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Schatten auf meiner Seele: Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie
Schatten auf meiner Seele: Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie
Schatten auf meiner Seele: Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie
eBook287 Seiten4 Stunden

Schatten auf meiner Seele: Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie

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Über dieses E-Book

Die Geschichte, auch wenn sie zunächst verdrängt und verschwiegen wird, lebt in den Nachkommen weiter. Diese Erfahrung musste auch Jens Orback machen: Ein unerklärliches Grauen suchte ihn heim, er litt unter Panikattacken. Vage wusste er, dass seine Ängste etwas mit seiner Mutter zu tun hatten. Doch es dauerte lange, bis er herausfand, dass es die langen Schatten des Zweiten Weltkriegs, der Vertreibung aus Pommern waren, die dunkel über seiner Familie lagen.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum15. Juli 2015
ISBN9783451803765
Schatten auf meiner Seele: Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie

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    Buchvorschau

    Schatten auf meiner Seele - Jens Orback

    Jens Orback

    Schatten auf

    meiner Seele

    Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte

    seiner Familie

    Aus dem Schwedischen

    von Regine Elsässer

    Herder Logo

    Impressum

    Titel der Originalausgabe:

    Medan segern fi rades – min mammas historia

    Published by Bokförlaget Natur och Kultur, Stockholm 2007

    © Jens Orback

    Für die deutschsprachige Ausgabe:

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Karten und Stammbaum: © Stig Söderlind

    E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (E-Book) 978-3-451-80376-5

    ISBN (Buch) 978-3-451-31267-0

    Die Steine

    Die Steine, die wir geworfen, höre ich

    fallen, glasklar durch die Jahre.

    Dort fallen

    all unsre Taten

    glasklar

    auf keinen andern Boden

    als uns selbst.

    Tomas Tranströmer: 17 Gedichte

    Übertragung

    WANN GENAU DIE GESCHICHTE meiner Mutter ein Teil von mir wurde, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an einen Morgen, der bestimmt zwanzig Jahre zurückliegt. Ich lag im Bett in unserem Sommerhaus an der schwedischen Ostküste, in Grisslehamn. Das unangenehme Gefühl, das ich beim Aufwachen empfand, ging in eine Art Panik über, es war, als fiele ich in einen Abgrund, und ich wusste nicht, wie weit ich noch fallen würde. Als würden sich ständig weitere Schichten öffnen – ins Bodenlose.

    Dieses Gefühl kam immer wieder. Es war wortlos übertragen worden, und genau das machte es mir vermutlich so schwer, mich dagegen zu wehren. Ich wurde in etwas hineingezogen, womit ich nicht umgehen konnte, ich konnte es nicht in Worte fassen, aber es war etwas in meiner Mutter, das jetzt in mir war.

    Das, was geschehen und verdrängt worden war, rumort in ihr und wird vielleicht ebenso mich und meine Kinder formen. Wie ein schwarzes Loch, ein verloschener Stern, von dem unsichtbare Fäden ausgehen.

    Kann das möglich sein? Gibt es in der Geschichte dünne Fäden, die sich über die Generationen hinweg spinnen und schließlich jemanden einschnüren können, der glaubte, frei zu sein? Das sind meine Überlegungen, und ohne zu wissen, was das Geheimnis ist oder wohin es mich führt, bin ich mir sicher, dass der einzige Weg aus diesem schwarzen Loch ist, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Mein Großvater Fritz sagte immer: »Die Sonne bringt es an den Tag.« Aber wenn man 1946 die britische Zone erreicht hatte, musste man nach vorne schauen, und über das, was hinter einem lag, wurde nicht gesprochen.

    Und warum sollten die, die in die britische Zone kamen, davon erzählen? Sie waren Deutsche, und im Unterschied zu vielen anderen waren sie am Leben.

    Gewiss, ein paar Erinnerungen aus der Kindheit meiner Mutter sickerten durch. Anlass war meistens eine vertraute Körperhaltung, ein Lied im Radio oder eine Bemerkung darüber, was jemand getan hatte oder nicht hätte tun sollen.

    Aber die Geschichten meiner Mutter gingen nie weiter als bis zum 13. März 1945. Wenn sie erzählt, dass russische Soldaten die Tür zu ihrem Haus eintreten und sie ihrem Vater den grauen Mantel über die Schultern legt, bricht ihre Stimme. Und ich will nicht weiter fragen. Ein Sohn will nicht wissen und nicht sehen, wie die Mutter ihr Gesicht in den Händen verbirgt.

    Aber ich muss mehr aus ihr herauslocken. Sie muss mir sagen, wovor ich mich fürchte. Für diese Aufgabe bin ich eigentlich nicht sehr gut geeignet. Es wird eine Reise mit unsicherem Ausgang.

    ICH HABE NIE GESEHEN, dass meine Mutter am Morgen im Bett liegen blieb, und schon gar nicht habe ich sie sagen hören, sie sei krank oder fühle sich nicht wohl. Denn sie hatte sich in einer eiskalten Nacht vor siebzig Jahren auf einer Pferdekoppel geschworen, nie mehr zu jammern, wenn sie sich noch einmal an Brot satt essen könnte.

    Es gehörte sich nicht zu jammern, und es gehörte sich nicht, krank zu sein. Und wenn man doch mal krank war und zwischendurch noch lachen konnte, dann war man nicht richtig krank. Wenn man sich der Schwäche nicht stellen wollte, konnte man sie ignorieren oder sich wegducken, wenn sie einen selbst betraf. Als könnte man dem Schmerz entgehen, wenn man ihn nicht beachtet.

    Diese Art der »Schonung« zeigten meine Eltern mir und meiner kleinen Schwester, wenn sie in Richtung Deutschland aufbrachen, während wir noch schliefen. Meine kleine Schwester musste so nicht mit ansehen, wie sie davonfuhren, aber sie hatte manchmal Angst, abends ins Bett zu gehen, weil sie nicht sicher sein konnte, dass die Eltern beim Aufwachen noch da waren.

    Für viele Menschen aus der Generation meiner Mutter scheint das Schweigen zum Leben zu gehören. Was würde es helfen, über das zu sprechen, was wir schon wissen? In meiner eigenen Generation ist es oft genau umgekehrt. Indem wir uns der Angst stellen, können wir etwas gegen sie unternehmen. Wir wollen uns nicht mehr als Sklaven fühlen unter der Macht der Angst. Was erheblich leichter gesagt als getan ist. Für meine Mutter war ihre Kindheit, genau wie für viele andere, völlig normal. Sie hatte keine andere. Als sie erwachsen war, ging ihre Gleichung so auf, dass sie das Leiden gegen die Schuld aufwog. Sie glichen sich aus, und man brauchte sich nicht mehr damit zu beschäftigen.

    Als ich meine Mutter mit der Vergangenheit konfrontierte, antwortete sie kurz, dass alles falsch war. Aus welcher Perspektive auch immer. Ihre Kindheit wurde von der Flagge mit Hakenkreuz überschattet. Eingeklemmt zwischen Henker und Opfern sitzt sie an einem Platz, den sie vielleicht einmal für neutral hielt und den sie ignorieren konnte.

    Ich möchte sie trösten. »Du warst doch noch ein Kind, als Hitler an die Macht kam.« Sie nickt still, und ich glaube, dass sie denkt: Ich war ein Kind, aber was haben die Erwachsenen um mich herum getan? Und dann denke ich: Was hätte ich getan, wenn ich damals gelebt hätte? Dieser Gedanke taucht oft auf. Wäre ich ein »netter« Nazi geworden? Einer, der nicht von der Ideologie überzeugt war, sich aber dennoch anschloss und ausführte, was man von ihm erwartete? Die Fragen liegen auf der Lauer, und manchmal wünsche ich mir, dass meine Mutter aus einem Konzentrationslager befreit worden wäre oder dass sie zumindest einen Vater gehabt hätte, der nachweislich aktiv Widerstand geleistet hat.

    Ich habe mich nie sehr für den Zweiten Weltkrieg interessiert. Ich hegte sogar eine leise Verachtung für jene, die sich, wie ich fand, in den Details des Krieges suhlten, wo es doch hier und heute so viel zu tun gab, ehe unsere eigene Zeit zu einem historischen Faktum wurde. Da wusste ich noch nicht, dass die Geschichte kein Faktum ist und dass sie sich weiterbewegen kann.

    Der Teil des Krieges, der meine Mutter traf, ist in einem von vier Büchern beschrieben, die seit langem ungelesen in unserem Bücherregal stehen und die ich jetzt in mein Büro mitgenommen habe. In dem monumentalen Werk in vier Bänden heißt der letzte Teil des Krieges schlicht Der Sieg.

    DIE LAMPEN SCHWEBEN wie Planeten über dem Riddarfjärden, als Katja zweiundzwanzigjährig an einem Septemberabend 1949 am Hauptbahnhof in Stockholm ankommt. Sie ist frei, glaubt sie, frei von allem, was war.

    Die Familie in Bromma, wo sie putzen, kochen und sich um die Kinder kümmern soll, stellt keine Fragen über das Land, aus dem sie stammt. Das »Tausendjährige Reich«, das schon nach zwölf Jahren zu Ende war. Und über ihre Kindheit, die mit Hitlers Zeit an der Macht zusammenfiel, weiß sie fast nichts mehr, und so soll es auch sein in Schweden. Sie möchte nach vorne schauen.

    Obwohl ihr Magen und ihre Zähne nicht mit der neuen Kost zurechtkommen, ist es fantastisch, in einem Land zu sein, wo alle sich offenbar mehrmals am Tag satt essen können und wo man keine Angst zu haben braucht, etwas Falsches zur falschen Person zu sagen. Sogar die kleinen Kinder, die sie betreut, widersprechen ihren Eltern. Obwohl sie Heimweh nach ihrer eigenen Familie hat, will sie bleiben.

    Katja ist eines von vielen deutschen Mädchen, die nach dem Krieg in Schweden eine Arbeit als Haushaltshilfe finden wollten. Schon als sie das Kindergärtnerinnenseminar in Lübeck besuchte, wusste sie, dass es schwer sein würde, in Deutschland eine richtige Arbeit zu finden, die sie ernähren würde. Zu Beginn des letzten Semesters fragte ihre Lehrerin, die über die Kirche internationale Kontakte hatte, ob es Mädchen gäbe, die nach Schweden fahren wollten. Die Reaktion war positiv, und die Lehrerin setzte eine Anzeige in die Zeitung Dagens Nyheter.

    Nach einigen Monaten im neuen Land traut Katja sich, mit Freundinnen auszugehen. In einem Café auf der Kungsgatan essen sie Kopenhagener, es werden Schlager gespielt, einige Melodien kommen ihr bekannt vor. Jeden Mittwochabend tanzen sie im Skansen. Die jungen Männer müssen fünfundzwanzig Öre bezahlen, aber für die Mädchen ist der Tanz umsonst, und wenn die Musik vorbei ist, gehen sie Arm in Arm den ganzen Weg zu den großen Villen in Bromma zurück.

    Katja lernt die neue Sprache schnell, weil sie viel mit den Kindern redet. Es geht viel schneller als damals, als ihr Vater, der auch ihr Lehrer war, ihr Französischunterricht mit Schwerpunkt in Grammatik gab. Nach ein paar Jahren beherrscht sie die Sprache und bewirbt sich am Kindergärtnerinnenseminar, um ihre deutsche Ausbildung zu vervollständigen. Sie erhält bald eine Praktikumsstelle in Älvsjö.

    Eines Abends stellt eine Freundin ihr einen ungewöhnlichen Mann in einem eigenartigen Teddymantel vor. Er lädt sie in seine Bude ein, da hat er Bilder an die Decke gehängt, damit er sie vom Bett aus anschauen kann. Katja weiß nicht so recht, was es ist, aber schon am ersten Abend hat sie sich entschieden: Den möchte ich heiraten.

    ***

    Zehn Jahre nach Katjas Ankunft in Schweden werde ich als drittes von vier Kindern geboren, meine Mutter hat schon lange keinen deutschen Akzent mehr. Sie konnte nach vorn schauen, genau wie es ihr Vater gesagt hatte.

    Ihr Mann, mein Vater, unser brillanter Bohemien, Dichter und Architekt, ist der Wortführer der Familie – wenn er denn da ist. Meine Mutter wirkt, wie andere Mütter auch, mehr im Hintergrund. Mein Vater stammt aus Småland, wir sind für den Fußballverein Öster und fahren hin und wieder nach Oskarshamn und Västervik. Meine Mutter spricht selten über ihre Kindheit und ihre Erlebnisse in einem anderen Land. Sie werden gewissermaßen in ein anderes Zimmer gebracht oder einfach weiter nach hinten in den Schrank gestopft. Mein Vater fragte nicht und erfuhr auch nicht, was meine Mutter während des Krieges erlebt hat, und sie hat von sich aus nichts erzählt. Vielleicht wollten sie es beide so. Man kann willentlich etwas verbergen – aber vergessen kann man willentlich nicht.

    ***

    Als die sechziger Jahre in die siebziger Jahre übergingen, hatten wir uns daran gewöhnt, lange zu warten, bis mein Vater mit dem Auto nach Hause kam. Vielleicht kannten wir ihn so am besten – in der Sehnsucht. Aber immer an einem bestimmten Abend im Juni ist die Erwartung besonders groß, und wenn der schwarzweiße Volvo Amazon endlich auftaucht, stehen wir schon mit unseren Fahrrädern an der kleinen Holzbrücke auf dem Waldweg, der nach Grisslehamn führt. Vater und seine Passagiere winken uns durch die Fenster zu, und wenn sie vorbeigefahren sind, treten wir in die Pedale und fahren dicht hinter dem Auspuff her, bis hinauf zu unserem Holzhaus.

    Wieder einmal sind die Großeltern aus Deutschland angereist, besuchen uns in unserem Holzhaus an der Ostsee. Es ist die Ostsee, an der sie selbst aufgewachsen sind. Ihr Strand lag in Pommern, aber darüber sprechen wir auch selten. Wir Kinder sagen Großvater und Großmutter zu ihnen, meine Mutter, die sie mit Vater und Mutter angesprochen hat, als sie klein war, nennt sie jetzt Fritz und Karin. Fritz trägt einen Strohhut und ein dickes, grau-weißes Jackett. Es ist irgendwie vornehm, und ich stehe gerne neben Großvater, ohne etwas zu sagen. Sobald er da ist, zieht er die abgetragene braune Lederjacke an, die seit letztem Sommer an einem Haken im »Zimmer von Großmutter und Großvater« hängt. Nach einer ersten Runde durch den Wald sagt er, dass an manchen Stellen etwas gemacht wurde, was man nicht hätte machen sollen. Großvater ist nämlich der Meinung, dass die Natur selbst am besten weiß, wie mit ihr umgegangen werden muss. Statt sie zu regulieren, sollte man sich ihr anpassen und lernen, mit und von ihr zu leben.

    Großmutter trägt schmale helle Hosen und einen neuen Schal. Ihre zarte Hand, auf deren Rücken kleine, braune Flecken sind, umfasst ihre große rundliche Handtasche, die alles enthält, was sie braucht. Genau wie Großvater wird sie bald ihre Kleidung wechseln, allerdings zieht sie einen abgetragenen Bademantel an, darunter einen geblümten Badeanzug, unter dem man einen kleinen, runden Bauch sieht. Dann stellt sie Dosen und Flaschen auf den kleinen rechteckigen Tisch neben der Toilette. Da werden bald auch Bücher liegen, Zigaretten mit Menthol, deutsche Schokolade und hoffentlich auch Bonbons, die manchmal ein bisschen komisch schmecken, an denen man jedoch lange lutschen kann. Die runden und länglichen Würste hängt sie an der Wand in der Küche auf.

    Großvater hat weder Dosen noch Zigaretten. Aber er hat Bücher. Manche auf Schwedisch und manche auf Deutsch. In einigen gibt es Noten oder Gedichte, alle scheinen kurz vor dem Auseinanderfallen zu sein.

    Seine großen Hände können im Prinzip alles machen. Er räumt in den Kahlschlägen auf, die er verflucht, aber am Ende des Sommers wachsen Holzstapel so groß wie Meiler in die Höhe. Wir fahren sie mit der Karre zum Holzschuppen, damit sie nicht noch im Freien stehen, wenn Fritz im nächsten Jahr wiederkommt. Großvaters große Hände, die Baumstümpfe aufbrechen und Stämme anheben können, sind auch in der Lage, winzige Radieschenpflanzen vom Saatbeet auf dem Erdhügel hinter dem Holzschuppen in gerade Reihen im Garten zu verpflanzen. Und seine Hände zeigen uns eine neue Methode, die Netze zu säubern. Wir zupfen das Seegras nicht Stück für Stück heraus, sondern schütteln das Netz so, dass es in großen Wolken herausfliegt. So machten es die Fischer am Strand in Wittenberg, Großvater half ihnen, wenn sie ihre Flundern gefischt hatten. An dem Strand weit weg auf der anderen Seite der Ostsee.

    An einem Strandabschnitt südlich von Grisslehamn liegt Karin mit Strohhut und in ihrem bunten Badeanzug und liest in einem Buch. Neben ihr auf der Decke sitzt oft meine große Schwester Ylva, und da ist auch die große Tasche mit den Menthol-Zigaretten und gelben und grünen Bonbons. Und das kleine, goldene Zigarettenetui, das meine Schwester am allermeisten bewundert. Da bleiben sie, bis die Kuhglocke sie zum Essen ruft oder die Sonne hinter den Kiefern untergeht.

    Manchmal leistet Großvater ihnen Gesellschaft. Dann legt er sich neben Karin, faltet die Hände über der Brust, aber er zieht weder das Hemd noch die dicke Hose aus, und er geht auch nie ins Wasser. Ich gehe auch nicht ins Wasser, und manchmal, wenn wir uns vom Strand auf den Weg ins Haus machen, darf ich hoch oben auf seinen Schultern reiten.

    Jeden Morgen steht eine Schüssel mit Blaubeeren auf dem Küchentisch. Großvater kommt nie aus dem Wald zurück, ohne dass diese Schüssel randvoll ist, und wenn wir dann Blaubeeren mit Milch essen, ist er schon wieder mit der Axt im Wald. Sein Körper scheint auf Arbeit eingerichtet zu sein, und er meint, wenn wir alle mit anpacken, können wir viel ausrichten. Springt der lärmende Rasenmäher nicht an, holt er Messer aus der Küche und zeigt uns, wie wir alle nebeneinander mit einem Messer in der Hand in einer Reihe vorwärtskriechen sollen. Würden wir dabei das Gras schneiden, könnten wir es schaffen, einen schönen Rasen hinzubekommen, ganz ohne Abgase und Lärm.

    Es gibt auch Dinge, die ich nicht mit Großvater machen kann: Süßigkeiten kaufen, Puzzle legen und Fußball spielen. Großvater spielt nicht, er geht nicht einkaufen, auch humpelt er ein wenig. Meine Mutter wusste von Fritz, sein Bruder Erich sei ein guter Fußballspieler gewesen. Aber Fritz hat keinen Bruder mehr. Er meldete sich, als der Erste Weltkrieg begann, als Freiwilliger in der Armee von Kaiser Wilhelm. Fritz folgte ihm. Großvaters Bruder starb, und er selbst wurde von einer Granate am Bein getroffen. Als Kriegsgefangener brachte man ihn nach Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, wo er einige Jahre blieb. Über diese Zeit spricht Fritz nicht. Nach vorne schauen, das ist, wie gesagt, sein Motto, und wenn das Bein schmerzt, macht Großmutter warme Umschläge mit Honig. Am Abend holt er das Akkordeon heraus und singt seine selbstgeschriebenen Lieder über »Das Schloss im Wald«.

    Von meinem dritten bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr kommen die Großeltern jeden Sommer nach Grisslehamn in unser Holzhaus. Fünfzehn Sommer mit ihnen sind eine Kindheits-Ewigkeit.

    Irgendwann am Ende dieser Ewigkeit verstand ich, dass Fritz Sozialist war, obwohl der deutsche Nationalismus ihn dazu bewogen hatte, seinem Bruder in die Armee von Kaiser Wilhelm zu folgen. Nationalist und Sozialist? In meinen Augen passte es zunächst nicht zusammen, dass man beides auf einmal sein konnte. Vielleicht wollte ich die beiden Ideologien nicht zu einem Wort zusammenfügen, auf jeden Fall nicht im gleichen Satz wie mein Großvater.

    Wittenberg 1926 | Vielleicht geschah es aus einer Laune heraus, dass Eckhard seinem Kutscher auf die Schulter tippte, als sie an dem schlaksigen Radfahrer vorbeikamen. Der Kutscher Janko zog die Zügel an, und als der Radfahrer sie eingeholt hatte, nickte Eckhard ihm zu, was bedeutete, dass er sich anhängen konnte.

    Karin erkannte den Radfahrer. Er hieß Fritz und aß manchmal auf dem Gut Sterbenin zu Mittag. Sie machte dort ein Praktikum, und ihr Vater hatte sie gerade fürs Wochenende abgeholt. Lächelte sie, als sie nach hinten schaute, und sah sie, wie er nickte, als er neben ihr linkes Bein fasste, um sich festzuhalten? Vielleicht hatte sie ihm sogar zugenickt? Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass er ihr nahegekommen war, und sie beschloss, geradeaus zu schauen, solange er neben der Kutsche herfuhr.

    Sie erkannte auch das rostige Fahrrad. Es stand an der Treppe, wenn er aß, oder vielmehr schlürfte, wie das Stubenmädchen zu sagen pflegte. Er aß immer alles, mit Haut und Knochen. Was er nicht klein kauen konnte, kam aus dem Mundwinkel heraus und landete erneut auf dem Teller. Er war groß und schlank und erschien regelmäßig zum Mittagessen. Das war sein gutes Recht. Nicht das Schlürfen, aber das Essen. Lehrer, die nicht verheiratet waren und die in der Gegend unterrichteten, durften einmal am Tag auf einem der Güter essen, und da Fritz eine Lehrerstelle in Lüblow bekommen hatte, war Sterbenin mit dem Fahrrad erreichbar.

    Karin schaute auf die Pferde vor sich. Sie schafften es nicht, mit den Schwänzen die Bremsen zu vertreiben, ihre Körper zuckten, wenn die Stacheln durch die Haut drangen. Manchmal half der Kutscher seinen getreuen Dienern mit der Peitsche. Eckhard fragte nicht, wohin Fritz wollte, auch sonst wurden keine Worte gewechselt. Aber vielleicht wusste auch Eckhard, wer der schlaksige Radfahrer war. Hin und wieder fiel ein Schatten auf das Gespann. Bäume standen in langen, geraden Reihen längs der Chaussee von Leba nach Zoppot, an der Ostsee entlang. Es war einer der ersten richtig warmen Tage, und in der offenen Droschke spürte man den nahenden Sommer.

    Hatte Karin ihm zugenickt? Sie war erst neunzehn und mit ihrem Cousin verlobt. Der Mann auf dem Fahrrad war mindestens zehn Jahre älter und nur ein Lehrer, überhaupt war er erst Referendar. Hätte sie ihm zugelächelt, wäre das an sich kein Fehler gewesen. Irgendwie kannten sie sich ja. Doch sie schaute auf jeden Fall nicht noch einmal in seine Richtung. Ein Kitzeln am Fuß breitete sich zur Wade hin aus. Als ob jemand ein Loch gebohrt und es mit etwas gefüllt hätte, das sich jetzt in ihrem ganzen Körper verteilte. Anders als der Stich von den Pferdebremsen, eher leicht schmerzend als stechend.

    Dann musste der Wagen die Hauptstraße verlassen und nach rechts zum Gut abbiegen. Die Droschke fuhr langsamer, und in dem Moment, als Fritz losließ, spürte Karin, dass er ihren Fuß berührte. Sie war sich nicht sicher, schaute nach rechts und begegnete einem Nicken, einem Lächeln. Fritz dankte ihrem Vater, Eckhard hob die Hand zum Gruß, Janko schlug mit den Zügeln.

    Ein Stück weiter vorne bog Fritz nach links ab, radelte über die weiten Felder und dann in den Kiefernwald. Er fuhr so schnell, als hätte er noch das Tempo von der Droschke. Als ob er immer noch gezogen würde. Karin schaute ihm lange nach, und in dem Moment, in dem sie sich wünschte, er möge sich umdrehen, tat er es.

    Von der Landstraße waren es nur ein paar Kilometer bis nach Prüssau. Sie lächelte still vor sich hin, als sie von der großen Landstraße nach rechts abbogen. Mit geschlossenen Augen hob sie das Gesicht zum Himmel und atmete die laue Luft ein. Durch den Mund, die Nase, die Haut.

    Karin war die älteste von sechs Geschwistern auf Prüssau. Zunächst hatten sie eine Gouvernante, es schickte sich nicht, in die Dorfschule zu gehen. Als sie groß genug waren, kamen sie ins Augustastift nach Berlin und danach in ein Internat in Dresden. Karin fühlte sich im Internat nicht wohl. Ihr Vater hatte selbst über die Studenten, die ein Praktikum auf dem Gut machten, gesagt: »Sie taugen am besten zum Reden.« Seit einem Jahr half sie Herrn Rechnungsführer Zorgatz zu Hause auf dem Gut und fuhr mit ihrem

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