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Verliererballaden: 6 Kurzgeschichten
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Verliererballaden: 6 Kurzgeschichten
eBook167 Seiten2 Stunden

Verliererballaden: 6 Kurzgeschichten

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Über dieses E-Book

6 überaus faszinierende Kurzgeschichten über die Tragik des Lebens, der Liebe und des Todes. Mit viel Wortwitz und Ironie wird hier über das Scheitern der Figuren in ihrer jeweiligen Lebenssituation erzählt. Und wenn diese dann den Bezug zur Realität verlieren, entführt das auch den Leser in eine phantastische, oft surreale Welt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Juni 2016
ISBN9783738073041
Verliererballaden: 6 Kurzgeschichten

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    Buchvorschau

    Verliererballaden - Norbert Krabs

    Danksagung

    Ein besonderer Dank gebührt Vera für all die logistische und moralische Unterstützung, sowie meinem Freund Jörg für jede Menge hilfreicher Kommentare und die erhellende Erkenntnis, dass ich nicht der Einzige bin, für den Kommaregeln ein Buch mit sieben Siegeln sind.

    Tür an Tür… oder: Wer ist Alice?

    Gregor Wollwinkel hatte ein Mauseloch in der Wand hinter seiner Lieblingskommode entdeckt.

    Der gerechte Zorn, der ihn daraufhin überkam war von derart makellos reiner Gerechtigkeit, dass er sich ohne Mühe über alle anderen profanen, irdischen Gefühle erhob. Selbst über den Schmerz in seinem großen Zeh, der durch einen unbedachten Tritt gegen die Fußbodenleiste an eben der Stelle, an der sich das Loch befand verursacht worden war. Unbedacht aus dem Grunde, dass ihm offenbar für einen kurzen Moment entfallen war, dass er Strumpfsocken trug. Keine Schuhe. Eine Angewohnheit, die schon vor langer Zeit zu einem integralen Bestandteil seines Selbst geworden war: Gregor trug in seinem Schlafzimmer niemals Schuhe.

    Möglicherweise war der Zeh gebrochen. Man würde ihn röntgen müssen. Und vorher der Nachbarin, die gerade an der Tür klingelte erklären, dass trotz der Schmerzensschreie, der Flüche, der von Wut, Pein und Scham geröteten Augen und des Speichels, der ihm vom Kinn tropfte alles in Ordnung war. Eben nur ein Mauseloch.

    Warum er die Lieblingskommode von der Wand weggerückt hatte? Nun, das tat er gelegentlich. Um die Briefe einzusammeln und im Waschbecken in seiner Küche zu verbrennen. Jene Briefe, die er Abend für Abend an Alice schrieb, in denen er seine unsterbliche Liebe zu ihr gestand, die abzuschicken er sich aber niemals traute. Statt sie in den Schlitz eines Briefkastens zu werfen, steckte er sie in den schmalen Zwischenraum zwischen seiner Kommode und der dahinter liegenden Wand. So lange bis dieser verstopft war. Dann war es wieder an der Zeit für eine rituelle Verbrennung. Seine Papiergewordenen Gefühle verwandelten sich zunächst noch einmal in gleißendes Licht, dann in Rauch, und schließlich in Nichts. Und Alles begann von vorne.

    Das Mauseloch war beim letzten Mal noch nicht da gewesen. Vielleicht war es aber auch und er hatte es einfach nur übersehen. Blind vor Liebe.

    „Oh, hallo Alice!"

    „Alles in Ordnung bei Dir? Ich habe durch die Wand Schreie gehört."

    „Nein, nein. Alles in Butter. Ich habe mir bloß den Zeh gestoßen. Tut asig weh!"

    „Kann ich irgendetwas für dich tun?"

    Wie gerne wäre er in der Lage gewesen ihr in die Augen zu schauen und einfach „Ja! zu sagen. Stattdessen starrte er linkisch ihre Knie an, fühlte das Blut in seinen von Verlegenheit geröteten Ohrmuscheln pulsieren und stammelte: „All… alles roger! Aber danke, dass du fragst. Ich komme klar. Du hast nicht zufällig eine Mausefalle dabei?

    „Eine Mausefalle? Nein, natürlich nicht!"

    „Nein, natürlich nicht. Wie dumm von mir. Also dann, gute Nacht!"

    „Mach’s gut!"

    Eine weitere verpasste Chance.

    In dem Moment, da er die Tür schloss, einen letzten sehnsüchtigen Blick auf Alice’ langes, glattes Haar, die schmale Taille, ihren anbetungswürdigen Po, wurde ihm schlagartig bewusst wie erbärmlich und heruntergekommen er eigentlich wirken musste. Schlabberige Jogginghose, verwaschenes Sweatshirt, darüber eine Strickjacke mit ausgefranstem Ärmelsaum. Zu Hause fühlte er sich so am wohlsten. Das Herz seiner Angebeteten gewann man auf diese Weise aber wohl eher nicht. Er spürte, wie ihm erneut die Schamesröte ins Gesicht schoss. Wenn er sich schon den Zeh brach, warum konnte er sich vorher nicht wenigstens anständig anziehen?

    Nur ein weiterer Eintrag in der langen Kladde, die seine Unzulänglichkeiten dokumentierte.

    Alice war fett! Unbestreitbar. Jeder Spiegel in jedem Zimmer fand sie fett. Ihr Schatten an der Wand war fett. Zu jeder Tageszeit. Gegen Abend, wenn die Sonne am Himmel sank wurden die Schatten anderer Leute länger und dünner. Ihr Schatten blieb fett.

    Alice hatte einen dicken Arsch, unförmige Oberschenkel, schwabbelige Arme und einen Hängebauch. Nur Titten hatte sie nicht.

    Und ihre Waage log!

    Die Neue sogar noch mehr als die Alte. Die alte Waage hatte sie aus Wut über deren Illoyalität auf die Gleise der Bahnstrecke gelegt. Sollte sie doch mal einem ICE erzählen was er wiegt!

    Danach hatte sie das tagelang bereut und beinahe stündlich auf ihrem Smartphone gecheckt, ob nicht irgendwo ein Zug entgleist war. Erst langsam war sie wieder ein bisschen zur Ruhe gekommen.

    Sie würde sich keinesfalls noch einmal eine Waage anschaffen.

    Die neue Waage war deshalb eines Tages auch einfach so da und stand neben der Badewanne. Weder eingeladen noch erwünscht. Genau an der Stelle, an der die alte schon gestanden hatte. Außerhalb des Blickfeldes jedes der zahlreich in der Wohnung verteilten Spiegel. Ein gleichzeitiger Blick in einen solchen und auf das Display der Waage hätte diese nur als noch größere Lügnerin entlarvt und den Alice umhüllenden Hass auf die Welt ins Unerträgliche gesteigert.

    Sogar Gregor, ihr Nachbar, schüchtern und wahrscheinlich nicht all zu helle, selbst fürwahr kein Adonis aber irgendwie süß in seiner unbeholfenen Tapsigkeit, fand Alice fett und hässlich. Er hatte sich ihr gegenüber zwar nie in diese Richtung geäußert, überhaupt sprachen sie nur selten, und wenn dann kurz, aber sie spürte es jedes Mal wenn sie sich im Treppenhaus begegneten.

    Liebe Alice,

    ist Dir eigentlich bewusst, ich meine genauso schmerzlich bewusst wie mir, dass wir schon lange nicht mehr gemeinsam draußen an den Teichen waren? Tretboot fahren, den Sommernachmittag müßig auf der Wiese in der Sonne sitzend einfach verplaudern?

    Wie sehr ich es vermisse Deiner Stimme zu lauschen, während sie Deine Träume vor unseren nackt im kühlen Gras ruhenden Füßen wie bunte Tücher ausbreitet. Dein helles Lachen, wenn ich mal wieder einen faden Witz reiße.

    Wir könnten dort auch Minigolf spielen. Haben wir das überhaupt schon einmal getan? Nun, da ich meine Erinnerung befrage, befallen mich Zweifel. Obwohl ich ein klares, konkretes Bild vor meinem geistigen Auge erscheinen lassen kann. Weit mehr als eine Erinnerung: Du, Alice, in einem leichten, hellen Sommerkleid, blau, nein fast schon ein wenig ins Türkis spielend. Ein weißer Gürtel mit einer Schnalle in Form eines Notenschlüssels. Der silberne Metallschläger senkrecht vor deinem Körper, ein die Sonnenstrahlen reflektierendes, gleißendes Lot, leicht pendelnd, vor und zurück. Dein konzentrierter Blick auf den garstigen, pockennarbigen kleinen Ball gerichtet, der nie genau dort hinrollt wo Du es eigentlich willst.

    Nein, wir haben noch nie gemeinsam Minigolf gespielt. Aber wir könnten!

    Genauso, wie wir vielleicht eines Tages einmal Tretboot fahren, oder auf einer Wiese in der Sonne sitzen könnten. Draußen an den Teichen. Wenn der Winter erst einmal vorbei ist.

    In Liebe,

    Gregor

    Es war Zeit für seinen Tee.

    Ein heißer, ungesüßter schwarzer Tee war an manchen Tagen das Beste um ihn mit dem Leben zu versöhnen. Auch wenn der angeblich die Zähne fleckig macht. Er putzte sie daher nach jeder Tasse. Was gut zum Tee passte waren Salzcracker. Und manchmal ein Stück Käse. Gregor war eher der deftige Typ. Süßigkeiten waren sein Ding nicht.

    Sorgsam schnitt er ein kleines Eckchen von seinem Käsestück ab, zerbröselte einen Cracker in seiner Handfläche und ließ alles in den Spalt zwischen der Lieblingskommode und der Wand rieseln. Er hatte sie nicht wieder bis ganz zurück geschoben. Das hatte zwei Gründe: So bot sich mehr Raum für seine Briefe, denn er hatte sich vorgenommen Alice noch intensiver zu umwerben. Nach dem Vorfall neulich Abend hatte er beschlossen sein Leben völlig umzukrempeln. Keine verpassten Chancen mehr!

    Außerdem hatte die Maus es so bequemer.

    Das Mauseloch befand sich in der Trennwand zwischen seinem Schlafzimmer und der dahinterliegenden Nachbarwohnung. Alice’ Wohnung. Welches ihrer Zimmer sich dort befand wusste er nicht. Er hatte noch nie die Gelegenheit gehabt sie zu besuchen. Dass es sich möglicherweise ebenfalls um ihr Schlafzimmer handeln könnte, wagte er kaum zu träumen.

    Jedenfalls stellte dieses Loch eine Verbindung dar, die weit über alles Metaphorische, die reine Idee der sphärischen Konjunktion zweier einander liebender Seelen, hinausging. Sie war physisch!

    Das war ihm klar geworden nachdem der Schmerz in seinem Zeh ein wenig nachgelassen hatte. Vielleicht hatte die Maus sich einen zweiten Ausgang auf der anderen Seite der Wand genagt. Dann atmete er jetzt dieselbe Luft, die Alice dort atmete. Wären sie erst einmal ein Liebespaar, könnten sie sich jeden Abend durch den Durchbruch in der Wand hindurch „Gute Nacht!" sagen. Auch wenn er dafür die Kommode beiseite rücken, und Alice möglicherweise unter ihr Bett krabbeln musste.

    „Du hast es gut!" Alice saß schwer atmend auf der Armlehne des Sofas und rieb sich den schmerzenden Knöchel. Vor ihren Füßen lagen kreuz und quer verstreut mehrere Bücher. Teils neben-, teils aufeinander, aufgeschlagen auf dem Rücken, das eine oder andere mit den Seiten nach unten. Zum Glück stand das Regal noch. Auch Alice selbst hatte einen Sturz gerade so vermeiden können. Aber sie war heftig mit dem Fuß umgeknickt und hatte sich obendrein das Knie an der Ecke des Couchtisches angeschlagen.

    „Du hast es wirklich gut!" Der automatische Bodenstaubsauger, mit dem sie sprach antwortete nicht sondern ging, unbeirrt vor sich hin summend, seiner Arbeit nach. Allerdings machte er um die auf dem Teppich verteilten Bücher einen respektvollen Bogen. Sie und ihr kleiner Saugrobotter arbeiteten immer gemeinsam. Er übernahm die Fußböden während sie sich um die Fenster, die Flächen außerhalb seiner Reichweite und alles wozu man Wasser und Putzmittel benötigt kümmerte. Sie waren ein richtiges Team.

    Beim Abwischen der Regalbretter war Alice in einer der oberen, hinteren Ecken einer Spinne gewahr geworden. Vor Schreck hatte sie einen hastigen Hüpfer rückwärts getan, an eben jene Stelle, an der ihr kleiner elektronischer Mitstreiter gerade mit ein paar besonders renitenten Staubfusseln beschäftigt war. Da dieser, ob des plötzlich von oben auf ihn einwirkenden physikalischen Impulses ebenfalls verschreckt, einen veritablen Satz zur Seite tat, verloren Beide für einen Moment das Gleichgewicht. Und das Bücherregal, nach Alice’ verzweifeltem Griff auf der Suche nach Halt, beinahe mit ihnen.

    Der Staubsauger hatte die Sache offenbar von allen Dreien am schnellsten wieder weggesteckt und nahm nach einer kleinen irritierten Pause, in der er vermutlich die Funktionsfähigkeit seiner elektronischen Schaltkreise überprüfte unverdrossen seine Tätigkeit wieder auf.

    „Du kennst keinen Schmerz, fühlst dich nie einsam, ratterst hier einfach so rum und hast keine Probleme."

    „Keine Probleme? Was ist mit meiner Hausstauballergie?"

    „Weißt du was? Ich könnte ein Bier vertragen. Willst du auch eins?"

    „Danke. Aber ich habe noch zu arbeiten. Außerdem trinke ich vormittags keinen Alkohol."

    Wie verzweifelt musste man sein um sich von einer elektronischen Haushaltshilfe ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen? Bier machte dick. Aber es war auch gut gegen den Hunger. Und es kam viel einfacher wieder hoch als feste Nahrung.

    Alice’ Entscheidung stand felsenfest! Sie würde in eine andere Stadt ziehen. Ein neues Leben. Hier hielt sie nichts mehr.

    Seit vierundzwanzig Jahren lebte sie in diesem Scheißkaff. Und was war aus ihr geworden? Sie kam sich vor wie ein von Rost zerfressenes Kinderdreirad, entsorgt am Ende einer öden Sackgasse.

    Sie würde nichts von all’ dem hier vermissen. Außer ihren Nachbarn vielleicht.

    Er war weder attraktiv noch sportlich noch in irgendeiner Weise eloquent. Ihn charmant zu nennen wäre deutlich an der Realität vorbeigegangen. Eigentlich erinnerte er sie immer ein wenig an einen zerzausten, durchnässten Stoffteddybär, dem eines seiner schwarzen Knopfaugen fehlt. An seiner Stelle ein loser, brauner Faden. Der Bär Gregor lag ganz zu oberst auf dem Hausmüll unter dem schwarzen Deckel der Abfalltonne, die schon für den Abtransport am nächsten Morgen bereitstand. Auch ihn hatte irgendein verwöhntes Gör, das längst neues Spielzeug besaß, achtlos aussortiert und kurzerhand dort deponiert.

    Diesen Nachbarn würde sie möglicherweise ein wenig vermissen.

    Vormittag, Mittag, Abend?

    Die Angewohnheit die moralische

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