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eBook470 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Der Band bietet eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme und Perspektivenreflexion von WissenschafterInnen zum Thema "Lesen" in verschiedensten Bereichen.
Zunächst erfolgt eine Untersuchung des Ist-Zustandes des Lesens bei Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Schule, des Weiteren die Beleuchtung psycholinguistischer, politischer, ideologischer und kulturwissenschaftlicher Dimensionen des Lesens sowie der Lesedebatte und der Lesetheorie. In der Folge werden verschiedene Berufsfelder auf ihre Erfahrungen als Leser, respektive als Leser von Dichtung befragt: der Lektor, der Historiker, der Psychiater, der Literaturwissenschaftler, der Dichter. Nicht zuletzt kommt die Frage nach der Bedeutung des Lesens im Exil zur Sprache. Den Perspektiven einer Zukunft, die längst begonnen hat, sind Studien zum Lesen von digitaler Literatur, zur Literaturvermittlung im Internet und zu Fanfiction und literarischer Fankultur im Internet gewidmet.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum23. Apr. 2019
ISBN9783706559973
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    Buchvorschau

    lesen.heute.perspektiven - StudienVerlag

    Dank.

    Karlheinz Rossbacher

    Lesen. Was sonst?

    Eine Abschiedsvorlesung als Eröffnungsvortrag

    „Emeritus ist ein sehr schöner Beruf. Nur die Ausbildung dauert so lang." Quellenforschung hat ergeben: Das Copyright auf dieses Aperçu hat, wie schön, ein Germanist, Karl Otto Conrady. Ich möchte damit aber nicht ausdrücken, mir sei die Zeit zu lang geworden. Vielmehr möchte ich darauf hinaus, dass Sie, meine Damen und Herren, Freunde, Kolleginnen und Kolleginnen, konsequenterweise jetzt nur ein Gesellenstück erwarten können. Und wenn das akzeptabel ist, darf ich auch kurz in meine Zeit als Lehrling zurückgehen. Unlängst hat mich eine Studentin gefragt, was eine Zwergschule sei. Vielleicht eine Schule für Zwerge? O nein! Das war eine Schule mit nur einem Klassenzimmer, in dem acht Schuljahrgänge, Sechsjährige bis Vierzehnjährige, unterrichtet wurden. Es gibt noch ein paar Zwergschulen in Österreich, aber nicht mehr echte, sondern nur mehr solche mit bloß vier Jahrgängen in einem Klassenraum, oder drei nach dem ersten Jahr. Ich hingegen wurde im Herbst 1946 in eine echte mit acht Jahrgängen eingeschult; man nannte sie damals übrigens noch nicht Zwergschulen, sondern schlicht einklassige Volksschulen. Wir waren im einzigen Klassenzimmer ungefähr sechzig an der Zahl, und an den Direktor und einzigen Lehrer der Schule denke ich heute noch mit Respekt. Zwei Jahre vor mir wurde meine liebste Spielgefährtin eingeschult, und weil ich sie nicht verlieren wollte, habe ich mit ihr mitgelernt. Und das ging am Besten beim Lesen. Aber wie das Leben so spielt: Für Mädchen, die schon in die Schule gehen, werden Buben im Kindergartenalter uninteressant, und sie wurde mir untreu. Treu hingegen blieb mir die Faszination des Lesens.

    Alberto Manguel, Verfasser einer empfehlenswerten „Geschichte des Lesens (Manguel 2000) schildert, wie er, kaum hatte er zu lesen gelernt, in der Öffentlichkeit alles, was ihm unter die Augen kam, aufsog: Aufschriften, Reklamesprüche, Plakate, Graffiti, Automarken, Fahrkarten mit Kleingedrucktem. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es wenig dergleichen: Ortsschild, Gasthaus, Gemischtwarenhandlung. Und dann einmal, im April 1945, auf einem kleinen Bahnhof, an der Hand meiner Mutter auf einen Zug wartend, sah ich ein Transparent. Ich wollte, es wäre ein anderes gewesen, aber es war kein anderes da. So las ich eben das und las es dann laut vor: „Räder müssen rollen für den Sieg! Die Brutalität des Krieges und den Zynismus des NS-Regimes konnte ich noch nicht begreifen und genoss, fürchte ich, das Lob der erstaunten Umstehenden. In der Rückschau war aus dieser meiner gespenstischen vorschulischen „Vorlesung zu lernen, dass ein Lesevorgang zwar gelingen kann, aber nicht von Verstehen begleitet sein muss. Ein Text, und auch diese Durchhalteparole kurz vor Kriegsende war natürlich ein Text, kann ohne seine Kontexte nicht verstanden werden, selbst wenn er „richtig gelesen wird. Zur Theorie der literarischen Rezeption, auf die ich noch komme, gehört der Begriff der Leserdisposition. Das sind die lebensgeschichtlichen Sedimente, Erfahrungen, Leseerlebnisse, Kenntnisse, kurz: das persönliche „Weltwissen", zu dem damals für mich das Wissen, welche Räder zu welchem Sieg führen sollten, noch nicht gehörte. Die Räder des gemütlich daher dampfenden Personenzugs konnten es ja wohl nicht sein. Drei Jahre später musste ich es schon anders verstehen. Da brachte meine Mutter nach mühevollen Nachforschungen in Erfahrung, dass in jenem April 1945, als ich jene Parole las, mein Vater, der in den Osten geschickt worden war, um dort die Rote Armee aufzuhalten, dort sein Leben verloren hatte. Ein später, folgenreicher Kontext zu jenem Text, eine Leserdisposition im Nachhinein, trocken gesprochen.

    Ich möchte dem damaligen Gemeindesekretär posthumen Dank abstatten, der mich quer durch die kleine Gemeindebibliothek lesen ließ, ohne je einen Entlehnschein auszufüllen. Der in Porto Empedocle auf Sizilien geborene Theatermann und Schriftsteller Andrea Camilleri war ein sehr behütetes Bübchen, durfte nicht auf die Straße und lernte im Alter von sechs Jahren, wie er in einem biographischen Interview gesagt hat, „blitzschnell" lesen. Seine erste Lektüre seien Comics gewesen, die ihm sein Vater gekauft habe – wohl ihm, denn Comics in den frühen Jahren sind nützlich, sie reduzieren nämlich, fürs Erste, Komplexität –, und dann habe er, ebenfalls noch mit sechs Jahren, sein erstes Buch gelesen: Joseph Conrad, Almeyers Wahn (Lodato/Camilleri 2005, S. 53f.). Ich hingegen durfte zwar auf die Straße, aber Comics gab es damals für mich keine. Für mich war es dann auch nicht Joseph Conrad, sondern, so meine ich mich zu erinnern, Friedrich Gerstäckers Die Flußpiraten des Mississippi (1848), also ebenfalls exotisch-fern. In Peter Handkes Roman Der Bildverlust ist die Protagonistin, „Finanzweltmeisterin genannt, Teilnehmerin an den jährlichen Konferenzen der Welt-Universalbank (Handke 2002, S. 63; 116). Sie hat sich, so heißt es, viele Feinde gemacht. (Seit dem September 2008 hätte sie zweifellos eine ganze Menge mehr.) Diese Frau sistiert ihren Beruf, wird Wandersfrau und wandert durch die spanischen Gredos. Von ihr wird gesagt, dass sie einmal eine Leserin gewesen sei, noch immer sei, aber nicht mehr so richtig. „Und zugleich kam sie sich ohne Lesen verwaist vor. An anderer Stelle ist von ihrem „Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen die Rede (Handke 2002, S. 16; 174). Ich bin wahrscheinlich, wie viele hier im Hörsaal, ein Beispiel für ein solches „Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen. Unser Modell und Vorfahre in der Literaturgeschichte ist natürlich Anton Reiser (1785– 1790) von Karl Philipp Moritz (Dazu Stocker 2006, S. 19–27). (Eine Schnell-Variante dieses Sich-Hinauslesens fördert hier in Salzburg der Verein „abc, der erwachsenen Analphabeten hilft, so schnell wie möglich in die „literacy zu gelangen, um sich aus ihrer eingeengten Welt hinaus zu lesen.)

    Ich habe, um die Geschichte fortzusetzen, das Lesenlernen nach meiner Einschulung noch drei Mal erlebt, das heißt, mit halbem Ohr mitgehört, wenn im Herbst die Schulanfänger kamen. Die damalige Methode habe ich in der Rückschau MIMI-Methode genannt. Damals hatte sie noch keinen besonderen Namen und hieß erst später „analytische Methode. Sie wurde angewendet in der Überzeugung, jeder Buchstabe – hinter dem natürlich ein Laut steht – sei ein Bedeutungsbaustein. (Ein einzelner Laut kann nicht Bedeutung tragen, sondern, zum Beispiel als Phonem, nur Bedeutungsunterscheidung markieren, zum Beispiel in „lesen und „leben".) Also Bedeutungsbaustein (nicht Teilbedeutung!) M plus Bedeutungsbaustein I plus Bedeutungsbaustein M plus Bedeutungsbaustein I ergibt MIMI. Natürlich lernt man auch auf diese Weise lesen, aber man kann damit einige wichtige geistige Prozeduren beim Lesenlernen und Lesen nicht deutlich aufzeigen. Darauf komme ich noch. Als ich dann selbst das Lesen lehrte, in der Übungsschule der Lehrerbildungsanstalt und während der so genannten Landschulpraxis, war die MIMI-Methode passé, und es wurde, etwas euphorisch, die so genannte Ganzheitsmethode praktiziert, die, der Name sagt es, auf dem Erkennen eines ganzen Wortes aufbaute. Die Lehrerin für die erste Klasse unserer Übungsschule, die nicht sofort von jeder Innovation restlos fasziniert war, setzte bei jedem Wort die MIMI-Methode sofort hinterher, und so ergaben sich Worterkennung und Buchstabenanalyse fast in einem.

    Ich möchte Ihnen nun in Kurzfassung vorführen, warum die MIMI-Methode für sich allein die Eigenart des Lesens nicht angemessen beschreibt. Ich entlehne dazu einfache Erkenntnisse aus der Augenphysiologie, der Kommunikationstheorie und der Lerntheorie. Damit lässt sich eine eklektische Baukastentheorie des Lesens zusammensetzen, die mit einer gewissen Konsequenz, darauf soll es hinauslaufen, zur so genannten Rezeptionsästhetik führt. Diese literaturwissenschaftliche Analyse und Interpretationsweise hat sich schon vor längerer Zeit etabliert, allerdings ohne sich damals mit einer allgemeinen Lesetheorie kurzzuschließen. Das liefere ich jetzt nach; es ist sozusagen meine Innovation, die Rezeptionsästhetik durch eine allgemeine Lesetheorie zu unterfüttern.

    Dazu zunächst drei ein wenig konstruierte Sätze: „Ein Kardinal übersteht eine Operation ohne Betäubung nach kurzer Be-tübung. Es heißt natürlich Bet-übung. „Vor allem der Talent-förderung dient der Wettbewerb zur Talent-wässerung durch Stauseen. Natürlich Tal-entwässerung. „Die Studentin legte zu ihren Spar-geldern, was sie bei der Spar-gelernte verdient hatte." Es heißt Spargel-ernte. Wozu das Ganze hier? Liest man das versuchsweise strikt nach der MIMI-Methode (wir als flüssig Lesekundige können das ohnehin nur mehr simulieren), kommt das Verständnis nicht im ersten Anlauf. Sondern es geht besser, wenn man nicht Buchstabe für Buchstabe entziffert, sondern vorausschaut und anders phonologisch verarbeitet, das heißt, anders segmentiert. Wer nach der Worterkennung lesen gelernt hat, segmentiert und unterscheidet das ähnlich Aussehende schneller und sicherer (Oerter 1999, S. 30). Dieser Segmentierung kommt eine Eigenart der Augenphysiologie entgegen. Schon vor hundert Jahren hat der französische Arzt Émile Javal die Augenbewegungen beim Lesen untersucht, mit Hilfe eines tachistoskop-artigen Geräts. Demnach lesen wir nicht additiv-gleitend, sondern hüpfend. Die Gleitphasen, drei bis sechs pro Zeile, nennt man Sakkaden, die Stopp-Phasen dazwischen Fixationen. Während der Sakkaden ist das Auge funktional blind, nur in der Fixation wird visuelle Information ans Gehirn weitergeleitet (Weinrich 1984, S. 85f.). Experimente in der Psychophysiologie haben erbracht, dass wir in einer Fixation vier bis fünf unzusammenhängende Buchstaben aufnehmen können, oder zwei sinnvolle Wörter, die nicht zusammenzuhängen brauchen (Gurke / singen), oder einen kleinen Satz: Das Leben ist kurz.

    Der Beitrag der Kommunikationstheorie sagt uns, dass jede Information als das Neue, wenn es verstanden werden soll, in Bekanntes, Redundantes eingebettet sein muss. Vielleicht zuerst ein nicht auf Lesen bezogenes Beispiel: Wenn in einem stockfinsteren Raum viele weiße und schwarze Socken zum Trocknen aufgehängt sind, wie viele Socken muss man von der Leine nehmen, um ein Paar, weiß oder schwarz, in Händen zu haben? Richtig: mehr als zwei, nämlich drei. Ein Stück mehr als zwei – das ist die Redundanz. Aufs Lesen angewendet: Wenn zu Beginn eines Satzes der Artikel unleserlich ist, z. B. „ … Weinbauer probiert Wein", dann kann man noch nicht sagen, ob es der Weinbauer ist oder ein Weinbauer. Wenn aber in einem Wort wie „Hochseeregatta" drei Buchstaben hintereinander unleserlich gedruckt sind, kann man das Wort trotzdem erfassen. Es ist genügend Redundanz da, auf dem Papier und im Kopf.

    Die Lern- und Verstehenstheorie wiederum liefert einen enorm wichtigen Beitrag zur angemessenen Beschreibung des Lesevorgangs. Sie sagt: Lesen ist wie Lernen das Verknüpfen von neuen Inhalten mit bereits vorhandenen, also der visuellen Information (sowohl Druck auf Papier als auch Pixelbuchstaben auf Schirm) mit der nichtvisuellen Information, die wir bereits im Kopf haben. Für die Letztere gibt es auch andere Begriffe: unser Langzeitgedächtnis, unsere kognitive Struktur, unser Vor-Wissen, unser Welt-Wissen. Der kanadische Leseforscher Frank Smith hat das schon vor längerer Zeit „our theory of the world in our heads genannt, „unsere Vorstellung von der Welt in unserem Kopf (Smith 1978, S. 57ff.). Wenn wir etwas Neues in der Welt als sinnvoll erfahren wollen, brauchen wir eine Vorstellung von ihr, um etwas Neues hinein verknüpfen zu können. Ganz zentral für das Verstehen beim Lesen ist das Voraussagen bzw. Voraussehen, nach Frank Smith die „prediction. Wir können nicht auf alles zugleich gefasst sein und versuchen deshalb, die Zahl der Optionen zu reduzieren. Am Beispiel des Satzes mit dem Kardinal: Die Operation (Sinnbezirk Chirurgie) bereitet bereits auf Be-täubung vor, der Kardinal (Sinnbezirk Klerus) bereits auf Betübung. Beim Lesen entstehen „intentionale Satzkorrelate, für die wir unablässig Bedeutungen „voraus-vermuten (Iser 1975, S. 56). In Frank Smith’s allgemeiner Lesetheorie ist das der erwähnte Vorgang der „prediction (Smith 1978, S. 63ff.), in Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik heißt das „Protention (eine Analogbildung zu Intention) (Iser 1975, S. 256). Ein konstruiertes Beispiel, das sowohl einem Sachbericht als auch einem Stück narrativer Prosa entstammen könnte: „Der Mann stieg aus dem Auto, streckte die Hand aus, schaute zum Himmel und ging dann zum Kofferraum. Hier stoppe ich. Was protendieren wir? Mit Wahrscheinlichkeit „Der Mann nahm einen Regenschirm heraus." Nimmt er einen Regenmantel heraus, protendieren wir ebenfalls Regenschutz und lesen weiter. Nimmt er hingegen ein Aquarell heraus, müssen wir zuerst retendieren, dann anders protendieren, unsere Vorstellung von der Welt in unserem Kopf anders anzapfen, um Bedeutung zu erzeugen: Der Mann braucht einen möglichen Regenschutz vor allem für das Aquarell. Dann kann es weitergehen. Wie schützt er das Aquarell vor dem Regen? Und so fort.

    Arthur Schopenhauer, der für die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts so einflussreiche Philosoph, ich nenne bloß Friedrich Nietzsche und Thomas Mann, hat in seinem Essay Über Lesen und Bücher (Schopenhauer 1977, S. 603) geschrieben: „Wenn wir lesen, denkt ein anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Das ist ganz irreführend. Ein Text ist nicht seine Einprägung auf eine unbeschriebene oder unbelichtete Platte in unserem Hirn. Schopenhauer lässt außer Betracht die zentrale Rolle des Vorhersagens bzw. Vermutens unter Zuhilfenahme unserer so oder so beschaffenen Vorstellung von der Welt. (Wenn man übrigens zum Vermuten das Raten hinzu assoziiert und etymologisch ins Englische hinüber denkt, landet man bei „to read – lesen.)

    Ich muss es mir nun versagen, explizit vorzuführen, wie wir beim Lesen ständig protendieren und, wenn nötig, retendieren. Das Beispiel mit Mann und Regenschirm dürfte ausreichen. Ich möchte nur hinzufügen, dass sich dazu, leicht einzusehen, realistische Texte besser eignen als z. B. experimentelle, sagen wir, dadaistische. Besonders Adalbert Stifter, einer der bedeutendsten Erzähler des 19. Jahrhunderts – Zeugen dafür sind unter anderem Friedrich Nietzsche, Thomas Mann, Walter Benjamin –, verwendet einen äußerst knappen, Figuren lediglich von außen schildernden Stil, zu dem man sich dann ihr Inneres dazu protendieren muss. Sehr wichtig dabei: Das tun wir individuell, auf Basis unserer persönlichen Leserdispositionen. Dazu kommt ein spezifisches Spiel von erzählerischem Zeigen und Verschweigen, ein Verhältnis von Gezeigtem und Nicht-Gesagtem, das uns als Leser zu Co-Produzenten macht. Ein Text ist ja zunächst nur das Schwarze auf dem Weißen und enthält notwendigerweise leere Stellen, die wir konkretisieren. Durch dieses Konstituiertsein im Bewusstsein des Lesers/der Leserin, wird ein Text erst zu einem Werk (Iser 1975, S. 253). Diese Co-Produktion beim Lesen, die Arthur Schopenhauer so gänzlich beiseite gelassen hat, hat bereits Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Essay „Was ist Literatur? ein „gelenktes Schaffen genannt (Sartre 1958, S. 28ff.). Dieses kreative Moment beim Lesen haben Hirnforscher mit differenzierten Messungen der Hirnaktivität bestätigt.

    Es läge nun nahe, Ihnen darzulegen, wie die Menschen von der schreibenden Zunft über das Lesen geschrieben haben bzw. wie das Lesen in der Literatur Thema werden kann. Da wir aber dieses Thema, wenn auch aufs 20. Jahrhundert begrenzt, im Programm des Symposions haben, werde ich mich, gleichsam zur Abwechslung nach der Theorie, auf einen Cocktail beschränken.

    Eines der schönsten poetischen Zeugnisse eines überwältigenden Lese-Erlebnisses findet man beim englischen Romantiker John Keats (1795–1821), der seine Lektüre der Übersetzung Homers durch George Chapman (1559?–1634) in das Sonett „On First Looking into Chapman’s Homer gefasst hat. Darin vergleicht er diesen seinen ersten Blick mit dem augenrollend-stillen Staunen, mit dem im Jahre 1513 der Eroberer Cortez und seine Männer auf einer Anhöhe der Meerenge von Panama, als erste Europäer, den Stillen Ozean erblickten. (Es war zwar nicht Cortez, sondern Balboa, aber das tut hier nichts zur Sache.) Rainer Maria Rilke hat zwei Sonette mit dem Titel „Der Lesende (1901) und „Der Leser (1908) geschrieben. Eines davon hätte er ruhig „Die Leserin nennen können, weil Frauen in der Geschichte des Lesens meist in der Überzahl waren (Rilke 1962, S. 213f.; 392). Im erstgenannten Gedicht hat er beschrieben, wie die Züge eines vertieft Lesenden für immer „umgestellt sind, so dass nicht einmal seine Mutter sicher sagen kann, ob er es ist. Und seine Romanfigur Malte Laurids Brigge beschreibt, wie einen ein Lesender, auftauchend, ansieht und doch nicht sieht (Rilke 1962, S. 8). Ich muss übergehen, wie tiefschürfend und leseappetitanregend Marcel Proust über das Lesen geschrieben hat (Proust 1905, 2000). Und als z. B. André Gide Goethes Gedichte las, in einem Gewächshaus, von goldgelben Pantoffelblumen umgeben, empfand er, in Großbuchstaben ins Tagebuch verzeichnet, „ein VOLLKOMMENES GLÜCK (Gide 1961, S. 80). Ich übergehe die interessanten „Ersten Lese-Erlebnisse, die der Verleger Siegfried Unseld im Jahre 1975 den damaligen Autorinnen und Autoren des Suhrkamp Verlages abverlangt hat (Unseld 1975). Vielleicht daraus nur der heute fast vergessene Horst Krüger: Für ihn war Hermann Hesses Demian im gleichnamigen Roman ein Führer, aber ein gänzlich anderer als der damals so Betitelte. Demian habe ihm vermittelt: „Nicht du, die Welt ist in Unordnung. Geh deinen Weg. Es gibt nur eine Wahrheit: die ist in dir (Unseld 1975, S. 66). Noch ein paar Tropfen aus dem Cocktailshaker: Elias Canetti hat bekannt, was ein Tiger sei, wisse er wirklich erst seit dem berühmten Gedicht von William Blake (1757–1827): „Tiger, Tiger, burning bright / In the forests of the night (Canetti 1976, S. 25). Thomas Bernhard hat dem Lesen die Leistung zugeschrieben, seine „jederzeit offenen Abgründe zu überbrücken (Bernhard 1978, S. 153). Silvia Bovenschen, der die deutschsprachige Germanistik frühe und wegweisende Analysen von Bildern der Weiblichkeit in der Literatur verdankt, schreibt in ihrem berührenden Buch Älter werden vom Lesen als dem ganz „Anderen, als ihrer besonderen „dunklen Geheimsache, mit der zusammen sie eine „Sekte" gebildet habe (Bovenschen 2004, S. 63f.). Ich möchte nur ein Beispiel etwas ausbreiten: Von Benjamin Lebert wurde 1999, er war damals siebzehn Jahre alt, der Bestseller Crazy veröffentlicht, den man der im 20. Jahrhundert so reichhaltigen Schul- und Internatsliteratur zuordnen kann. Es ist belegt, dass viele Schüler und Schülerinnen diesen kurzen Roman unaufgefordert gelesen haben (Lebert 1999; dazu Bassler 2002, S. 10; Unterhuber 2008). Darin büchst eine Gruppe von Internatsschülern, für die „crazy" eine Art Gruppen-Losungswort ist, aus und fährt nach München. Die Hauptfigur, der Ich-Erzähler Benni (= Benjamin Lebert), ist behindert, ein Schulversager und immer wieder gefährdet. Er liest im Abteil aus Ernest Hemingways Roman Der alte Mann und das Meer (1952) vor. Die Jugendlichen, die in der Schule eher ungern vorlesen oder vorgelesen bekommen, hören gebannt zu. Der alte Fischer hat einen großen Schwertfisch gefangen, von dessen Verkauf er eine ganze Weile leben könnte, aber er muss den längsseits am Boot vertäuten Fisch die ganze Nacht hindurch gegen die Haie verteidigen, und er verliert diesen Kampf; übrig bleibt das Skelett. Die Reaktion der Zuhörer: „Die Wangen der Jungen sind rot. Sogar Janosch schnauft laut. Wild schüttelt der den Kopf. Seine Augen platzen fast. Ein dunkles Rot glüht in seinen Ohren. Zwei der Schulkameraden „reichen sich entsetzt die Hände, einer greift ebenfalls nach dem Buch (…) Ein wenig stilistischer Übereifer darf im Alter von siebzehn Jahren schon sein (Lebert 1999, S. 143f.). Zwölf Seiten zuvor schon hat es, ohne Nennung Hemingways und seines Romans, ein Gespräch gegeben. Besagter Janosch sagt zu Benni, er dürfe nicht aufgeben. „Der Mensch darf nicht aufgeben. Er kann vernichtet werden, aber er darf nicht aufgeben (Lebert 1999, S. 130). Das ist exakt der Kern von Ernest Hemingways Roman: „A man can be destroyed but not defeated (Hemingway 1952, 2004, S. 86). Diesen berühmten Satz, der, ähnlich wie sein Autor, immer ein wenig des „machismo" verdächtigt worden ist, sagt sich der alte Fischer vor, nachdem er den ersten, seinen Fisch attackierenden Hai getötet hat und ahnt, dass weitere kommen werden. Als ein Stück Literatur in einem Stück Literatur, Stichwort Intertextualität, wird dieser Satz einem behinderten Internatsschüler als Ich-Stärkung nahe gebracht. Hunderttausende Exemplare wurden verkauft, das bedeutet, von weiteren Hunderttausenden zusätzlich gelesen, dann erst verfilmt: Muss man sich wirklich, wie man hören kann, um das Lesen Sorgen machen?

    Bevor ich diese Frage zu erörtern versuche, einige Ausführungen zu einem Aspekt, den ich „Lesen in Extremsituationen nenne. Ich fasse dabei unter „Lesen auch lautes oder stilles Aufsagen von Auswendiggelerntem und nenne es „inneres Lesen. Der schon erwähnte Alberto Manguel erzählt, dass einer seiner Lehrer ihn Gustav Schwabs Ballade „Der Ritt über den Bodensee habe auswendig lernen lassen mit der Begründung, die Verse würden ihm eines Tages Gesellschaft leisten, wenn er keine Bücher zum Lesen habe (Manguel 2000, S. 81). Inneres Lesen kann auch auf ganz andere Weise nützlich sein. Ein einfaches Beispiel: Eine vormalige österreichische Weltklasseläuferin über 800 Meter erzählte im Rundfunk, sie brauche beim Zahnarzt niemals eine Anästhesie, sondern rezitiere im Stillen Kindergedichte, die sie mit ihrer Mutter eingelernt hat (ORF, Ö1, 26.5.2008, Radiokolleg). Also eine Art poetische Bet-übung anstelle einer Be-täubung. Als ein weiteres Beispiel ein persönlicher Bericht (an den Verf.) von Elisabeth Klaus, Kommunikationswissenschaftlerin an der Universität Salzburg: Sie habe, als sie einmal Monate lang Verpackungsarbeiten zu leisten hatte – drei Handgriffe in endloser Wiederholung –, für sich die Arbeits-Zeit durch das Aufsagen von Gedichten erträglicher gemacht. Es kann einem aber auch ein literarisches und entsprechend gewaltsameres Beispiel einfallen: Ray Bradburys bekannter, auch verfilmter Roman Fahrenheit 451 (1953; Verfilmung 1966, mit Oskar Werner). Der Roman spielt in einem totalitären Staat, dessen Regime erkannt hat, dass Lesen und Schreiben, und Bücher überhaupt, subversiv wirken können. In diesem Staat gibt es eine spezielle, „Feuerwehr" genannte Vernichtungstruppe, die Bücher und Bibliotheken verbrennt, bei Fahrenheit 451, der Temperatur, bei der Papier zu brennen beginnt. Nur in einer unwegsamen Region jenes total kontrollierten Landes überleben Bücher, im Kopf von Menschen, die sie unermüdlich memorieren und auf diese Weise präsent halten, damit die großen Werke der Weltliteratur nicht verloren gehen. Bradburys Roman ist ein Beispiel für die zahlreichen negativen Utopien in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Dazu aber auch ein Stück historischer Wirklichkeit: In einem Gedenkraum des Konzentrationslagers Ravensbrück ist eine damals sorgfältig versteckte Anthologie von Gedichten zu sehen, die verschiedene Insassinnen, unter ihnen Rosa Jochmann, spätere österreichische Nationalratsabgeordnete, aus dem Kopf auf Papierstücke geschrieben und gebunden haben, damit dann alle anderen immer wieder darin lesen – und ihrerseits auswendig lernen, also innerlich lesen – konnten.

    Das denkwürdigste Beispiel, wie inneres Lesen beim Ertragen von Extremsituationen helfen konnte, hat die Germanistin Ruth Klüger in ihrem Buch weiter leben. Eine Jugend (1992) beschrieben. Als Kind in Wien hat sie, als sie nicht mehr auf die Straße durfte, Balladen Friedrich Schillers auswendig gelernt. Schon bevor sie dann als Elfjährige, über Theresienstadt, nach Auschwitz verbracht wurde, habe es sie entzückt, dass man sich Verse merken und dann wörtlich aufsagen konnte (Klüger 1999, S. 37). Während viele KZ-Häftlinge Inhalte, weltanschauliche oder religiöse, aus ihrem Gedächtnis abzurufen versuchten, um Trost darin zu finden, sei es bei ihr ganz anders gewesen (Klüger 1992, S. 122). Ihr „inneres Lesen von Schillers Balladen beim stundenlangen Appellstehen in der glühenden Hitze von Auschwitz tat seine Leiden lindernde Wirkung vor allem durch die gebundene Sprache: Metrum, Rhythmus, Reim, Strophengliederung. Klüger hat im Rückblick die These vertreten, dass Verse, indem sie die Zeit mit ihrem eigenen Verlauf-System einteilen, „im wörtlichen Sinne ein Zeitvertreib sind. Das bedeutet, dass sie sich mit Schillers Balladen ein eigenes, von ihr beherrschtes Zeitsystem verschaffte, das sie auf dem Appellplatz den quälend langsam verrinnenden Strammsteh-Stunden entgegen stellen konnte. Es wäre nun absurd, nur im Hinblick auf Extremsituationen (die es allerdings immer geben kann und gibt) für mehr Auswendiglernen von Dichtung zu plädieren, das ja aus den Schulen so gut wie verabschiedet worden ist. Ich tue es trotzdem, nicht aus diesem Grund, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass Auswendiglernen generell einen abrufbaren Reichtum schafft, der einem nicht so schnell genommen werden kann. Allerdings: Auswendiglernen von Dichtung in der Schule ist eine beträchtliche Herausforderung für eine motivierende Didaktik. Der in St. Louis, Missouri, lebende Egon Schwarz hat in seiner Kleinen Phänomenologie des Lesens (Schwarz 1996, S. 75) festgehalten, wie in seiner Wiener Schule, aus der er 1938 ins Exil vertrieben wurde, Übertretungen der Klassendisziplin mit dem Auswendiglernen von Gedichten bestraft wurden.

    Nun zur Frage, ob man sich, angesichts der neuen Medien, Sorgen um die Zukunft von Buch und Lesen machen muss. Ich plädiere dafür, „weder in die kognitive Falle blinder Technikeuphorie noch in die eines blinden Pessimismus zu tappen (Schneider 1999, S. 515). Das beginnt bei Gelassenheit, was Druck auf Papier betrifft (dazu Rossbacher 2002). Vor acht Jahren sagte die Großfirma Microsoft voraus, um 2005 würden elektronische Bücher, die so genannten E-Books, eine Selbstverständlichkeit sein und 2020 nur noch 10 Prozent aller Bücher aus Papier (Zimmer 2000, S. 22). Davon kann keine Rede sein. Für den Juni 2000 war ein E-Book aufwändig angekündigt worden: Aussehen und Ausmaße eines Buches, 40.000 Seiten Speicherfähigkeit, Illusion des Blätterns statt des Scrollens – aber ein veritabler Flop. Ein französischer Konzern, der sich darauf spezialisieren wollte, ging vor vier Jahren in Konkurs. Im Herbst 2008 ein neuer Anlauf, mit zahlreichen Verbesserungen in Frankfurt vorgestellt. Wir hätten gerne eines vorgeführt – es war zum jetzigen Zeitpunkt keines zu bekommen, kosten soll es 700,- bis 900,- Euro. Laut Amazon sind schon eine halbe Million verkauft – in den USA. Bei der Leipziger Buchmesse im März 2009 stellte der Sony-Konzern seine Version eines E-Books vor, mit 299,- Euro deutlich preiswerter, Gewicht 25 Dekagramm, das Herunterladen von vorderhand noch nicht allzu vielen Büchern aus dem Netz kostet ungefähr so viel wie die jeweilige Druckversion. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels äußerte die Befürchtung, dass es zu ähnlichen download-Piraterien kommen könnte, wie sie die Musikbranche durch Raubkopien zu beklagen hat und kündigt rigorose Gerichtsverfahren an. Die Berichterstattungen über dieses E-Book hielten sich mit Euphorie zurück. Möglicherweise wird es seine ersten deutlichen Erfolge auf dem Gebiet des Sachbuchs erzielen. Kaufwünsche äußerten vorwiegend 14- bis 29-Jährige. Der Zukunftsforscher Matthias Horx (ORF, Ö1, 31.10.2008, Radiokolleg) rechnet mit 15 % Marktanteil in den nächsten zehn (!) Jahren. Von jener Prophezeihung der Firma Microsoft kann also keine Rede sein. Es scheint so, als könne das E-Book trotz aller Verbesserungen viel zu viel noch nicht. Viel zu viel spricht noch für die Codex-Form des Buches. Ich erlaube mir einen Vergleich: Im Stockholmer Djurgarden ist das Kriegsschiff „Gustav Wasa zu besichtigen. Es sank 1628, bei seinem Stapellauf, wurde im Schlick konserviert, Mitte des vorigen Jahrhunderts gehoben und mit einer riesigen Halle umbaut. In den das Schiff umgebenden Besichtigungs-Galerien sind interessante Gegenstände des damaligen Alltags zu sehen, unter anderem die Seemannskiste eines Matrosen. Darin: ein Kamm. Er ist aus Holz, aber es ist ein Kamm wie ein heutiger Kamm. Das Prinzip Kamm brauchte seither nicht verbessert zu werden. In der Neuen Zürcher Zeitung war schon im Oktober 2007 zu lesen, dass auf der Frankfurter Buchmesse der Fortschritt der Digitalisierung, die uns allen mittlerweile unentbehrlich geworden ist, das Buch kaum betrifft (Ausnahme Nachschlagewerke). „Das Buch in seiner klassischen Kodex-Form sperrt sich hartnäckig gegen eine Transformation ins Digitale (Güntner 2007). Es ist heute, da zur Papiergewinnung nicht mehr Holzmasse verwendet wird – sie ist der Grund, weshalb ein beträchtlicher Teil der Bücher des 19. Jahrhunderts immer mehr gefährdet ist –, offenbar so hartnäckig nicht verbesserbar wie der Kamm. Das gilt sowohl für das Prinzip als auch materiell-medial für seine Haltbarkeit – im Gegensatz z. B. zu den senkrecht an der Wand montierten Magnetbändern als Betriebs-Steuerungssystemen, deren man heute kaum mehr ansichtig wird, oder Tonkassetten, oder auch CDs. Gestatten Sie bitte eine Zitatenspiel: „Rose (gemeint ist eine Person) is a rose is a rose is a rose, schrieb Gertrude Stein 1913 im Gedicht Sacred Emily und prägte damit einen legendär gewordenen Satz. Sie hat ihn als eine Art dreifachen Assoziationswecker gemeint, missverstanden wurde er häufig als Affirmation von etwas Gegebenem. Produktiv missverstehend also das Übertragungsspiel: „Ein Kamm ist ein Kamm ist ein Kamm. Und so eben auch: „Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch.

    Eine andere Prophezeiung: Vor nicht sehr viel längerer Zeit behauptete der Medientheoretiker und Futurologe Vilèm Flusser, dass unsere Schrift und damit das Lesen überhaupt keine Zukunft haben (Flusser 1992, S. 7), sondern andere, heute noch unbekannte Aufzeichnungssysteme würden beides ersetzen. Davon kann noch weniger die Rede sein. Es wird mehr Papier bedruckt denn je, und es werden mehr Bücher produziert und verkauft denn je. Trotzdem: Es klang auch schon anders, besonders in den frühen 1990er Jahren. Ein populäres Buch des Amerikaners Sven Birkerts trägt den Titel Die Gutenberg-Elegien (Birkerts 1997). Im Frühjahr 2006 gab es immerhin noch die Frage, ob wir Signale einer Lese-Renaissance vernehmen oder ein letztes Aufgebot für eine verblassende Kulturtechnik (Löffler 2005, S. 8). Wieso Renaissance? War das Lesen schon gestorben? Ich möchte im Folgenden darlegen, dass man sich zwar nicht alle, aber doch eine Reihe von Sorgenfalten ersparen kann:

    Die neueste Studie über Lesen in Deutschland wurde online am 4. 12. 2008 veröffentlicht. (Für Österreich liegen keine aktuellen Daten vor.) Sorgen darf man sich darüber machen, dass jeder Vierte keine Bücher liest. Die Zahl der Gelegenheitsleser nimmt ab. 45 Prozent der 14 bis 19-Jährigen gaben an, dass ihnen als Kindern keine Bücher geschenkt wurden. Sorgen, die man sich sparen kann: Die Zahl der Vielleser bleibt klein, aber konstant (3 %). Auch ist der Bildschirm kein Feind der Lesekultur, obwohl das Schirmlesen alltäglich geworden ist. Die Mehrheit der Leser möchte auf das Buch nicht verzichten, am Schirm „verzettele" man sich. Besonders interessant: Unter Migranten bilde sich eine neue Lese-Mittelschicht heraus (www.stiftunglesen.de). Insgesamt aber öffnet sich die Schere zwischen habituellen Lesern und Kaum- bzw. Nicht-Lesern weiter.

    Zu dem Befund der Studie, dass der Bildschirm, samt seinen Bildmöglichkeiten, nicht der große Feind des Lesens ist: Schon vor mehr als fünfzehn Jahren hat sich der Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco Gedanken über die Kulturmutation, in der wir stehen, gemacht, hat z. B. über das Verhältnis von Bild und Schrift, digital oder herkömmlich, nachgedacht und hat festgestellt, dass trotz der Bildmöglichkeiten, die der Computer inzwischen gewährt, er

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