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Ein Traum Brahmas
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eBook415 Seiten6 Stunden

Ein Traum Brahmas

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Über dieses E-Book

Süddeutschland, Ende der 90er Jahre.
Als Simon Thierne mit Recherchen über das Leben des verstorbenen Musik-Professors Odilo Vasser betraut wird, ahnt er noch nicht, welch seltsame Wendung sein Leben bald nehmen wird.
Denn der streng rational denkende Simon wird rasch immer tiefer in einen Strudel mysteriöser Geschehnisse hineingesogen: Zuerst erzählt ihm ein älteres Paar eine haarsträubende Geschichte über sein Schicksal, dann entdeckt er bei seinen Nachforschungen mit der Zeit immer mehr Ähnlichkeiten zwischen dem Leben des Musikers und seinem eigenen.
Doch wie hängt das alles zusammen, was für eine Verbindung gibt es zwischen ihnen?
Nach einem durchzechten Wochenende lässt er sich von einer schrulligen Alten zu einem schamanischen Ritual überreden.
Bevor er jedoch dieses Erlebnis verarbeiten kann, muss er sich von Berufs wegen auf eine Reise begeben …
Wird sich in der Fremde wirklich sein Schicksal entscheiden, wie es ihm prophezeit wurde? Und welche Rolle spielt das Mädchen aus seinen Träumen dabei?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Sept. 2015
ISBN9783732332847
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    Buchvorschau

    Ein Traum Brahmas - Marcello Dallapiccola

    Das Rauschen des Wassers erfüllte die Luft. Ein allgegenwärtiges, nahezu hypnotisches Brausen, das von der Allmacht der Elemente kündete. Sie saßen eng umschlungen auf einem großen, sanft gerundeten Stein. Rundherum erstreckte sich ein weites Kiesbett, das mit verschiedenfarbigen, vom Wasser abgeschliffenen Flusskieseln bedeckt war. Zwischen den Steinen bahnten sich überall kleine Rinnsale murmelnd und gluckernd ihren Weg. Ob es ein See oder ein Fluss war, an dem sie saßen, konnte er nicht erkennen.

    Wie meistens.

    Die Sonne schien hell auf sie herab, die vielen Düfte in der Luft kündeten von einem Frühling. Die wärmenden Sonnenstrahlen umschmeichelten sein Gesicht und kitzelten ihn in der Nase. Das Licht spiegelte sich auf ihrem langen, kastanienbraunen Haar, ließ es erstrahlen wie einen Heiligenschein; der sternförmige Anhänger, den sie stets um den Hals trug, blitzte manchmal reflektierend auf. Eine sanfte Brise löste einige Strähnen ihres Haares und wehte sie in ihr Gesicht.

    Ihr Gesicht, das er schon so oft gesehen hatte und doch nicht beschreiben konnte. Der kleine Höcker auf der Nase, die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken, die so lustig hüpften, wenn sie lachte. Die beiden Fältchen, die sich zwischen ihren Augenbrauen bildeten, wenn sie nachdenklich wurde, ihre Lippen, die sich so träumerisch langsam öffneten, wenn sie sich küssten.

    Er konnte sich immer nur auf einen kleinen Ausschnitt ihres Gesichtes konzentrieren; alle ihre Merkmale und Regungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, erschien ihm unmöglich. Man sah die Sonne ja auch nur als gelbe Kugel am Himmel, obwohl sie doch so viel mehr war.

    Sanft, etwas verschmitzt lächelte sie ihn an, während sie mit einem kleinen Taschenmesser einen Apfel zerteilte und ihm ein Viertel reichte. Er konnte seinen Blick nicht von ihren Zügen abwenden, während er in das Apfelstück biss. Diese tiefe Zufriedenheit, diese sanfte und beständige Freude, die er in ihrer Gegenwart verspürte – jede Sekunde davon wollte er auskosten.

    Nachdem sie das Taschenmesser zusammengeklappt hatte, fand ihre Hand wieder die seine. Simon spürte die sanfte Berührung, das zärtliche Spiel ihrer Finger. Genoss den Moment.

    Kauend begann sie, ihm etwas zu erzählen. Das war ihre Art: Sie redete gerne und viel, jedoch nie aufgeregt. Und sie nahm sehr gerne ihre Hände, vor allem ihre linke, dabei zu Hilfe. Was sie sagte, unterstrich sie stets mit weichen, flüssigen Gesten.

    Immer wenn sie eine kurze Pause machte, spürte er wieder ihre Finger, die über seinen Handrücken strichen. Er verstand nicht, was sie sagte, hörte aber trotzdem mit großem Interesse zu, beobachtete ihr Mienenspiel, während sie sprach.

    So vertraut war sie ihm über die Jahre geworden, und dennoch faszinierte ihn ihr Anblick immer wieder aufs Neue.

    Jedes Mal, wenn sie ihm erschien.

    Noch während dieses Gedankens begann sich der Traum bereits zu verflüchtigen, aufzulösen. Erst fror nur das Bild ein, dann machten sich weitere Veränderungen bemerkbar: Das Rauschen des Wassers wurde langsam, aber stetig überlagert durch das Summen des Alltags, welches sich durch das gekippte Fenster herein immer vehementer in sein Bewusstsein fraß.

    Simon wollte es nicht zulassen. Er versuchte, sich am Schlaf festzuhalten, sich an den Traum zu klammern, sich an sie zu klammern. Doch es war bereits zu spät, die Wirklichkeit bahnte sich ihren Weg in seinen Schlaf hinein wie ein Bagger, der durch einen Schrebergarten ratterte.

    Trotzdem wartete er damit, seine Augen zu öffnen, um noch ein paar Momente von dieser Szenerie auskosten zu können – um noch einen letzten Blick auf ihr Gesicht zu werfen.

    Schließlich blinzelte er, als es ihm nicht mehr gelang. Die Verbindung zur Traumwelt war abgerissen, ließ ihn gegen seinen Willen in der Realität zurück. Das fahle Licht, das durch die Vorhänge in seine Schlafkammer fiel, kündete von einem neuen Morgen.

    Von der Straße dröhnten die ersten Geräusche des langsam in Gang kommenden Verkehrs herauf; ein behäbiger Riese, der stetig und unaufhaltsam zum Leben erwachte. Bald schon würde die Luft erfüllt sein von geschäftigem Rauschen.

    Simon blieb noch eine Weile liegen, um vollends zu sich zu kommen. Wenn er von ihr träumte, schien das immer wie ein Ausflug in eine andere Welt zu sein; es fühlte sich jedes Mal so echt an.

    ‚Vielleicht eine Seelenreise?‘, grübelte er. In eine andere Dimension, ein Paralleluniversum? ‚Blödsinn‘, wies er sich zurecht. Auch wenn es sich so real anfühlte – es waren Träume, weiter nichts. Wenn auch sehr schöne Träume.

    Er konnte sich nicht erinnern, wann sie ihm das erste Mal erschienen war. Vermutlich war sie schon immer dort gewesen – dort, in seinen Träumen. Er konnte sich noch erinnern, wie sie als Kinder an diesem Fluss gespielt hatten. Doch diese Erinnerungen waren bereits ziemlich verblasst. Das Einzige, das er überhaupt noch genau wusste, war, dass es definitiv sie gewesen war.

    Immer schon, immer nur sie. Dabei wusste er nicht einmal ihren Namen, ihren wirklichen Namen. Natürlich hatte er ihr viele Namen gegeben über die Jahre, immer solche, die ihm gerade besonders gut gefielen; seit einiger Zeit nannte er sie Penélope.

    Und dennoch, überlegte Simon, während er sich langsam im Bett ausstreckte, existierte sie nur in seinem Kopf. Wie also konnten diese Träume immer so real sein, sich so echt anfühlen?

    Was gäbe ich darum, dich im wirklichen Leben zu treffen!

    Langsam erhob er sich aus dem Bett. Der Wecker zeigte kurz vor sieben, würde also erst in einer Stunde klingeln. Normalerweise wurde er eine halbe Stunde vor dem Wecker wach, er hatte also massig Zeit, sich auf den Tag vorzubereiten.

    Auf sein Gespräch mit Professor Weinreb. Simon sah dem einerseits mit Gelassenheit, andererseits aber auch mit etwas gemischten Gefühlen entgegen. Er hatte keine Ahnung, was der Prof von ihm wollte. Dass es an seiner Arbeit nichts zu beanstanden gab, dessen war er sich sicher, also konnte er sich eigentlich keinen Grund vorstellen, der ein solches persönliches Gespräch nötig gemacht hätte. Vielleicht wollte Weinreb ja nur ein bisschen plaudern? – Das tat er ja sehr gerne, nur beraumte er deswegen normalerweise nicht extra ein Gespräch mit Termin und allem Pipapo an.

    Üblich war vielmehr, dass der Prof einfach bei ihnen im Büro vorbeikam, zwischen den Rechnern herumspazierte und sie in ein Gespräch über die Arbeit verwickelte, die gerade anstand. Meist ließ er sich irgendein technisches Detail erklären, um davon ausgehend dann in alle möglichen Richtungen abzuschweifen. Was zwar den Betrieb aufhielt, dafür aber meist ungemein interessant war; Simon kannte niemanden, der auch nur annähernd so belesen und so viel gereist war wie Emil Weinreb. Sein ganzes Leben hatte der alte Professor der Wissenschaft und der Forschung gewidmet.

    Simon füllte Kaffeepulver und Wasser ein und nahm eine kurze Dusche, während die Kaffeemaschine fauchend und schnaubend ihre Arbeit tat. Aus dem Radio tönten wie meist am Morgen leichte, beschwingende Töne eines Streichorchesters.

    Noch mit dem Handtuch um die Hüften gewunden schmierte er sich zwei Brote und servierte sie auf einem Teller auf seinem kleinen Esstisch. Die Jumbotasse Kaffee, die er sich einschenkte, würde noch ein wenig abkühlen müssen, deshalb ging er sich zuerst ankleiden. Dunkle Jeans und blau gestreiftes Hemd, wie immer. Weder schrill noch konservativ. Nur dass das Hemd nicht immer blau und längsgestreift war.

    Als er schließlich am Tisch Platz nahm, dampfte der Kaffee nicht mehr. Das Streichorchester wich einem Nachrichtensprecher, der mit seriöser Stimme die Neuigkeiten aus aller Welt vortrug. Simon hörte nicht einmal mit halbem Ohr hin; in seinen Gedanken war er wieder bei ihr.

    Es war schon einige Zeit her, seit er das letzte Mal von ihr geträumt hatte. Deshalb war diese Traumbegegnung am Morgen besonders wichtig für ihn gewesen. Ein Zeichen von ihr, ein Traumsignal. Danach hatte er sich gesehnt. Nur in diesen Träumen fühlte er sich echt und vollkommen, fühlte sich seine Wirklichkeit wahrhaftig an. Nur in diesen Träumen vermochte er, das Glück der Liebe zu verspüren.

    ‚Wenn ich nur wüsste, wo du bist", dachte er mit leichter Bitterkeit und verzehrte den letzten Bissen seines Brotes. Und fügte in Gedanken ein sehnsuchtsvolles „Geliebte" hinzu.

    Während er den Kaffee fertig trank, blickte er zum Fenster hinaus. Beobachtete die Leute, wie sie durch die Seitenstraße der Umgebung wuselten. Viele Wiesen und Bäume, breite Fußwege, ein richtiges Kleinstadtidyll. Hier konnten selbst die Kleinsten noch allein zur Schule gehen, ohne Gefahr zu laufen, von einem übermüdeten Lkw-Fahrer oder einem telefonierenden Geschäftsmann über den Haufen gefahren zu werden.

    Mit den Jahren waren ihm die Gesichter der Menschen vertraut geworden; es schienen immer die gleichen Leute zu sein, die man zu bestimmten Zeiten sah. Rentner, die ihre Hunde ausführten, erwiesen sich dabei als die zuverlässigsten. Oder die immer so entspannt wirkende Dame vom Verlagsservice vis-à-vis, die eben mit ihrem fröhlich wedelnden, struppigen Mischling auf die Straße trat. Simon musste nicht einmal auf die Uhr schauen, um zu wissen, dass es jetzt ziemlich genau um acht herum sein würde. Diese beiden waren jeden Tag um die exakt gleiche Zeit unterwegs, Sommer wie Winter, Regen oder Schnee.

    Bei einem Arbeitsweg von gut zehn Minuten hatte er immer noch viel überflüssige Zeit; früher hinzugehen, erschien ihm keine gute Idee, da der Prof ihm schon mehrmals verboten hatte, noch weitere Überstunden zu machen. Ob es wohl darum ging – Weinreb wollte ihn auf seine höchst eigene, charmante Art nötigen, endlich seine Überstunden durch etwas Urlaub abzubauen?

    Simon lächelte. ‚Das wird es wohl sein‘, dachte er. Doch was, zum Donnerwetter, sollte er nur mit Urlaub anfangen? Er wusste ja schon an Feiertagen und langen Wochenenden kaum, was er mit seiner Zeit anstellen sollte.

    Immerhin fühlte er sich jetzt etwas sicherer, jetzt, da er zu wissen glaubte, was der Professor von ihm wollte. Er stellte die leere Tasse in die Spüle, schlüpfte in seine Schuhe, zog sich die Jacke über und verließ die Wohnung.

    Simon liebte den Spaziergang ins Büro an der frischen Morgenluft. Gemächlich schlenderte er in Richtung Fluss und inhalierte den Morgentau. Noch war es kühl, doch schon bald würde die Sonne mehr Kraft haben; die Jacke würde er in der Mittagspause dann sicher nicht mehr brauchen. Er folgte dem Fluss noch etwa zehn Minuten und ging dann in weitem Bogen durch die Vorstadt; dort machte er noch einen weiteren kleinen Umweg zum Bäcker, um sich ein Plunderstück zu holen.

    Während er die Süßigkeit verzehrte, schlug er den Weg in Richtung seines Arbeitsplatzes ein. Er achtete darauf, sich nicht mit dem Puderzucker, der von dem Gebäckstück rieselte, zu bekleckern, was sich gar nicht einmal als so leichtes Unterfangen erwies.

    Gerade als er den letzten Bissen verschlungen hatte, bog er in die altehrwürdige Archimedes-Allee ein, an deren Ende sich das majestätische Gebäude des Landesarchivs erhob. Simon betrat das Gebäude und suchte als Erstes eine Toilette auf, um sich die Hände zu waschen. Mit klebrigen Fingern konnte er dem Prof ja nicht gut die Hand reichen.

    Bei der Gelegenheit prüfte er auch gleich noch, ob Hemd und Frisur richtig saßen – nicht, dass Weinreb je auf die Aufmachung seiner Mitarbeiter geachtet hätte, aber das war der Anspruch, den Simon an sich selbst stellte: Stets gepflegt und adrett zu erscheinen. Unauffällig, nach Möglichkeit.

    Deshalb ergab seine Prüfung auch nichts. Er sah aus wie immer. Der Prof würde sich ihm gegenüber verhalten wie immer. Es gab keinen Grund, die Sache noch länger hinauszuzögern. Also atmete er tief durch und machte sich auf den Weg in das Büro des Professors.

    Immer noch mit einem leicht mulmigen Gefühl klopfte Simon an der Tür zu Weinrebs Büro. „Herein!", tönte es von drinnen.

    Er drückte den schweren Messingknauf und betrat den Raum. Der war voller uralter und sehr wuchtiger Möbel. Von den Wänden war nichts zu sehen; die waren komplett von Bücherregalen bedeckt, denen der eigentümliche Geruch sehr alter Werke entströmte.

    Der Professor thronte inmitten des Raumes an einem riesigen Schreibtisch, der vermutlich schon seit Jahrzehnten den unterschiedlichen Direktoren des Landesarchivs gedient hatte. Das massive Möbelstück drohte sich beinahe durchzubiegen unter der Masse der Bücher, Briefe und Dokumente, die der Professor in fein säuberlichen Stapeln darauf hortete. Hinter ihm waren zu beiden Seiten des Schreibtisches große Fenster, durch die das helle Licht des Tages freundlich herein grüßte.

    Weinreb, der eben noch mit Papieren in einer Dokumentenmappe hantiert hatte, blickte hinter seiner Lesebrille auf. Er war ein freundlich lächelnder Mann mit einer mächtigen Stirnglatze und schon recht ergrautem, etwas zu langem Haar an den Seiten. Wie fast immer war er mit einem altmodischen, karierten Anzug, der fast etwas zu schlicht für seine Position erschien, bekleidet. Darin sah er ein wenig aus wie ein zweitklassiger Buchhalter. Seine Lesebrille trug Weinreb prinzipiell den ganzen Tag über auf seinem Nasenrücken spazieren; sein Bart, der etwas an den von Lenin erinnerte, bedurfte wieder einmal der kundigen Hände eines Friseurs, genau wie das letzte verbliebene Haar um seine Glatze herum.

    Insgesamt erweckte er unwillkürlich den Eindruck eines zwar liebenswerten, jedoch harmlosen und etwas schusseligen Intellektuellen. Dieser Eindruck verflüchtigte sich jedoch recht schnell, sobald man ihm ins Gespräch kam und einen ersten Eindruck seines brillanten, gewitzten Geistes erhielt.

    Als er Simon erblickte, sprang er von seinem Sessel auf und kam mit ausgestreckter Hand um den Schreibtisch herum.

    „Simon, da sind Sie ja! Nehmen Sie doch bitte Platz!" Einladend wies der Professor auf einen der drei schweren Ledersessel, die für Besucher aufgestellt waren. Während Simon sich setzte, marschierte Weinreb umständlich wieder um den Schreibtisch herum und ließ sich vorsichtig wieder nieder.

    „Trinken Sie einen Kaffee mit mir?", fragte er schmunzelnd, nachdem er Simon eine Kunstpause lang in die Augen geschaut hatte.

    Mit dieser Frage hatte Simon nicht gerechnet; doch bevor er noch lange überlegen konnte, hatte der Professor schon den Telefonhörer in der Hand.

    „Felicitas, würden Sie bitte Kaffee bringen? Dann hielt Weinreb den Hörer zu und zischte: „Haben Sie schon gefrühstückt? Ich könnte auch Croissants kommen lassen?

    Simon, der sich halbwegs gefangen hatte, verneinte mit einigen unbeholfenen Gesten. Nach dem Plunderstück konnte er wirklich nichts mehr essen. Der Professor zuckte mit den Schultern, ein Hauch des Bedauerns huschte über sein Gesicht, während er den Hörer auflegte.

    „Nun, mein junger Freund, Sie wundern sich sicher, weshalb ich Sie zu diesem Gespräch gebeten habe", sagte Weinreb dann.

    Das war eine Feststellung, keine Frage. Simon nickte trotzdem und sagte „Ja".

    „Auch wenn es vielleicht ein wenig dramatisch klingt, aber ich möchte mich mit Ihnen über Ihre Zukunft unterhalten", begann der Prof die Unterhaltung.

    Simon musste sehr verdattert dreingeschaut haben, denn der Alte brach in ein schallendes Gelächter aus. „Schauen Sie doch nicht so, das ist doch nichts, wovor Sie sich zu fürchten brauchten!  Ah …"

    Er hielt inne, da in diesem Moment seine Vorzimmerdame mit einem Tablett hereinkam. Weinreb schob zwei Stapel Bücher zur Seite, um Platz zu machen und bedankte sich währenddessen sicher dreimal bei Felicitas.

    Als sie den Raum wieder verlassen hatte, wies er Simon an, sich zu bedienen. Es dauerte einige Minuten, bis beide sich dampfenden Kaffee aus der Kanne eingeschenkt sowie Milch und Zucker eingerührt hatten. Als sie schließlich, ihre Untertassen in der Linken balancierend, da saßen, kam Weinreb wieder auf das eigentliche Thema zurück.

    „Wie lange arbeiten Sie jetzt schon hier?"

    „Das müssen so an die neun Jahre sein", antwortete Simon nach kurzem Nachdenken. Er war sich nicht ganz sicher, aber das kam in etwa hin.

    „Wissen Sie, ich schätze Ihre Arbeit sehr. Wir alle hier tun das, setzte der Professor an. „Die ‚Pilgerwege‘-Veranstaltungen haben nicht zuletzt dank Ihres Einsatzes so prächtig funktioniert, von der Datenerfassung gar nicht zu reden. Der alte Mann lächelte freundlich und nickte Simon zu, was wohl als Aufmunterung gedacht war.

    „Danke, Herr Professor", antwortete Simon.

    Er hatte zwar erst nur bei der Recherche zu dieser Veranstaltungsreihe ausgeholfen, war dann aber nach und nach immer weiter in das Projekt involviert worden. Dabei war es um „Mittelalterliche Handels- und Pilgerwege" gegangen – schriftliche Aufzeichnungen, Sitten und Gebräuche der damaligen Zeit und so weiter. Schließlich war die Stadt damals ein bedeutendes Handelszentrum gewesen. Simon war teilweise mit dem Professor persönlich, teilweise mit dessen Assistenten in alten Klosterbibliotheken gewesen, wo man in verstaubten, ledergebundenen Bänden aus längst vergangener Zeit nach geschichtlichen Belegen gesucht hatte.

    Die Arbeit hatte ihm Spaß gemacht, er hatte dabei einige alte Äbte kennengelernt, die viele spannende Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen wussten – aber Simon hatte diesen seinen Anteil am Erfolg der Ausstellung eher gering eingeschätzt. Im Prinzip hatte er hauptsächlich die Technik bedient und jene Daten erfasst, die ihm die anderen Mitarbeiter vorgelegt hatten.

    Hier war ihm sein Talent zu Hilfe gekommen. Daten zu sammeln, zu organisieren und auszuwerten war immer schon eine Leidenschaft von ihm gewesen. Der Vorgang, einer chaotischen Anordnung Struktur zu verleihen, hatte ihn schon als Kind fasziniert; selbst seine Spielzeugautos waren stets nach Farbe, Größe und Funktion geordnet gewesen. Doch was als Kind nur ein Fimmel gewesen war, hatte sich nach dem Unfall zu einer regelrechten Obsession bei ihm ausgewachsen – ganz so, als könne er dadurch vermeiden, dass so ein Unfall noch einmal passierte.

    „Allerdings frage ich mich schon seit einer Weile, warum Sie nicht endlich weitermachen. Mehr machen, als Sie hier in dieser Position im Moment machen können", sagte Weinreb und blickte ihn fragend an.

    „Wie meinen Sie das?", fragte Simon, der insgeheim froh war, dass es doch nicht um die leidige Urlaubsgeschichte ging.

    Der Professor grinste verschmitzt. „Ich meine, ob Sie nicht endlich ihr Studium wieder aufnehmen wollen."

    Damit war die Katze aus dem Sack. In diese Richtung hatte der Professor auch schon früher gebohrt. In den letzten Monaten jedoch nicht mehr, weshalb Simon angenommen hatte, dass dieses Thema endlich durch war. Vielleicht war er aber auch nur zu beschäftigt gewesen, wegen des „Wege"-Projekts.

    Offenbar verharrte er zu lange in der Sprachlosigkeit, weshalb Weinreb erneut das Wort ergriff, um die entstandene Stille nicht weiter auszudehnen: „Abgesehen davon, dass ich Ihnen mit einem Abschluss in der Tasche wesentlich mehr für Ihre Arbeit bezahlen könnte, erachte ich es auch für Ihren persönlichen Lebensweg als wichtig, dass Sie sich auf ein Gebiet festlegen und sich dort dann … nun ja, spezialisieren. Sie sind ein talentierter junger Mann, es wäre schade, wenn Sie ihren persönlichen Reifeprozess weiter verzögern würden."

    Simon schluckte; das waren deutliche Worte, mit denen er nicht gerechnet hatte. „Ich verstehe, was Sie meinen, Herr Professor. Ehrlich gesagt, muss ich Ihnen gestehen, dass ich darüber bisher gar nicht nachgedacht habe."

    „Diesen Verdacht hatte ich schon, deshalb habe ich Sie ja auch zu mir eingeladen, sagte der Professor lächelnd. „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schätze Sie sehr als Mitarbeiter und möchte Sie auf keinen Fall verlieren; aber ich sehe es genauso als meine Pflicht an, meine Angestellten bei ihrem beruflichen Fortkommen zu begleiten, zumindest so gut es mir möglich ist.

    „Das weiß ich zu schätzen, Herr Professor", antwortete Simon, da ihm im Moment nichts Besseres dazu einfiel.

    „Neun Jahre arbeiten Sie also schon hier. Das ist eine lange Zeit, finden Sie nicht?", erkundigte sich Weinreb.

    „Schon …", antwortete Simon vorsichtig. Nicht zu wissen, worauf der Prof eigentlich hinauswollte, behagte ihm gar nicht.

    „Und Ihr Engagement war ursprünglich nur eine Beschäftigung, um das Studium zu begleiten, oder?"

    Auch das stimmte. Es waren damals Studenten gesucht worden, um den umfangreichen Bestand des Landesarchivs zu digitalisieren. Simon hatte zu dem Zeitpunkt zwar gerade erst mit Informatik begonnen gehabt – nachdem er sich davor zuerst an Philosophie und dann an Literatur versucht hatte – doch das war allen Beteiligten als ausreichende Qualifikation erschienen.

    Insgesamt waren sechs Studenten dafür angestellt worden; außer Simon waren alle nach spätestens zwei Jahren wieder weg gewesen, hatten andere, aufregendere Jobs angenommen, mit ihrem Studium weiter gemacht. Nur Simon war geblieben.

    Nicht nur geblieben, er hatte sich auch mit der Zeit immer mehr eingebracht und darüber natürlich die Universität zusehends vernachlässigt. Als schließlich eine eigene EDV-Abteilung eingerichtet wurde, war es nur naheliegend, dass er sich um eine der Stellen bewarb. Zuerst war es nur ein 30-Stunden-Job gewesen, der ihm erlaubt hätte, wenigstens in geringem Maße weiter zu studieren; die Kombination aus seiner Unlust, dies zu tun einerseits und seiner immer weiter gewachsenen Erfahrung in der Abteilung andererseits hatte dann bald zu einer Vollzeitanstellung geführt.

    Immerhin hatte er zu dieser Zeit sogar seinen eigenen Abteilungsleiter angelernt; das war mittlerweile gut vier Jahre her und es war auch das letzte Mal gewesen, dass Professor Weinreb und Simon ein ähnliches Gespräch geführt hatten.

    „Ursprünglich schon, aber ich arbeite jetzt schon fast fünf Jahre Vollzeit. Mir gefällt meine Arbeit, ich bin zufrieden so, wie es ist", antwortete Simon.

    Der Professor runzelte kurz die Stirn und setzte dann wieder sein entwaffnendes Lächeln auf. „Es ist natürlich sehr schön, wenn jemand das von sich behaupten kann – dass ihm seine Arbeit gefällt und er zufrieden damit ist. Das wird heutzutage immer seltener. Trotzdem möchte ich gerne wissen, wie es dazu kommt, dass Sie offenbar nicht einmal daran gedacht haben, ihr Studium wieder aufzunehmen. Sie sind doch noch nicht mal dreißig, Sie können doch nicht allen Ernstes den Rest Ihres Arbeitslebens im Keller zwischen diesen ganzen seelenlosen Apparaten hocken wollen?"

    Simon lachte kurz; der „Keller, wo wertvolle, alte Bände und Dokumente konserviert wurden, lag in Wirklichkeit im Erdgeschoss und war ein hochmoderner, klimatisierter Arbeitsplatz im ruhigen Ambiente der Vorstadt, mit Blick auf den angrenzenden Park samt Springbrunnen und Kinderspielplatz. Die „seelenlosen Apparate mochten vielleicht auf den Professor befremdlich wirken, der sich als Mann der Keilschrift nicht viel aus den modernen Medien machte, waren aber in Wirklichkeit das Beste, was die moderne Technik zu bieten hatte.

    Simon war schon in Zeitungsredaktionen und Fernsehstudios gewesen – dort hätte man wirklich von einer summenden und blinkenden Hölle der seelenlosen Apparate sprechen können. Hier jedoch gab es massig Platz für jeden, die Monitore standen auf Möbeln aus dem vorigen Jahrhundert und die Server waren in schweren Wandschränken untergebracht, die mit altmodischen Drechselarbeiten verziert waren und für die man ein spezielles Belüftungssystem hatte austüfteln müssen, damit die wertvollen Möbel durch die Hitze, die die Geräte abstrahlten, keinen Schaden nahmen.

    „Wie ich schon sagte, Professor: Ich bin sehr zufrieden mit meiner Situation, meine Arbeit bereitet mir Freude und ich tu’ sie sehr gerne. Ich sehe eigentlich keinen Grund, etwas an meiner Situation zu verändern. Aber ich bin Ihnen natürlich dankbar, dass Sie sich Gedanken machen."

    Der Professor, der gerade einen Schluck von seinem Kaffee genommen hatte, schüttelte unmerklich den Kopf und legte die Stirn in Falten, während er die Tasse wieder abstellte. Dann hakte er seine Finger ineinander und blickte Simon in die Augen.

    „Ich finde es schade, dass Sie Ihre Talente hier verschwenden, Simon. Ein intelligenter junger Mann wie Sie muss doch vorwärtsgehen im Leben, sein Wissen erweitern, Neues dazulernen. Wenn Ihnen Ihre Arbeit so gut gefällt, dann kann ich Ihnen persönlich versichern, dass Ihre Stelle immer für Sie frei bleiben wird, solange Sie das wollen. Ich will Sie ja nicht verlieren, im Gegenteil – mir wäre es nur wesentlich lieber, wenn Sie einen Abschluss machen würden und ich Sie dann auf einer höheren Ebene einsetzen könnte. Sie könnten schon lange der Leiter Ihrer Abteilung sein, das wissen Sie doch?"

    Simon nickte zögerlich.

    „Interessieren Sie sich nicht mehr für Informatik, ist es das? Bei Gott, das könnte ich gut verstehen!  – Aber dann hätten Sie doch immer noch jede Möglichkeit, etwas anderes zu studieren. Wofür könnten Sie sich noch begeistern?", bohrte Weinreb weiter.

    Genau das war es. Simon interessierte sich zwar für vieles ein bisschen, jedoch für nichts in einem Ausmaß, als dass er sich deswegen in ein Studium hätte vertiefen wollen. Von Begeisterung ganz zu schweigen. Schließlich wusste er ja nur zu gut, wie schnell alles vorbei sein konnte – wozu also sein Herzblut investieren?

    Er lebte sein Leben zurückgezogen und auf Sparflamme, machte seine Arbeit und vertrieb sich die Freizeit mit Büchern und langen Spaziergängen. Der Ehrgeiz, der die meisten seiner Altersgenossen antrieb, dieser Drang, es beruflich „zu etwas zu bringen", war bei ihm überhaupt nicht vorhanden. Weder war er unternehmungslustig, noch besaß er eine künstlerische oder sonstige Veranlagung, die es sich gelohnt hätte herauszubilden; weiter verfügte er auch nur über sehr wenige soziale Kontakte, die er, wenn überhaupt, auch nur sehr dürftig pflegte.

    Dabei ging es weniger darum, dass er Menschen nicht mochte, sondern vielmehr, dass er sich in der Gegenwart anderer immer recht deplatziert fühlte. Fast alle Leute, die er kannte, schienen ein aufregendes Leben zu führen, in dem stets aufregende Dinge passierten, und sie plapperten auch ununterbrochen darüber. Er hingegen wusste nie, was er sagen oder erzählen sollte. Irgendwelche Datenbankprobleme oder Darstellungsfehler, die bei der Arbeit vorkamen, waren nun mal kein spannendes Thema für eine Unterhaltung und abseits seines Berufes passierte in seinem Leben eigentlich so gut wie nie etwas. In fröhlicher Runde mit anderen zusammen sitzend fühlte er sich immer wie ein Meeresfisch in einem Süßwassersee: Es war ein anderes Medium, das sie bewohnten, eine ihm fremde Welt.

    Wahrhaft lebendig fühlte er sich nur, wenn er von ihr träumte. Nur dann erschien ihm das Leben erfüllt, lebenswert, nur mit ihr zusammen machte es Sinn.

    Kurz, er hatte bis heute keine Bestimmung in seinem Leben gefunden. Doch das konnte er dem Professor natürlich nicht so sagen.

    „Nun ja, ich würde in der Tat nicht mehr Informatik studieren wollen, da haben Sie schon recht", antwortete er stattdessen.

    „Was dann? Philosophie hatten Sie doch auch einmal belegt, und … hm …"

    „Literatur", half Simon dem Professor aus.

    „Beides sehr schöne Fächer. Wollen Sie sich nicht in eines davon vertiefen?"

    Da er sah, wie Simon sich wand, während er um eine Antwort rang, ergänzte der Professor: „Sie müssen mir natürlich nicht hier und jetzt auf den Kopf etwas zusagen. Ich möchte Sie mit diesem Gespräch ja nicht unter Druck setzen, sondern lediglich einen Denkprozess bei Ihnen in Gang setzen. Lassen Sie sich Zeit, gehen Sie in sich, überlegen Sie genau und dann wird sich früher oder später von ganz allein ein Weg auftun. Sie könnten ja auch etwas ganz anderes machen – Geschichte, Germanistik, was immer Ihnen vorschwebt. Na?"

    Das aufmunternde „Na" und der freundlich-verschmitzte Gesichtsausdruck des Professors erweckten in Simon die Hoffnung, dass das Gespräch bald zu Ende sein würde. Das entspannte ihn ein wenig.

    „Wenn, dann würde mich Philosophie schon am ehesten interessieren. Aber Sie haben mich damit wirklich ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt, Herr Professor."

    Weinreb winkte lächelnd ab. „Natürlich, aber machen Sie sich keinen Kopf deswegen. Wie gesagt, ich wollte dieses Thema nur einmal ansprechen, damit Sie selber anfangen, sich ein paar Gedanken zu machen. Dass so eine Überlegung Zeit braucht, ist mir sehr wohl bewusst. Allerdings gibt es da noch etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte. Eine ganz andere Sache."

    Simon hatte eben den letzten Schluck aus der Kaffeetasse genommen; zu früh, wie es ihm nun erschien.

    „Noch etwas?", fragte er leicht verwundert.

    Jetzt setzte der Professor ein besonders spitzbübisches Lächeln auf. „In der Tat, und es passt sogar zu dem Thema, das wir gerade hatten, hängt gewissermaßen damit zusammen."

    „So?", sagte Simon und wunderte sich, was da wohl noch kommen würde.

    „Ich habe eine Aufgabe für Sie. Und zwar eine ganz besondere." Weinreb öffnete eine Lade an seinem Schreibtisch und zog eine Mappe hervor.

    „Professor Odilo Vasser, der Name sagt Ihnen sicher etwas", sagte er und suchte einen freien Platz auf dem Tisch, wo er die Mappe hinlegen konnte.

    „Ja, das war ein Musiklehrer. Aber der ist doch schon lange tot?" Simon konnte sich dunkel an den Musiker erinnern. Ein kleiner, rundlicher Mann mit Glatze und einem liebenswürdigen Lächeln, sehr beliebt bei seinen Schülern. Vasser hatte auch zu Simons Schulzeit noch unterrichtet; er selber hatte ihn jedoch nie als Lehrer gehabt.

    „Sein Todestag jährt sich im Oktober zum zehnten Mal. Er muss etwa um die Zeit gestorben sein, als Sie hier zu arbeiten begonnen haben, ist das nicht ein sonderbarer Umstand?" Der Professor hielt inne, zwinkerte kurz und starrte für einen Moment versonnen an Simon vorbei; so, als sei er selber überrascht von diesem seltsamen Zufall, über den er hier eben gestolpert war.

    Doch dann sprach er weiter: „Nun, jedenfalls geht es darum, dass zu seinem runden Todestag einige Gedenkfeiern für ihn abgehalten werden, immerhin hat der Mann sich große Verdienste erarbeitet. Er war der erste Sohn unserer Stadt, der es in die großen Philharmonie-Orchester geschafft hat, wussten Sie das?"

    Simon schüttelte den Kopf.

    „Und nicht nur das – er hat es auch fertig gebracht, dass ihm etliche seiner Schüler nachfolgen konnten in die großen Konzertsäle dieser Welt. Ganz abgesehen von den unzähligen Jazz- und sonstigen Musikern, die unter seiner Kuratel herangereift sind. Keiner verstand es so gut wie er, das Feuer der Begeisterung für die Musik in den jungen Menschen zu entfachen wie Professor Vasser. Aber das werden Sie ja bald selbst herausfinden."

    Der Professor legte hier eine Kunstpause ein und lehnte sich, amüsiert schmunzelnd, in seinem Sessel zurück.

    „Sie meinen …?", fragte Simon aufs Geratewohl, ohne den Satz wirklich zu Ende sprechen zu können. Er wusste nicht, was der Professor genau meinte, ihn beschlich jedoch eine Ahnung.

    Endlich öffnete Weinreb die Mappe und entnahm ihr ein Notizblatt. „Ich habe mir erlaubt, Ihnen die Nummer von Professor Vassers Schwester herauszusuchen. Sie wohnt immer noch in der Familienresidenz, in der sie auch damals, als Vasser noch lebte, mit ihm zusammen gewohnt hatte. Eine sehr nette alte Dame, die sich sicher freuen wird, sich mit Ihnen zu unterhalten. Um mit seinen Lehrerkollegen von damals zu sprechen, müssen Sie ja nur zurück an Ihre alte Schule gehen."

    Mit diesen Worten schob er ihm das Notizblatt über den Tisch. Hernach senkte der Professor seine Stimme ein wenig. „Wie bereits angedeutet, anlässlich seines zehnten Todestages finden einige Feierlichkeiten statt. Ein Musikpavillon, der seinen Namen tragen soll, wird eingeweiht, es werden Aufführungen seiner Stücke stattfinden …"

    „Er hat auch komponiert?", entfuhr es Simon.

    Weinrebs Augen blitzten kurz auf. „Aber natürlich hat er komponiert!  Zwar kein besonders umfangreiches Werk, da er ja leider viel zu früh verschieden ist, aber dennoch drei Opern, einige Sinfonien und, hm, jede Menge anderer Sachen. Ich bin nicht so bewandert in Sachen Musik, muss ich gestehen."

    Jetzt schmunzelte Simon. Weinreb war Altertumsforscher mit Leib und Seele, interessierte sich hauptsächlich für Kulturen, die schon seit Jahrtausenden nicht mehr existierten; kein Wunder, dass jemand wie er, der neben Altgriechisch und Aramäisch auch noch Sanskrit zu lesen vermochte, neben seinen Forschungen keine Zeit mehr gehabt hatte, sich auch noch ein umfangreiches Musikwissen anzueignen.

    „Ich möchte, dass Sie eine komplette Vita von Professor Vasser erstellen – mehr noch, eine Vita, das klingt so steif …" Der Professor schien kurz zu überlegen, blinzelte in die Luft, wie das so seine Art war. „Eine Laudatio!  Ja, man sollte genug Material für die ganzen anstehenden Festreden davon ableiten können, und natürlich für eventuelle Veröffentlichungen zu diesem Anlass. Sprechen Sie mit allen, derer Sie habhaft werden können und die mit Professor Vasser zu tun hatten, kontaktieren Sie ehemalige Studenten – was immer Sie tun müssen, um ein möglichst umfangreiches Bild seines Wirkens und Schaffens

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