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Schnittstellen: Aspekte der Literaturlehr- und lernforschung
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Schnittstellen: Aspekte der Literaturlehr- und lernforschung
eBook468 Seiten5 Stunden

Schnittstellen: Aspekte der Literaturlehr- und lernforschung

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Über dieses E-Book

Didaktik wird als Vermittlungswissenschaft hauptsächlich mit dem Lehramt, dem Berufsbild der Lehrerin/des Lehrers und der Institution Schule verbunden. Doch umfasst ihr Einsatzbereich weit mehr als das. Es bedarf daher einerseits der Expansion in Richtung einer "öffentlichen Didaktik", andererseits müssen die genannten Bereiche schärfer konturiert werden.

Einer dieser Bereiche ist die Literaturlehr- und -lernforschung. Sie betont die Schnittstellen zwischen Literaturwissenschaft, universitärer Fachdidaktik, Hochschuldidaktik und den Anforderungen schulischer und außerschulischer Didaktik.
Dieser Band bietet eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Literaturlehr- und -lernforschung in ihren jeweiligen institutionellen Kontexten. Darüber hinaus formulieren die AutorInnen Wünsche und Ziele literaturdidaktischer Forschung und loten zukünftige Perspektiven aus. Mittels der weitsichtigen und reichhaltigen Analysen eröffnen sie nicht zuletzt einen internationalen Diskussionsraum für literaturdidaktische Fragen.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum7. Jan. 2021
ISBN9783706561372
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    Buchvorschau

    Schnittstellen - StudienVerlag

    1.

    Konzepte von Literatur und literarischer Bildung

    Sigrid Thielking

    Literaturbezogene Kulturvermittlung – Literaturlehrforschung an der Schnittstelle von Schulunterricht, Lebensspannenkonzept und »Öffentlicher Didaktik«

    1. Perspektiven übernational orientierter Literaturlehrforschung

    Literaturdidaktik: Das meinte und umfasste über viele Jahrzehnte hinweg eine sachgemäße, an den jeweiligen Erkenntnisstand der Bezugsfachdisziplin eng angelehnte Reflexions- und Vermittlungswissenschaft. Dabei ging es in der Regel um fachspezifische Orientierungen, um fachwissenschaftliche Kenntnisse und Kontroversen, um Gattungsspezifik, um das Für und Wider von Epocheneinteilungen und Kanonübersichten, um verdiente und neu zu entdeckende AutorInnen, Themenschwerpunkte und Werkkonvolute zum Zwecke ihrer unterrichtsmethodischen Einbindung und Vermittlung in verschiedenen Schulkontexten. Insofern wurde der Bereich der Fachdidaktik nicht selten eher als ein Appendix und dennoch weitgehend als konform und kompatibel mit den ›Hausbeständen‹ fachgermanistischer Provenienz gedacht und wahrgenommen. Dieses Abbildverhältnis, das den Ausbau der Fachdidaktiken in der Entwicklung gegenüber ihren normativen Fach- und Bezugswissenschaften in ihrer Profilbildung nicht eben förderte, spiegelte sich u.a. in einer Diskursherrschaft der Fachwissenschaft in den Richtlinien, Lehrplänen, Lehrmittelverordnungen, den Schulbuchverlagsprogrammen und den fachdidaktischen Ratgeberliteraturen sowie nicht zuletzt in den Lehrstuhlzuschnitten der Hochschulen und Universitäten wider. Die sehr viel differenzierteren Prozesse fachdidaktischen literarischen Lernens in den verschiedenen Schulstufen und Schulformen konnten aus einem solchen Blickwinkel nicht immer angemessen wahrgenommen werden.

    Das Hemmende, das in dieser etwas einseitigen Verklammerung der Fachdidaktik mit dem Bezugsfach lag, hat sich meines Erachtens am deutlichsten in der gymnasialen Ausbildungsstruktur erhalten und sich dort auf die Profilbildung des LehrerInnenstudiums in der Sekundarstufe II nachhaltig ausgewirkt.

    Hier soll es weniger um Verschiebungen und Umakzentuierungen gehen. So haben ja etwa auch andere Teildisziplinen der Fachdidaktikwissenschaft, die Sprachdidaktik oder auch die Mediendidaktik, der eigentlichen Literaturdidaktik inzwischen manche von ihren Terrains (Sachtextearbeit, Unterricht zu Stil- und Sprachbewusstheit einerseits oder Filmanalysen, »Webisodes« und »Soaps«- bzw. »Telenovela«-Forschung andererseits) abgejagt.

    Dieser Beitrag soll vielmehr ein Plädoyer für eine sich mehr und weiter öffnende und anschlussfähigere Literaturdidaktik innerhalb immer bedeutsamer werdender kulturwissenschaftlicher und lebenswissenschaftlich bezogener Zusammenhänge sein.

    Der seit wenigen Jahren sich abzeichnende und insgesamt begrüßenswerte Paradigmenwechsel vom Lehren zum Lernen, vor allem aber die wachsende Internationalisierung der Fachdidaktiken könnte der Fachdidaktik und ihrer jeweiligen Bezugsdisziplin helfen, ihre Profile weiter zu schärfen, und auch mit den Standardund Kompetenzdiskussionen zu bislang unberücksichtigten Bedürfnislagen der LernerInnen im Umgang mit Literaturwissen aufzuschließen. Das hat innerhalb weniger Jahre mit Fug und Recht die Diskussionen um Input- oder Output-Orientierungen, um angemessene Lehr- und Lernformen, um effizientere neumediale Lehrmethoden und Lernformate, um den zu befragenden Stellenwert von Einführungen und Propädeutika, wie um mehr vergleichendes und empirisch nachgewiesenes Qualitätsmanagement in der (hoch)schulischen Unterrichtsforschung hervorgebracht, kurz: Es hat das Professionswissen über das ebenso komplexe wie notwendige Zusammenspiel von fachlich didaktikwissenschaftlicher Forschung und Entwicklung überhaupt erst dadurch sorecht ins Blickfeld und Bewusstsein einer berufs- wie bildungswissenschaftlich orientierten Klientel gerückt.

    Ich will im Folgenden solche Fragestellungen aufwerfen und akzentuieren, die uns in einer gemeinsamen inter- oder multinationalen Zukunft der Fachdidaktiken beschäftigen. Um diese sich wandelnden Anliegen etwas klarer zu markieren, möchte ich deshalb zunächst eine Änderung der Terminologie vorschlagen. Fortan soll von Literaturlehrforschung statt von Literaturdidaktik die Rede sein. Literaturlehrforschung wird künftig sicherlich überall dort gestärkt werden können, wo in konzertierter Aktion, in gegenseitiger Unterstützung für Konzepte von »Literatur Lehren Lernen« gemeinsame, nationenübergreifende Überlegungen angestrengt werden. Weniger entscheidend dürfte dabei eine frühere Streitfrage über den Leistungsstatus von Literaturverstehen und Selbstkonzept sein – etwa die Kontroverse, ob es sich bei ihr im strengen Sinne eher um eine »Kunst oder Wissenschaft« handelt (Paefgen 1997).

    Und wem der Begriff Fach-Didaktik eher als ein garstig Lied, ob im Duktus der Unterweisung oder fachpädagogischer Überlegenheit erscheint, dem wird der neutralere Begriff der Literaturlehrforschung vielleicht schon etwas angenehmer und zeitnäher im Ohre klingen. Wer in der Didaktik eines Faches immer nur eine Sache des fachförmig und gegenstandsorientiert angeleiteten Studierens gesehen hat, dem wird eine Neukonzeption, wie sie die Öffnung der Didaktik hin zu einer »Öffentlichen Didaktik« verlangt, hoffentlich zugängliche Anschlussmöglichkeiten bescheren.

    Es gibt bedeutsame und berechtigte Zugänge, die die literaturbezogenen Vermittlungstätigkeiten kombinatorisch gleichsam als Guthaben langer Traditionen wie auch als aktuelle Anpassungen und Herausforderungen ausrichten. Ich denke hier zum Beispiel an die wache Fähigkeit, auf lebendige Lehr- und Lernformen des Literaturgesprächs, des sinnvoll navigierenden Lehrbriefs, der diskursiven Lehrkunst generell einzugehen. Ich denke aber auch an die notwendige Diskussion um Belange einer Renaissance der Literaturvorlesungen und die fachdidaktische Neubewertung des guten Belehrens im Sinne des Wiedergewinnens und der offensiven Pflege eines wohlverstandenen prodesse et delectare. Gerade hier wäre das gelungene Wiener Beispiel anzuführen, das die Präsentation und Aufnahme von Literatur und der an ihr beteiligten Fragestellungen und Parameter einmal in erfreulicher Weise mit Event-Charakter verbindet, das im WS 2006/07 unter dem schönen Label, Wiener Universitätsvorlesung »√Vorlesung2«, relevante Aspekte mithörbar und mitlesbar zerlegt, gleichsam multiple Beteiligungsprozesse von metadidaktischer Reichweite durch Podcasts ubiquitär nachvollziehbar vermitteln hilft.1

    Ein gewisser Konsens dürfte sicherlich bestehen: Mehr und veränderte Sichtweisen auf die Dimensionen von »Literatur Lehren Lernen« sind notwendig geworden; zentral ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die gleichnamige, innovative Publikation der beiden Wiener Herausgeberinnen, Susanne Hochreiter und Ursula Klingenböck, die 2006 ihre Sammlung von Einreden gut platziert mit der notwendig deutlichen Akzentuierung dieser fach- und hochschuldidaktischen Dimensionierungen in einen ganz neuen und aufregenden – und längst noch nicht abgeschlossenen – Qualitätsdiskurs einbrachten (Hochreiter/Klingenböck 2006). Was Literaturlehrforschung in künftiger Perspektive alles berücksichtigen könnte, ist in diesem Pionierband besonders nachhaltig angestoßen worden und hat instruktiv als Ideenpool und Meilenstein für weitere gemeinsame Planungen – was auch für den vorliegenden Band gilt – fortwirken können. Nicht zuletzt durch diese Publikation zur rechten Zeit wurde unser Essener multinationales Rundgespräch über Fragen der »Literaturlehrforschung« im Frühjahr 2007 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen am Wissenschaftszentrum NRW angeregt. Bestehende grenzübergreifende Interessen belegen österreichisches, schweizerisches und deutsches – in jüngster Zeit auch aus Polen nachgefragtes – Engagement hinsichtlich einer Aufgeschlossenheit für die Internationalisierung der fachdidaktischen, hier speziell der literaturvermittlungs- und kulturvermittlungsdidaktischen Forschung, Lehre und Entwicklung. Dabei ist trotz mancher Differenzen hinsichtlich von Gegebenheiten an den einzelnen Standorten eine ganze Reihe von zukünftig gemeinsam zu bearbeitenden Feldern und Interessenlagen abgesteckt worden. Ich nenne hier zusammenfassend als wichtige Unternehmungen:

    –den Wunsch nach der dauerhaften Einrichtung einer multi- und transnationalen Verständigungsplattform, auf der über Modellierungsprozesse einer vergleichenden Fachdidaktik als Vermittlungswissenschaft und als zentrales Terrain von kulturwissenschaftlich orientierten Fachdidaktiken reflektiert wird;

    –die Notwendigkeit der Initiierung von eigenständigen, stärker noch zu strukturierenden schulstufen- wie studiengangsspezifischen Vergleichsbeobachtungen und Qualitätsdiskussionen inklusive des Austausches über Verfahrensweisen und Ergebnisse empirischer Wirksamkeitsforschungen sowie einer den modernen Erfordernissen angemessenen Implementierung kritischer Lehr- und Lernmittelforschung in diversen Schulformen, Hochschulen, Universitäten und Institutionen der Weiter- und Fortbildung;

    –die Unterstützung von Überlegungen hinsichtlich des Wandels von NutzerInnengruppen an der Wahrnehmung, Rezeption, Mitgestaltung von »literarischem Leben« sowie der intergenerativen Einschätzung und Bewertung auf diesem Felde anzusiedelnder genuiner Leistungspotenziale im Umgang mit Literaturen;

    –die Suche nach temporären oder auch dauerhaften Schnittstellen zwischen einer sich den nationenübergreifenden Belangen der »Literaturlehrforschung« stärker öffnenden Hochschullehre und den aktuellen Fragen und Entwicklungen innerhalb einer sich rasch verändernden und um Selbstverständigung wie Orientierung suchenden Kulturöffentlichkeit, zu der unsere Studierenden als künftige Lehrende und KulturweitervermittlerInnen auf verschiedenen Niveaus, in verschiedenen Institutionen gehören werden und deshalb rechtzeitig und angemessen darauf vorzubereiten sind;

    –die deutlichere Fokussierung der Arbeit mit Studierenden auf die Erstellung und Evaluation eigens gestalteter literaturkultureller Arbeitsprozesse und -produkte, um deren Kennzeichen von Gemachtheit und Modellierbarkeit durch entsprechende offene Seminarangebote stärker als Phänomene einer mitgestaltbaren ›Kultur im Prozess‹ wahrnehmbar werden zu lassen.

    Das alles bietet den entscheidenden Vorteil für LiteraturnutzerInnen aller Altersgruppen, eigene kulturelle und literarische didaktische Vermittlungsprozesse in ihrer Interdependenz schrittweise spürbar, miterlebbar und nachhaltig partizipierbar zu machen, um ihnen ihre Arbeit mit Literaturwissen in Schule, Studium und Lebensspanne begleitend näher zu bringen und mit verschiedenen Berufsfeldern selbst kompatibel zu machen. So wird es möglich, an eigenen Objekten und Szenarien selbst aufzuzeigen und ausloten zu lernen, welche großartige und unausgeschöpfte Ressource diese vorzügliche Domäne Literatur und deren Vermittlungsressourcen als lebendige und anschlusskommunikative Lehr- und Lernräume für eine letztlich unabschließbare ›Kultur in Funktion‹ zur Verfügung hält. Die Aufmerksamkeit muss sich auf mehrfache Zielperspektiven einer übernational zu konturierenden Literaturlehrforschung richten:

    Erstens plädiere ich deshalb für eine Auseinandersetzung mit neuen Fragestellungen einer selbstbewussten ›Literaturlehre‹ im Kontext literarischen Lernens. Dazu zählt auch das Wissen darüber, dass als ein offenes und prinzipiell unabschließbares System »Literatur als Ganze[s] über das umfassendste Wissen vom Menschen« (Griesheimer/Prinz 1992, S. 37) verfügt. Zweitens weise ich auf die Notwendigkeit einer Öffnung dieses Profils mit Blick auf zu erweiternde Zielgruppen innerhalb eines literaturdidaktischen Servicegedankens hin und tue dies beispielgebend, wie im Folgenden gezeigt und ausgeführt werden soll, unter Rubrizierungen wie »Öffentliche Didaktik«, »Seneszenzforschung«, aber auch »fachdidaktische Kulturrezeptionsforschung«.

    2. »Ohne Ö fehlt dir was« oder literaturdidaktische Profilierung im Kontext von Öffentlicher Didaktik

    Im schulischen Literaturunterricht wie auch in universitären Literaturseminaren, die der Ausbildung künftiger DeutschlehrerInnen und professioneller KulturvermittlerInnen dienen, haben Lernstandserhebungen und Evaluationen inzwischen Einzug gehalten. Und dort dürfte allen Beteiligten klar sein, dass eine Orientierung an messbaren Kompetenzen und ein modernes Bildungskonzept sich notwendig verschränken müssen. Es gilt zu akzeptieren, dass es sehr viel mehr Lehr- und Lernkulturen gibt, die für eine professionelle Literaturlehrforschung von Bedeutung sind, als die Schulweisheit sich das je hat träumen lassen. Nehmen wir den Literaturunterricht eher als spezifische Form des Kulturunterrichts wahr, dann verfügt gerade dieser über entscheidende Schnittstellen zur literarischen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und zu deren polyfunktionalen Konzepten, wenn, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, etwa in der heutigen Kulturöffentlichkeitslandschaft Alternativkonzepte von beinahe werkentbehrlicher Autorschaft entwickelt werden. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine andere, sehr eigenwillige Art der Kanonisierung, wie ich sie einmal am Beispiel der Verfilmung von Die Manns. Ein Jahrhundertroman durch Heinrich Breloer beobachten konnte und beschrieben habe (Thielking 2004), bei der Medienkult und -kultur weitgehend ohne jede Lektürekenntnis auszukommen bereit waren und dennoch implizite Vorstellungen von einem Dichter medial biografisierend evozierten (Thielking 2002, S. 209 f.)! Hier wäre aber auch an all jene Modellierungen von Einstellungen zur Erinnerungskultur, zum Erzählen, Erinnern und Vergessen ebenso wie zum narrativen Lernen als Lerngegenstand und Lernmedium des Kulturverstehens überhaupt zu nennen.

    Die Etablierung einer weiter gefassten Literaturlehrforschung mit ihrer Referenz auf Öffentliche Didaktik wäre dann keine Entwicklung, wie es scheinen könnte, neben, sondern zunehmend eine, die innerhalb der Fachlehr- und Fachlernkulturen anzusiedeln wäre. Bei der Profilbildung dieser anderen Fachlehr- und Fachlernkulturen gibt es naturgemäß deutliche Berührungen und einen ausgeprägten Kollaborationsbedarf mit der Ethnologie, der Kulturhistorie, der Event-Wissenschaft, den Literaturinstitutions- und Museumsdidaktiken (vgl. Lange-Greve 1995).

    Keine Frage, dass auch Konzepte von »Local knowledge« (Clifford Geertz), »Area Studies« und Varianten von »Lernen vor Ort« als zu entwickelnde Konzepte gerade im Kontext von passgenauen und attraktiven Schulprofilbildungen künftig zunehmend eine immer prägnantere Rolle spielen werden. Der Erwerb von möglichst vielfältigen Anregungen zur Mitarbeit an der sukzessiven Profilbildung der Einzelschule wie des einzelnen Instituts liegt im Fokus der Literaturausbildung in Schule wie Hochschule.

    In einer Zeit der lebhaft wachsenden Popularität von öffentlichem Schreiben und Mitlesen, der Nutzung von Reading rooms und Lesesälen, von Lesebörsen und der Vorsorge um Gedächtniserhalttrainings gibt es gerade bei Belangen einer Konturierung und anstehenden Ausfaltung von Literaturvermittlung im Verständnis einer Öffentlichen Didaktik deshalb einen hohen Diskussions- und Verständigungsbedarf in unserer Disziplin.

    Dieses hatte seinerzeit schon der in einem produktiven Sinne strittige Denkmalsdiskurs und seine Grundlegung in kulturell-literaler Gedächtniskonzeption (vgl. Erll/Nünning 2005) oder die Diskussion um Erinnerungspolitik (James E. Young) angedeutet und gezeigt, aber auch jede auf Nutzung und Verstehen innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen zielende ›Bearbeitung‹ literarischer Angebote für eine kulturell sich verständigende und vermittelnde Öffentlichkeitsarbeit weist auf die Notwendigkeit hin, dieses Desiderat in fachdidaktischer Hinsicht zu füllen bzw. überhaupt erst in seinen Dimensionen zu sichten. Von hier aus werden Forderungen verständlich, nicht allein die Ausbildung zu DokumentaristInnen und anderen üblichen Medienberufswirklichkeiten zu berücksichtigen, sondern eben gerade auch kulturdidaktische ›VermittlungsvermittlerInnen‹ und professionelle Schreibwie LeseberaterInnen an den Hochschulen auszubilden.

    Nehmen wir zum Beispiel den schulischen wie hochschulischen Literaturunterricht mit Gradunterschieden als jeweilige Eingangsportale und Zustiege in Konstruktionen von Kulturwissen und diese Ermächtigung zur Anleitung als eine Schlüsselkompetenz ernst, dann ist gerade das Ziel einer »Literaturvermittlungslehre« als ein Durchschauen und Einüben in Erinnerungskultur und als ein Beobachten, Begleiten (Mentoring) und ›Übersetzen‹ vielfacher Prozesse der Kulturteilhabe, inklusive der eigenen reflektierten Ein- und Fortschreibung in ihr, zu verstehen. Bei der Position von Literaturvermittlung im Rahmen einer postulierten Öffentlichen Didaktik (Thielking) ist vorerst noch von einem Desiderat auszugehen.

    Schon Wolfgang Hegele spielte in seiner groß angelegten Längsschnitt-Darstellung über »Literaturunterricht und literarisches Leben in Deutschland (1850–1990)« auf eine bislang bloß angedeutete, geschweige denn schon ausreichend erforschte »enge Verbindung zwischen schulischer und publizistischer Didaktik« (Hegele 1995, S. 25) an, was weitere Hinweise auf die Entstehung und langsam beginnende Wirksamkeit einer – wenn auch noch nicht unter diesem Begriff firmierenden – Öffentlichen Didaktik nach 1900 liefert.

    Eine heutige kulturwissenschaftlich und übernational orientierte und agierende Literaturlehrforschung ist im Kontext der Leitgedanken von Andenken und Eingedenken, von Jetztzeitwahrnehmung und reflektiertem Welt- und Ichbezug anzusiedeln und im schulischen Literaturunterricht wie in Seminarprogrammen zu verankern (vgl. Kammler 2005). Insbesondere möchte ich hier auf Pia Jankes (Wien) ambitionierte Überlegungen zum praxisbezogenen Konnex von »Lehren, Lernen und Öffentlichkeit« (Janke 2006) verweisen oder auf Wernfried Hofmeisters (Graz) Anregungen zu einem »öffentlichen Seminar-Projekt« (Hofmeister 2006) rekurrieren; alle diese Anstrengungen hinsichtlich literarischer Kulturvermittlung zeigen an, dass gerade in österreichischen germanistischen Instituten ein gutes Stück dieses Weges schon beschritten wurde und dass gemeinsame grenzüberschreitende Fragestellungen und weiterführende Zusammenarbeit hohe Priorität haben.

    Mein vorläufiges Fazit zielt deshalb auf Wünsche nach einem breiteren Spektrum an Lehr- und Lernhandlungen (nicht allein im sensiblen Einführungsbereich); vielmehr

    –brauchen wir mehr Lehrende, die bereit sind, ihre Hochschularbeit als Literaturlehre und Literaturlehrforschung transparent zu machen und für eine wachsende Nutzeröffentlichkeit offensiv zu vertreten;

    –brauchen wir diejenigen, die die kultur- und öffentlichkeitsdidaktischen Dimensionen in ihrer Praxis mit bedenken;

    –benötigen wir die Reflexion, die die Bedingungen kultureller Wertschätzung und -schöpfung und gerade auch deren generative Bedeutsamkeit als fortwährendes Anregungspotenzial im Rahmen einer Literaturlehrforschung als Wissenschaft von Life Science mit bedenkt.

    3. Literaturlehrforschung über das »dreißigste Jahr« hinaus: Lebensspannendidaktik und Seneszenzforschung

    Es muss sich die Ansicht durchsetzen, dass es weitere fachdidaktisch relevante Aufgabenfelder und Domänen gibt, darunter immer häufiger auch solche jenseits von Regelbeschulung und Bildungsganginstitutionen sowie Einrichtungen des engeren Berufslebens. Gerade im Freizeit- und Informationszusammenhang sind auch die älteren und alternden Lesenden und Lernenden als fachdidaktisch relevante Zielgruppe erst noch zu entdecken! Die älter Werdenden und deren nur in Teilbereichen deutlich abnehmende, aber in vielen Bereichen gut zu stimulierende Lese- und Lernprofilierungen sind gerade für die Didaktik der Literaturvermittlung eine wichtige, in den nächsten Jahrzehnten stetig anwachsende Klientel.

    Vor diesem veränderten Hintergrund gilt es gerade auch, Schulbücher und Unterrichtswerke, ebenso wie fachdidaktische Ratgeberliteraturen daraufhin zu durchforsten und auf ihre Adäquatheit und Funktionalität gegenüber diesen Fragen und Bedürfnisänderungen anzusehen – nicht ganz unähnlich wie dies vor mittlerweile drei Jahrzehnten im Hinblick auf die nationalen Stereotypen in Lehrwerken geschehen ist. Im Zuge von Modernisierungsanpassung und Innovationsdruck ergibt sich eine kritische Durchsicht, Überarbeitung oder auch Neugestaltung einschlägiger Schulbücherangebote und Studienmaterialien. Sie werden wahrscheinlich Beobachtungen Ursula M. Staudingers Recht geben und bestätigen, dass zum Beispiel das Alter und Altern erst unzulänglich und nur wenig adäquat – zudem selten positiv und anschließbar – dargestellt ist. Das scheint insbesondere für literarische Konfigurationen und Lösungsmuster (Altersimmobilität, Altersstarrsinn, Altersweisheit) zuzutreffen, die zuweilen an erstaunlich stereotypen Mustern festhalten. Hier scheint noch kaum eingeflossen bzw. auch nur annähernd genügend berücksichtigt zu sein, »dass die kognitive Mechanik und Pragmatik unterschiedliche Altersverläufe zeigen« (Staudinger 2000, S. 91) kann und welche fachdidaktischen Schlüsse daraus zu ziehen sind.

    Nach Staudingers Beobachtungen im Rahmen ihrer Lebensspannenpsychologie scheint sich die wichtige und zentrale Grundeinsicht zum Altern zu bestätigen, dass nämlich die Konstruktionen von Alter nicht erst im Alter selbst, sondern bereits früh in der Kindheit und Jugend entstehen, dann über lange Zeit unangetastet bleiben und oftmals entgegen empirischer Erfahrung und in Widerspruch und Kontrast zur erlebten Wirklichkeit als einmal fixierte Wahrnehmungen äußerst hartnäckig als Barriere weiterwirken.

    Es geht demnach nicht nur vordergründig in diesem vernachlässigten bzw. von Klischees oder Verklärung verstellten Feld um die Sichtung und Sicherung von Adäquatheit allein, sondern es geht im Grunde um die Implementierung und Ausformung von Anpassungen, aber auch von neuen Visionen und stimmigen Modellierungen, die bei der Pluralisierung von dem, was wir unter »Alter« verstehen wollen, als gestaltbare Komponenten mitwirken. Es müsste hier also längst ein offener alterskulturell neuprofilierender Mitmodellierungsprozess im Fluss sein! Dabei dürften nicht nur an flexibleren Arbeitszeitmodellen und an Berufsphasen orientierte Adaptationen eine große Rolle spielen, sondern es stellt sich auch die Frage, ob man sich ›dem Alter‹ vom kulturellen Sektor her weiterhin allein mit Angeboten von Gedächtniskompensation, Memorier- und Lebenskunst oder Lebensphilosophie nähern kann. Selbstredend spielt auch die Modellierung von Vorbildern, wie sie durch Multiplikatoren wie Literatur, Film, Medienumwelten perpetuiert werden, gestaltend mit. Etwas überspitzt formuliert könnte man einwenden: Hatte die immer längere Ausdehnung der adoleszenten Lebensphase (U30) in verschärfter Weise die Ich-Modellierungen einer postmodernen Literatur(vermittlungs)szene hervorbringen und fördern können, so wird die All- und Langgegenwart des immer ausgedehnteren Alters analog veränderte Positionen, Projektionen und Modellierungen der Literaturangebotsstrukturen und der zugehörigen Vermittlungssituationen entwerfen und generativ übergreifend für Nutzer zwischen »Ü30« bis »U100« hervorbringen. Dabei werden dann selbstverständlich auch andere und abweichende Dezisionen zu Lebenskunst oder Kunstleben einschneidende Bedeutung erlangen.

    Derzeit überschlagen sich bereits die öffentlichen Medien mit Aktions- und Themenwochen, mit Interviews- und Streitrunden hinsichtlich der Gestaltung von Diskursen über »die neuen Alten«. Und schon meinen Vertreter der politischen Kulturen hier zur Besonnenheit mahnen zu müssen und sanktionieren deshalb vorkonfrontative unsoziale Stimmungsmache zwischen den ungleich umfänglich aufgestellten Generationenblöcken. Auch auf dem Buchmarkt lässt sich seit geraumer Zeit die Schlacht um Gewinnanteile an den silver novel readers beobachten und eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber solchen Themenkomplexen des Alters und Alterns, flankiert von immer mehr Essays und Erfahrungsberichten, wiederfinden. Man könnte festhalten: Alter ist uns allen gewissermaßen ein Stückchen näher gerückt, ist authentischer, aber auch vom Markt stärker wahrgenommen.

    Die Fachdidaktik wie auch die Literaturwissenschaft scheinen das Thema zu verschlafen; das hat möglicherweise auch mit einer Portion Befangenheit oder Betriebsblindheit im Zusammenhang mit der Virulenz des gerade sich vollziehenden Generationswechsels zu tun. Jahrzehntelang hat dieses Thema eher wenig Beachtung gefunden und allenfalls der Reife des alternden (meist männlichen) Dichters oder Kulturkritikers angehört (nach dem tradierten Vorbildmuster eines alten Fontane, eines alten Benn, eines Alterslyrikers wie Grass). Oder aber es wurde als einsamer Ruf des gerade von jedem Mainstream sich abkehrenden Solitärs und Außenseiters unter ihnen gehört. Es schien nur ein ›Kontext‹ zu sein, etwa für den brüchig gewordenen Remigrierten oder auch für vereinzelte Holocaust-Überlebende, die an ihrem Altern entweder die Einsamkeit, Körperverfallserscheinungen (vgl. Marcuse 1975) oder ein letztes Recht (z.B. zur Selbsttötung im Alter) eingeräumt und vorgeführt sahen (Améry 1968). Oder es gehörte ganz einfach den grantelnden, mitunter selbst darin kokett spielenden Frühgreisen – siehe Thomas Manns einlassende Rede vom »Nachlassen der rezeptiven Lust« (Mann 1990, S. 678) –, denen das Schwellenspiel mit dem herausfordernden Alter etwas zu früh und mitunter bis zur Absurdität entstellt und unzutreffend zu Gebote stand.

    So scheint seit geraumer Zeit diese Stafette – quasi in einer Art forciertem Genderwechsel – an feuilletonistische Autorinnen oder Vorzeigefrauen aus dem Literaturund Medienkulturbetrieb übergegangen zu sein. So findet etwa eine eher misanthropisch gestimmte Hannelore Schlaffer den roten Faden im Alter im »Traum von Jugend« wieder und spinnt ihr Garn in Suhrkamps Bibliothek der Lebenskunst (Schlaffer 2003) oder die renommierte Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger sieht unter den Figuren von alten Menschen (resp. Männern) in der Literatur das King-Lear-Phänomen variiert und bestätigt (Klüger 2004), während Feministinnen wie Silva Bovenschen ihrerseits nun in losen Notizen über das Alter räsonieren und lamentieren (Bovenschen 2006), derweil die ZDF-Moderatorin Petra Gerster hinter die Wendemarke 50 schaut (Gerster 2007) oder Anne Wills Debattenrunde die Generationenfrage stellt, so wie die Politikerin Ursula von der Leyen über den Umgang mit den Altersverlusten beim Vater in Talkshows Auskunft gibt. Es scheinen vor allem eben jene »Frau[en] von fünfzig Jahren« zu sein, die die eigene Einrückung in einen neuen Generationsabschnitt mit der öffentlichen Aufklärung über die Potenziale des Älterwerdens verbinden.

    Ich möchte abschließend auf zwei Feldern in die angedeutete Richtung weisen; im ersten Fall lenke ich am Beispiel einer neuen Dimensionierung von Literaturlehrforschung den Blick auf andere Zielgruppen, im Fokus stehen dann die Ideen von lifespan didactics, d.h. die Empfehlungen der Lebensspannenpsychologie und die sich daraus ableitenden Binnendidaktiken. Sie öffnen den Blick auf die sich abzeichnenden literaturfachdidaktisch relevanten Überlegungen hinsichtlich einer deutlicheren Berücksichtigung aller Lebensaltersgruppen, möglichst im Verbund. In diesem Zusammenhang werden nun inter- und hypergenerative Bezugspunkte bei der Verankerung der Literaturlehrforschung zunehmend wichtiger und ausschlaggebender. Aufs Ganze gesehen gab es in der Vergangenheit überwiegend eine juvenil ausgerichtete und fixierte Literaturdidaktik, die sich nicht zuletzt wegen der entwicklungspsychologischen Unterrichtsorientierung in der Regel als literaturbezogene Adoleszenzforschung entpuppte und sich zum Beispiel mit einer U20- oder U30-Literaturszene intensiver beschäftigte. Hier hat die Literaturdidaktik lange Zeit im fachdidaktischen Interesse an adoleszenten Entwicklungs-, Reifungs- und Reibungsprozessen und deren Thematisierung und Spiegelung in der literaturdidaktischen Forschung eine Art von Alleinstellungsmerkmal gesehen.

    Aber es gibt darüber hinaus faktisch eine zunehmend drängende und an Bedeutung gewinnende Notwendigkeit einer Umorientierungsperspektive für Fragen kulturgerontologischer Literaturdidaktiken, die die Lektürevermittlungspraktiken während unserer immer länger werdenden Seneszenzphasen erforscht und nach Veränderungen und Anpassungen im so genannten »Dritten« (65–80 Jahre) oder auch »Vierten Alter« (älter als 80) fragt, und dabei nicht einfach über »Bücher, mit denen ich alterte« spricht, wie der späte Gottfried Benn es im März 1954 in einem lesenswerten Essay mit dem Titel Altern als Problem für Künstler ausgedrückt hat (Benn 2006).

    Institutionalisierte Literaturvermittlung umfasst eine schon früh (d.h. lange vor der eigenen Wahrnehmung des Alterns) einsetzende, letzten Endes lebenslange Aufgabe zwischen der kurzen Kindheit, der hingegen immer länger sich dehnenden Adoleszenz (erster Wende- oder Erosionspunkt um das 30. Lebensjahr) (Papp 2004) und schließlich, glaubt man den demographischen Prognosen, der uns bevorstehenden sehr langen Seneszenz. Sinnvolle Anpassungen dieser Entwicklungslage in den Curricula der Literaturlehrforschung an diese veränderte Situation brauchen demnach mehr und deutlicher eine solche Lifespan-Orientierung, müssen sich sowohl frühzeitig – diachron – im weiteren Bildungs- und Individuationsgang mit den Dimensionen der Alterungsentwicklung und der Behaltensleistungsfähigkeit befassen, gleichzeitig aber auch – synchron – phasenübergreifende anschlussfähige Binnen(fach)didaktiken für einzelne Lebensaltermilieus und deren Anforderungsprofile und Übergangsmerkmale formulieren. Die Forschungen Ursula M. Staudingers vom »Jakobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development« an der International University Bremen haben hier erste Wege curricularer Einflussnahmen angedeutet und aufzuzeigen begonnen. Ihnen sollten die forschenden und lehrenden Fachdidaktikinstitutionen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken. Selbstverständlich heißt das für die Entwicklung der Literaturlehrforschung auch, dass diese konsequent, zum Beispiel in eine entsprechende professionelle Leseund Lerndidaktik im Rahmen von Life Science-Angeboten sowie in gezielte Lektürepraxen oder auch Lernumgebungsanalysen münden müssen.

    Diese Art von spezieller Literaturlehrforschung, jedenfalls in ihrem Selbstverständnis einer erweiterten literaturbezogenen Kulturdidaktik, ist folglich an einer Berücksichtigung der Bedingungen und Formen des literarischen Umgangs aller Lebensalter in ihrem Zusammenspiel und in ihren generativen Bezügen interessiert. Folglich muss sie sich und entsprechend ihre Curricula dahingehend umtun und kritisch befragen lassen, um neben der Fürsorge um die Adoleszenten auch literarisch kulturelle Aspekte unserer schon jetzt und künftig langen Seneszenz aufzugreifen.

    Das bedeutet, um es gleich vorweg zu nehmen, auch wenn es der Start aktueller Feuilletonserien zu Gehirnjogging-Verfahren anders suggerieren mag, nicht allein Verfallserscheinungen aufzuhalten und ihnen mit kompensatorischer Alten(nach)-schulung (Spätförderung wie Frühförderung) zu begegnen, Arbeitsfähigkeit zu verlängern und Fitnesstrainingseinheiten für das Gedächtnis bereitzustellen. Es bedeutet vielmehr auch, dass eine literaturgestützte, lebenslang veränderbare und reflektierte Auseinandersetzung mit den Phänomenen des lesenden und lernenden Alters und Alterns bereits ab den frühesten Unterrichtsklassen einen festen Platz im Curriculum des Deutschunterrichts und Literaturstudiums einnehmen sollte.

    Eine Parallele zu dem angedeuteten frühzeitigen Handlungsbedarf ist etwa in der Diskussion um die Modi der Leseförderung vorgezeichnet, die in der Vergangenheit weitgehend an die frühkindliche Lesesozialisation geknüpft blieben, wohingegen generative und gerontologische Aspekte weitgehend ausgeschlossen wurden. Das muss sich ändern!

    Es scheint über aller fraglosen Relevanz der aktuellen Kompetenzdiskussionen (was befähigt mich wozu und wie lässt es sich standardisiert auf unterschiedlichen Ebenen erwerbbar, beschreibbar und überprüfbar machen) der letzten Jahre etwas Entscheidendes in Vergessenheit geraten zu sein. Ich meine die ebenso schlichte wie zutreffende Erkenntnis, dass Lehr- und Lernkultur immer auch ein Stück weit durch ein begleitendes Literaturstudium, ja literarisches Leben vermittelte Lebenskultur bedeutet, in der nie auszulernen ist, und die neben allen fachlich fundierten deklarativen Wissensbeständen von Orientierungswissen auch nach didaktischen Kompetenzmustern sowie nach einer über und in Institutionen vermittelten Anleitung und Unterstützung zum optimalen Lektüre- und orientierenden Lebensgenuss verlangen. Gerade die wachsende Nachfrage nach Leseempfehlungen, Lektüreleitfäden und Ratgeberliteraturen offenbart hier einen erheblichen Bedarf an Vergewisserung und Stärkung, auf den Literaturlehrforschung zu reagieren hat. Und auch das Fachdidaktiker-Team Greiner/Abraham betonte seinerzeit den aktuellen Stellenwert »lehrhafter Literatur«, wonach eigene »Wissensbestände und Werthaltungen beim Lesen prinzipiell immer zur Disposition« (Greiner/Abraham 2002, S. 58) zu halten seien. Erste Ansätze zu einer sinnvollen Einbettung dieser Thematik von »InnovatAging« (so das Programmwort einer Hannoveraner Initiative zum Lernen im Alter, gemeinsam von Universität und Volkshochschule initiiert) in kulturgerontologischen wie altersübergreifenden Curricula zeichnen sich im Bereich von Hochschul- und Erwachsenenbildung bereits ab.

    Während sich hingegen Literaturwissenschaft und ihre Fachdidaktikwissenschaft mit herausfordernden Themenaspekten wie Tod und Sterben gelegentlich beschäftigt haben (vgl. Liessmann 2004), ist das Thema der Alternsprozesse und der Folgen für Lesen und Lernen weitgehend doch ein unbeschriebenes Blatt geblieben. Sowohl fachdidaktische Überlegungen zu generativen Bezügen im Sinne von Age Studies als auch regionale Aspekte im Sinne von Area Studies sind dazu eher noch eine Seltenheit geblieben.

    4. Alter: na(t)iv oder schon im allerfrühsten Schulalter werden unsere Vorstellungen vom Leben und Lernen im Alter hartnäckig vorgebildet

    Belange des Alterns sind also fachdidaktisch weitgehend unbekannte und unbeachtete Größen. Auch Lesen und Lernen als Life Science ist bislang zu wenig in fachdidaktisches Denken und Handeln eingedrungen. Dabei ergibt sich die Schwierigkeit divergenter Zielgruppen mit abweichenden Interessenlagen. Ab wann sollen unser Wissen über Alter und unsere fachdidaktische Aufmerksamkeit, gar Intervention, greifen: ab 30plus, 50plus, 65plus oder 80plus etc.? Sollen jeweils Eigenprofile, gar Teilcurricula des Alters erstellt und markiert werden oder soll didaktisch gleichsam nachentlastet werden, indem gerade immer wieder kolportierte, zunehmend obsolet gewordene, reine Abfolgemodelle der Lebensalter konsequent durchbrochen bzw. vernachlässigt werden?

    1927 konnte noch der deutsche Schriftsteller Thomas Mann in einer amerikanischen Zeitschrift den Zeitgeist bedienen und sich mit dem Altersfaktor 50 greisenhafter Koketterie hingeben. Heute werden um dieselbe, immer noch durchaus als sensibel empfundene Markierung der Lebenszeit herum allerdings ganz veränderte und weittragende Lebensentwürfe entwickelt und – frühere Vorstellungen und Schemata umstülpend – als notwendig erachtet:

    Die Fünfzig überschritten, hat man meiner Erfahrung nach manchmal noch große Lust zu schreiben; mit dem Lesen aber, leider, ist es seit Jahr und Tag schon nicht mehr wie ehedem. Erinnert man sich des literarischen Appetits seiner Jugend, gedenkt man, was alles einem gefallen konnte, woraus man noch Nahrung zu ziehen wußte, so schämt man sich seines mürrischen Greisenalters. Immer heikler macht einen die Zeit, was Lektüre betrifft, je reichlicher diese sich anbietet und aufdrängt; immer seltener wird, was uns halten kann, und das wäre trauriger, als es ist, wenn nicht dem Nachlassen der rezeptiven Lust eine gesteigerte Dankbarkeit entspräche für das, was sie gelegentlich in alter Frische wiederherzustellen scheint. (Mann 1990, S. 678)

    Das lange und nicht mehr sukzessiv retrograd empfundene Altern wird, wie wir heute ahnen, schon nach wenigen Lebensjahren offenbar und die Tatsache, dass es dräut, bleibt ab da keinem verborgen, es lässt sich eine Zeitlang ausblenden, aber eben auch gestalten. Selbst eine immer länger gewordene Adoleszenz kann nicht darüber hinweg täuschen, und das ist paradox, dass wir schon kurz darauf und immer früher dem (unwissenden) Alter zugeschlagen werden. Die Ausmusterung beginnt oftmals erstaunlich früh, derzeit erlebt eine ganze Studierendengeneration, erst um Mitte zwanzig, das beruflich am eigenen Leibe, wer nicht Bachelor- und Masterstudiengänge anvisiert oder durchläuft, der gehört bereits in den »alten«, d.h. vormaligen Studiengängen zum alten Eisen und steht unter Veralterungsverdacht!

    Müssen wir also Kinder und Jugendliche auf die Vielkorrigierbarkeit und zwar nicht als einsinniges Ablaufprocedere des Alterns besser – und ganz anders als dies seit Jahrhunderten geschah – vorbereiten? Wie wir über Alter/n denken und es empfinden, das wird in den frühen Lebensjahren

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