende mutete dieses Spektakel wie eine Szene auf einer Galeere an, wo die Sklaven im Gleichklang des Galeerentrommlers mit der Anzahl der Ruderschläge antworten. Für Vincent war es schlichtweg die Harmonie eines eingespielten Teams, gleich einem Orchester, das auf seinen Dirigenten reagiert. Mit ihrem ›Oui, Chef‹ signalisierten sie dem Maître, dass seine Bestellung von der Küchenmannschaft verstanden wurde. So gewährleistete sein Ensemble einen reibungslosen Ablauf in der Küche. Von Zeit zu Zeit fragte er die Minutenangaben ab, damit er die einzelnen Positionen zur gleichen Zeit auf dem Teller anrichten konnte. Dies verlangte höchste Konzentration, handwerkliches Geschick, Hingabe und extrem viel Leidenschaft. Alles zusammen gipfelte in einem perfekten Teller. Nur eine geringfügige Verzögerung, ein Sandkorn im Ablauf, und aus der formvollendeten Sinfonie wurde eine nichtssagende Kakofonie.

    »Vincent, der Oberbürgermeister würde sich gerne bei dir bedanken. Er ist mit einer kleinen japanischen Delegation da. Lässt sich das einrichten? Er würde sich wirklich freuen«, rief Joséphine ihrem Vater aufmunternd zu.

    »Tisch Vier, wie viel Minuten?«

    »Sieben Minuten Chef!«

    »Das sollte reichen. Bis auf Tisch Sieben sind die restlichen Gäste alle beim Dessert angelangt. Emma, wo bist du?«

    »Hier Chef!«, rief die Pâtissière aus vollem Hals und grinste dabei frech, denn sie wusste genau, wie ihr Maître die Frage gemeint hatte.

    »Ah, ich sehe schon, du bist nicht ausgelastet«, er lächelte entspannt zurück. Der Patron sah seine Tochter an und nickte zustimmend. Für den Oberbürgermeister nahm er sich gerne Zeit. Joachim Schmelzer war ein sehr kultivierter und den Menschen zugewandter Typ. Nie aufbrausend, sehr interessiert und offen für Neues. Vincent hatte bei so mancher Vernissage mit Schmelzer leidenschaftlich über Kunst debattiert. Er freute sich immer, den OB bei sich begrüßen zu dürfen. Der Stadtvater schätzte überaus die Leistung seiner Mannschaft und hielt mit Lob nicht hinter dem Berg. Vincent wollte gerade freudig die Küche verlassen, als Joséphine ihm hinterherrief: »Vater, Telefon für dich.«

    »Wer ist dran?«

    »Ein Rolf. Er sagt, er kenne dich von früher. Es sei sehr wichtig.«

    »Ich kenne keinen Rolf. Sag ihm, ich habe jetzt keine Zeit.«

    Vincents Ton wurde rauer. Er hasste Telefonate während der Küchenzeit. Grundsätzlich war er dann für niemanden zu sprechen. Das wusste seine Tochter ganz genau. Bei seiner Arbeit wollte er auf gar keinen Fall gestört werden. Er war dann ausnahmslos für seine Gäste da. Schließlich konnten sie erlesene Speisen und eine perfekte Show für ihr Geld erwarten. Als Gastgeber wollte er ihnen einen unvergesslichen Abend bereiten.

    Vincent betrat feierlich das Restaurant. Mit einem leichten Kopfnicken grüßte er die Gäste, die seinen Blickkontakt suchten, so, wie er es bei seinem Großmeister Paul Bocuse gelernt hatte. An Tisch Drei saßen alte Stammkunden. Es war der Präsident des Oberlandesgerichts Dr. Hebestreit mit seiner Frau und Begleitung. Er konnte unmöglich ohne ein freundliches Wort an ihnen vorrübergehen.

    »Frau Hebestreit, Herr Präsident, es freut mich, Sie in meinem Hause begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, es war alles zu Ihrer vollkommenen Zufriedenheit.«

    Frau Hebestreit konnte vor Glück nicht an sich halten und ergriff freudig seine Hand.

    »Maître Lambert, für uns war es wieder ein Fest, bei Ihnen speisen zu dürfen. Ihre Gelbflossen Dorade an Fenchel und die karamellisierten Jungzwiebeln mit dem herrlichen Orangen-Schmorbraten-Jus, einfach superb. Wie schaffen Sie das nur immer?«

    »Sie wissen doch, verehrte Frau Hebestreit, wir kochen mit Liebe und Leidenschaft. Es freut mich sehr, dass es Ihnen gemundet hat. Das Lob gebe ich gerne an meine Mannschaft weiter.«

    Vincent deutete einen vornehmen Handkuss an, verneigte sich und schritt andächtig auf den Tisch des Oberbürgermeisters zu. Drei Japaner bildeten die intime Delegation. Noch bevor Vincent seine Hand zum Gruß ausstrecken konnte, erhoben sich die drei Asiaten und verbeugten sich ehrfurchtsvoll. Der Patron erwiderte respektvoll. Dann schüttelte er in deutscher Manier den Gästen die Hände. Ohne es wirklich zu wissen, ahnte der Maître, wer welche Speise bestellt hatte. Die Japaner konnten nur den Seeteufel an Salbei-Gnocchi im Meerspinnen-Jus gespeist haben. Da an Tisch Neun auch ein Lamm geschickt worden war, blieb das nur für Schmelzer übrig. Der OB verkörperte eher den kernigen Typ. Nachdem Schmelzer sich anerkennend für die exquisite Bewirtung bedankt hatte, eilte Vincent wieder in die Küche. Am Pass, der Schnittstelle zwischen Service und Küche, hatte ihn in der Zwischenzeit sein Souschef Frank vertreten.

    »Vater, dein Rolf Zirner hat sich nicht abwimmeln lassen. Er wartet immer noch am Telefon«, drängte Joséphine.

    ›Was will dieser impertinente und selbstherrliche Mensch von mir?‹, murmelte Vincent ärgerlich.

    »Lambert!«

    »Hallo Vincent, erinnerst du dich an mich? Hast mich ganz schön lange warten lassen.«

    »Was willst du?«

    »Ah, ich sehe, ich bin in Erinnerung geblieben. Das freut mich.«

    »Quatsch nicht dumm rum, raus mit der Sprache. Warum rufst du an?«

    »Ich hatte Sehnsucht nach dir, um der alten Zeiten willen. Du verstehst?«

    »Nein, ich verstehe nicht. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mit dir zu reden.«

    »Warum so unhöflich? Ich dachte, als Herr eines so feinen Etablissements drückt man sich gewählter und höflicher aus.«

    »Das war schon früher dein Problem. Wenn es drauf ankam, konntest du dich nicht konzentrieren. Also komm endlich auf den Punkt.«

    »Seit wann bist du so unromantisch? So kenn ich dich gar nicht. Gut, ich habe einen interessanten Job für dich.«

    »Dann solltest du mit meiner Restaurant-Chefin sprechen; die ist für Events und Termine zuständig.«

    »Geistreich wie immer. Vincent, Vincent, mein Stratege. Es geht natürlich um einen Kunst-Job. Aber das weißt du selbstverständlich längst. Warst ja immer der Gescheite.«

    »Was man von dir nicht behaupten kann. Wenn du ein wenig recherchiert hättest, dann wüsstest du, dass ich mich vor mehr als fünfzehn Jahren aus dem Metier zurückgezogen habe. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, Rolf.«

    »Nicht so hektisch Vincent. Du solltest dir mein Angebot anhören, immerhin geht es um 1,3 Millionen für jeden von uns! Das ist doch eine überaus angenehme Herausforderung für dich oder irre ich mich?«

    »Ich gebe dir

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