Steine und Licht: Miniaturen
Von Bärbel Gudelius
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Steine und Licht - Bärbel Gudelius
Rot
Die Farben dieses Landes sind Rot. Viel unterschiedliches Rot. Wer es kennt, wer hindurchgefahren ist, wird vor allem das Blau wahrgenommen haben: das Blau des Himmels und der Seen; das Weiss der Schwäne und der riesigen Wolkenformationen; oder auf dem Grün bestehen, dem Metallschimmer des noch nicht ganz reifen Korns, dem intensiven Grün der Wiesen.
Aber unter all diesem Offensichtlichen liegt das Rot. Die Dome. Wer sie im Abendlicht sieht, das auf die roten Steine fällt, auf die gebrannten Ziegel, der kann es sehen: Krapp- und Magentarot, Scharlach-, Kupfer-, Korallenrot. Dieses Venetianerrot, Rubinrot, Himbeer- und Purpurrot, Türkisch- und Tizianrot, ein Rot wie Burgunder und Tomaten, wie Möhren und Johannisbeeren. Ein Rot in allen Schattierungen unter einer tiefstehenden Sonne, unter der es anfängt zu leuchten, zu glühen wie von innen heraus.
Die Dome der nordischen Backsteingotik sind Körper, sind Elementarereignisse aus Stein, aus tausenden von Steinen, mit der Hand gefertigt, in mittelalterlichen Brennöfen gebrannt, aufgeschichtet zu einem mystischen Gebirge in einem Land, das keine Hausteine verwenden konnte, das aus Erde Dome machte, das aus dem Glauben Gottesburgen machte; Manifestationen eines Glaubens und gleichzeitig von etwas, was in diesem Glauben eigentlich nicht vorgesehen war, ja sogar zurückgewiesen wurde von seinem Begründer, das erst im Laufe der Geschichte hinzugelegt wurde: Ausdruck von Macht.
Macht der Landesherren.
Macht der Hanse, Macht des Geldes.
Jene, die sie erbauten, hätten gesagt: Macht des Glaubens. Für sie war die Verbindung von Macht und Religion selbstverständlich. Es ist eine andere Art des Glaubens, für uns nicht mehr nachvollziehbar; ein vorsäkularer, ein unbedingter, kompromiss-unfähiger Glaube, der die Ringparabel eines Lessing mit tiefem Misstrauen betrachtet und mit einem Bücherverbot, wenn nicht mit einer Bücherverbrennung oder, schlimmer noch, mit einer Dichterverbrennung geahndet hätte.
Es sind Dome fast ohne Skulpturen. Ohne Kapitellfiguren, ohne Chimären, Teufelchen und Monster, ohne Erzählungen heiliger Geschichten in Stein, ohne Engel und Wasserspeier, und vielleicht hat dieses Fehlen mit dem Material zu tun.
Und dann leuchtet das Rot in den Backsteinen der kleinen Dorfkirchen. Die Ziegel sind das Füllmaterial für die Fachwerke aus schwarzen Balken, das Rot und das Schwarz bilden einen scharfen Farbkontrast und dennoch eine Einheit. Könnte man sagen: es ist schön? - ohne sich an diesem Wort zu stoßen, abgenutzt, wie es ist, fast unbedeutend geworden. Doch - sie sind schön, die Dome und die kleinen Kirchen, sie leuchten im Abendlicht und viele sind noch schön im Verfall, da vielleicht besonders.
Und Kreuze stehen vor manchen Dorfkirchen, schwarze schmiedeeiserne.
Eine kleine alte Kirche
Nun aber waren die Straßen wie Schluchten, tief eingeschnitten in die steinerne Landschaft der Stadt; die Häuser, eng zusammenstehend, warfen Schatten von Hauswand zu Hauswand, so war es fast kühl hier, und kaum Verkehr in dieser Mittagszeit. Und die kleine alte Kirche, achteckig, hingeduckt auf einem schmalen Platz zwischen den Straßen, eingesunken ins Erdreich unter dem Pflaster, sie war ein dunkles Gewölbe, in das man hinunter stieg auf ausgetretenen Stufen, die Dunkelheit wurde noch tiefer durch die kleinen Flammen der Kerzen und das Glühen der Ampel, Anwesenheit des Gottes. An den Wänden, im Licht der Kerzen kaum zu erahnen, die Heiligen, strenge, aufrechte, mahnende Figuren auf alten Bildern; ein schwarzes Gesicht, gefasst in Silber, das einen matten Schein aussendet, unter Glas, geküsst von hilflosen Lippen.
Maria, Panagia, die Menschenfrau, die den Gottessohn geboren hat. Fürbitterin vor dem Thron des Herrn, alles verstehend, vor allem die Nöte und Schmerzen der Frauen. Sie, die Gottesgebärerin, weiss um das irdische Elend, denn sie hat das größte Leid erfahren, die schreckliche Hinrichtung ihres Kindes. Ihr kann man alles anvertrauen, das Elend des Alltags, die Angst, die Ausweglosigkeit, alles, auch das, was man niemals laut sagen kann, zu niemandem.
Die Kerzen flackern in einem Luftzug, der nicht zu spüren ist. Nun haben sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, ich gehe mit den alten Frauen leise von Bild zu Bild, immer nur halb treten die Figuren aus dem Dunkel, aus den Wänden hervor, mit ihren Kronen und mit Juwelengefunkel, auf Goldgrund und mit segnender Gebärde; mit großen, schwarz umrandeten Augen, mit Blicken wie aus einer Ewigkeit herüberreichend, den Betrachter betrachtend. Oder ein Engel mit Flügeln wie Flammen, in der Rechten das erhobene Schwert des Gerichts.
Christos Pantokrator.
Da sind keine Körper, nur Gewänder. Sie lächeln nicht; sie schauen ernst und streng aus ihrem Bild heraus in eine unbestimmte Ferne. Manchmal scheint es, als höben sich ihre Gewänder ein wenig und es geschähe eine leichte Drehung, so als machten sie einen Schritt aus ihrer Hoheit heraus. Aber nur für einen Moment - im Flackern der Kerzen.
Wundertätige Bilder -.
Inbrunst, gemurmelte Gebete oder stummes Flehen, ein sanfter Teppich aus Gebeten, schwebend wie der Weihrauch aus silbernem Räuchergefäß. Und leises Scharren der Schritte über jahrhundertelang abgeschliffenen Stein.
Beim Hinaustreten das Licht, klar, hart, durchsichtig, golden, das die Hauswände und die Schatten der Hauswände und die Dächer scharf absetzt gegen den weißglühenden Himmel - beim Hinaustreten die krumme ausgestreckte Hand der alten Frau vor der Kirchentür, in die schnell und schamhaft der Schein gelegt wird, wie ein Loskauf -
Die weltabgewandte Seite des Gesichts
Als Hernán Cortez im Jahre 1519 seinen Fuß auf mesoamerikanischen Boden setzte, als er sich dem Land zu- und vom Meer abwandte, als er befahl, die Schiffe, die dort draußen ankerten, zu verbrennen - wußte er, wo er war? Und die sechshundert Seeleute, die Velázques ihm auf diese Expedition mitgegeben hatte, die sahen, wie ihre einzige Verbindung zur Heimat gekappt wurde, der einzige sichere Boden unter ihren Füßen, den sie kannten, die Schiffe, auf denen sie, beladen mit Gold, zurückkehren wollten - was empfanden sie angesichts der lodernden und ins Meer sinkenden Karavellen?
Es gibt keine historischen Tatsachen; es gibt nur Deutungen. Geschichte ist eine Geschichte von Deutungen; jedoch verbirgt sich unterhalb der berichteten Ereignisse eine andere Dimension, eine verborgene Realität, ein dunkler subhistorischer Strom, der Anderes mit sich trägt und transportierrt als Jahreszahlen, Königskrönungen, Königsmorde, Revolten und Revolutionen: Wünsche, Sehnsüchte, Erinnerungen. Sie alle gehen in die Deutungen ein.
Cortez hatte ein Land vor sich, von dem er nur wenig wußte. Er kam von Kuba: es gab einige Berichte von Spaniern, die bereits auf dem Festland gewesen waren; sie waren eher dürftig. Cortez gründete den Stützpunkt Veracruz, drehte sich um und marschierte los. Das heißt, er ritt natürlich.
Sie trafen bei den Azteken auf ein Volk, das seinerseits aus Eroberungen hervorgegangen war und spätere Berichte, zum Beispiel der Codex Florentino, rühmten die sittliche Grundhaltung der Mexica, die Erziehung zu Arbeitsamkeit, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Takt, Klugheit, Mut - kurz, den Christen durchaus bekannte Eigenschaften sowie die Verachtung von Faulheit, Nachlässigkeit, Unzuverlässigkeit und Unaufrichtigkeit, Betrug und Diebstahl. Die Erkenntnis dieser Sittlichkeit führte bei den Eroberern zu Irritationen, vielleicht sogar zu Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Conquista.
Aber es gab da etwas, etwas Entsetzliches, das diese Zweifel wieder aufhob und die Unterdrückung, die Ausbeutung und Ausrottung der indigenen Völker zu rechtfertigen schien: die Menschenopfer, die dunkle Seite der aztekischen Kultur. Die Azteken jedoch hielten diesen Opferkult nicht nur für absolut zulässig, sondern für unverzichtbar und hätten Kritik daran überhaupt nicht verstanden. Denn es ging um die Ordnung der Welt, es ging darum, die Welt zusammen zu halten, das Chaos nicht herein zu lassen in die Gesellschaft, die Götter konnten bedrohlich sein, sie konnten den Untergang der Welt herbeiführen und so war es notwendig, sie zu beschwichtigen, ihren Blutdurst zu stillen, lebenden Menschen das Herz aus dem Leibe zu schneiden. Verwendet wurden dafür Sklaven und Kriegsgefangene und die Azteken führten ihre Kriege, die wohl eher Raubzüge waren, genau zu dem Zweck. Auch Kinder wurden geopfert durch Einmauern und Ertränken.
Diese Bräuche dienten letztlich zur Rechtfertigung der Eroberung und Versklavung der indigenen Völker durch die christlichen Eroberer, wobei sie, wie vermutlich alle ihre Zeitgenossen und wie fast alle Menschen zu allen Zeiten, keine Parallele zu ziehen fähig waren zwischen den Menschenopfern auf den Altären und den Opfern, wir benutzen das Wort immer noch und gerade hier, die ein Krieg fordert, und so ausgedrückt, scheint der Krieg ein Gott zu sein, der Opfer genauso fordert wie Huitzilopochtli.
In Tlatilco schufen Töpfer Totenmasken, die zur Hälfte das Gesicht eines Lebenden und zur anderen Hälfte das eines Toten zeigte. Sind nicht Leben und Tod zwei Seiten einer einzigen Wirklichkeit? und haben diese Menschen das verstanden? Der Opfertod wurde „Blumentod" genannt - ein genauso ehrenvoller Tod wie der auf dem Schlachtfeld; ein natürlicher Tod durch Krankheit oder Alter wurde als nicht ehrenvoll betrachtet. Auch das ist etwas, was uns nicht ganz fremd ist; wir glauben heute, es überwunden zu haben, aber ist das so?
Vor mir liegt die Fotografie einer Skulptur: ein oltekischer Steinkopf. Der fast runde Kopf hat zwei Hälften: die rechte Seite zeigt das Gesicht eines Menschen, ein schmales, sichelförmiges Auge, eine halbe Nase einen halben Mund, eine Wange. Die linke Hälfte des Gesichts ist nicht herausgearbeitet; aber der Stein ist auch nicht grob belassen, sondern geglättet, sodaß sich diese Seite wie eine Maske vor das halbe Gesicht zieht. Diese Glättung und die Anpassung des Steins an die Rundung des Kopfes zeigt, dass es keine halbfertige Arbeit ist, sondern etwas, was den Totenmasken in Tlatilco entsprechen könnte: das halbe Gesicht des Menschen. Denn die andere Hälfte ist weltabgewandt, nicht sichtbar, einem Reich zugewandt, von dem wir nichts wissen, auch meist lieber nichts wissen wollen.
Aber jene Menschen haben etwas davon verstanden, dass der Tod die andere Seite des Lebens ist. Er war so sehr ein Teil ihres Lebens, dass sie es ausdrücken konnten in einem halben Gesicht.
Und hat der Schrei „Viva la muerte" der spanischen Faschisten vielleicht etwas damit zu tun, dass aus diesem indigenen Bewußtsein etwas übergegriffen hat auf den Eroberer?
Die Wahrheit des Lebens ausdrücken
Die Fahrt ging nach Norden, vom Finnischen Bahnhof aus. Wir ließen die Stadt hinter uns, die Megastadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Straßen wie Kanäle und ihren Kanälen wie Straßen, mit ihren Hinterhöfen und Kaufhäusern, ihrer klassizistischen Strenge und den Golddächern der Basiliken, mit ihren U-Bahn-Schächten und Rolltreppen. Wir fuhren nach Norden, eine Fahrt von einer knappen Stunde; die elektritschka war voll, fliegende Händler mit Plastiktaschen, die ihre kleinen, transportablen Waren anpriesen, Musikanten, die traurige russische Weisen auf ihrem Akkordeon spielten und in ihrer Mütze Geld einsammelten, um dann in den nächsten Wagen weiterzuziehen - marginale Existenzen, wie leben solche Leute?
Dann lagen auch die Vororte hinter uns, das Land begann. Nicht sofort, die elektritschka fuhr nicht schnell, allmählich erschienen die Birken, vereinzelt zunächst, dann in kleinen lichten Wäldchen, sie spiegelten sich in moorigen Tümpeln, hier konnte man sehen, worauf St. Petersburg gebaut worden war, auf schwarzem schwankendem Grund, auf Moor und Sumpf.
Und auf den Knochen von Tausenden von Leibeigenen, von adligen Herren dem Zaren zur Verfügung gestellt, die seit 1703 in wenigen Jahren die Wälder der Umgebung in die Sümpfe trieben, auf dass Peter I. sein Tor nach Westen öffnen konnte. Peters Denkmal, der Reiter auf dem steigenden bronzenen Hengst, so berühmt wie er selbst, der mit ausgestrecktem Arm nach Westen deutet, steht an der Newa. An die Leibeigenen erinnert nichts.
Kleine Bahnhöfe, Stationsschilder in einer fremden Schrift. Dennoch stiegen wir richtig aus: Repino. Zwei blutjunge Polizisten, die sich offensichtlich langweilten und entzückt waren, uns weiterzuhelfen, wiesen uns, mit der Sprache der Hände und unsererseits dem Verstehen einiger russischer sowie internationaler Wörter wie ‚Bus‘ den Weg zur Bushaltestelle. Drei Stationen, und da waren wir: im Haus des Malers Ilja Repin. Heute Museum.
Es ist ein sehr eigentümliches Haus, Repin hat es selbst entworfen, oder vielmehr: er hat es wie ein Schneckenhaus um sich herum gebaut. Ich habe keinen Grundriss; einzig daraus könnte man die Struktur dieses Hauses erkennen: man tritt vom Flur aus, nachdem man Filzpantoffeln übergezogen hat, in einen Wohnraum, an den ein kleines Zimmer grenzt, eine Garderobe oder ein Dienerzimmer; die Wohnräume der Familie liegen hinter diesem ersten Raum hintereinander, in einer Art von Rundbau, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, eine vorgebaute verglaste Veranda, das Esszimmer.
Man darf nicht