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Das Sterntalerexperiment: Mein Leben ohne Geld
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Das Sterntalerexperiment: Mein Leben ohne Geld
eBook282 Seiten3 Stunden

Das Sterntalerexperiment: Mein Leben ohne Geld

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Über dieses E-Book

Zwischen 1996 und 2016 lebte Heidemarie Schwermer ohne Geld. Schritt für Schritt ist die ehemalige Lehrerin und Psychotherapeutin aus den bestehenden Strukturen ausgestiegen und in eine neue Freiheit hineingewachsen. Ihr Buch ist nicht nur die Beschreibung eines intensiv und engagiert gelebten Lebens, sondern zugleich eine Ermutigung, unser Wertesystem zu überdenken und alternative Formen des Miteinanders zu wagen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Juni 2019
ISBN9783739274737
Das Sterntalerexperiment: Mein Leben ohne Geld
Autor

Heidemarie Schwermer

Heidemarie Schwermer (1942 - 2016) was born in Memel, East Prussia. She was two years old when her family were forced to flee to the west. After training to be a primary school teacher, she found her first job at a joint Primary and Secondary school near Kiel. She decided to give up teaching as she wasn't able to bring her pedagogical ideas to life. She moved to Lüneburg in 1982 where she studied psychology and sociology. She retrained as a Gestalt therapist and set up her own practice in Dortmund. In 1994, she founded Give and Take Central, and subsequently gave up her home two years later. From then on, she devotedly lived without money for the rest of her life.

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    Buchvorschau

    Das Sterntalerexperiment - Heidemarie Schwermer

    Aires)

    ERSTER TEIL

    KAPITEL 1

    Lehr- und Wanderjahre

    Das Versprechen

    Zu meinem zweiten Geburtstag bekam ich eine Puppenstube. Meine Freude muss groß gewesen sein, jedenfalls sehe ich mich noch heute begeistert durchs Zimmer springen und lachend in die Hände klatschen. Meine beiden älteren Brüder, meine Mutter und Ella, das Kindermädchen, freuten sich gut gelaunt mit der Kleinen. Wir lebten damals in Memel, wo mein Vater eine Kaffeerösterei hatte. Gehabt hatte. Jetzt war er schon länger fort, im Krieg, sagten die Großen.

    Mir waren nur wenige glückliche Monate mit meinem kleinen Spielzeugreich vergönnt. Im Sommer 1944 spürte ich im Haushalt eine Unruhe, die mir zunächst unerklärlich blieb. Erst verschwand die heißgeliebte Puppenstube auf dem Dachboden, dann wurden alle Möbel im Haus mit Decken verhängt. Mutter und Großmutter begannen, verschiedene Sachen für eine Reise zusammenzupacken. Nur das Nötigste, versicherten sie einander, wir kommen doch bald zurück. Und dann stand wieder einmal das Pferdefuhrwerk bereit, mit dem wir schon so manchen Sonntag fröhlich aufs Land kutschiert waren. Aber die Stimmung war diesmal eine andere. Mutter weinte und meine Brüder waren ungewohnt schweigsam. Und noch etwas war anders als sonst: Die Straßen waren voller Menschen mit Pferd und Wagen. Wir reihten uns in die Kolonne ein und ab ging’s.

    Ich verstand nicht, was da passierte. Aber ich hatte Angst und fing an zu weinen. Meine Mutter konnte sich nicht richtig um mich kümmern, sie hatte genug mit meiner kleinen Schwester zu tun, die damals sterbenskrank war und trotzdem aus dem Krankenhaus geholt worden war. Keiner hatte Zeit für mich. Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Ich war nicht mal drei Jahre alt und wollte nach Hause zurück, in mein warmes Bett, zu meinen Kuscheltieren. Als meine Mutter meine Not bemerkte, versuchte sie mich zu trösten. »Pscht, meine Kleine, alles wird gut«, flüsterte sie. Aber ich spürte, dass gar nichts gut werden würde, auch nicht am nächsten Tag oder am übernächsten. Den Pferdewagen gaben wir später irgendwo ab und fuhren mit der Bahn weiter. Die Züge waren überfüllt, kalt und ungemütlich. Die Reise war beschwerlich und nicht ungefährlich. Meine Mutter schnappte sich bei jedem Halt einen großen Kochtopf und rannte zu den an der Strecke gelegenen Bauernhäusern, um etwas Essbares für ihre vier Kinder und Großmama zu erbetteln. Diese Ausflüge waren für uns jedesmal eine Tortur, wir wussten nie, ob die Mama rechtzeitig zurück sein würde. Einmal fuhr der Zug tatsächlich ohne sie los, wir schrien aus Leibeskräften, aber ob unsere lautstarke Verzweiflung oder irgendwelche anderen Gründe die Waggons wieder zum Halten brachten, weiß ich bis heute nicht.

    Ein paar Mal mussten alle sehr schnell aussteigen und unter den nächststehenden Bäumen Schutz suchen. Der Himmel war dann plötzlich voller Flugzeuge, die nicht nur den Zug beschossen, sondern auch die Menschen. Nach jedem dieser Angriffe wuchs die Angst. Wir wussten: Einige Mitreisende lagen tot an der Strecke. Manchmal blieb der Zug stundenlang stehen, ganze Ewigkeiten, und keiner wusste, wann und ob es weitergehen würde.

    Inzwischen hatten wir ein paar Tausend Kilometer zurückgelegt, von Ostpreußen bis nach Süddeutschland und dann wieder ein Stück Richtung Norden. In Verden an der Aller war die lange Reise vorerst zu Ende. Die örtlichen Familien hatten sich am Bahnhof versammelt, um uns in Empfang zu nehmen. Wir waren Flüchtlinge, das hatte ich endlich begriffen, und die Menschen, die hier wohnten, mussten uns aufnehmen, ob sie wollten oder nicht. Viele wollten nicht und ließen uns das deutlich spüren. Sie waren verärgert, weil sie mit den besitzlosen Fremden, die der Krieg hierher verschlagen hatte, teilen sollten. Wir allerdings hatten Glück: Der Bauer, der uns mitnahm, war ein guter Mensch; er und seine Frau verwöhnten uns Kinder nach Kräften. Zu Ostern durften wir Eier suchen und ein paar Wochen lang gab es für alle reichlich zu essen. Mutter und Großmutter halfen den Gastgebern bei der täglichen Arbeit. Es war ein Tauschen und Teilen, Geben und Nehmen in freundlicher Atmosphäre, und fast hätte ich darüber das Leid der vergangenen Monate vergessen.

    Aber der Krieg war noch nicht vorbei und Mama machte sich Sorgen um die Verwandtschaft. Sie hatte erfahren, dass der Rest der Familie in Schleswig- Holstein gelandet war und wollte nun unbedingt auch dorthin. Vergeblich versuchten die netten Bauern, uns zum Bleiben zu überreden. Die Reise ging weiter. Die Verwandten fanden wir dann auch, aber mit dem Geben und Nehmen machten wir diesmal andere Erfahrungen. Nur widerwillig wurden wir von einer Bauernfamilie aufgenommen, mehr als eine kleine Kammer war nicht für uns übrig. Wir waren ihnen lästig und fühlten uns überflüssig und armselig. Wir hungerten, wieder einmal. Der Krieg ging zu Ende, die alte Heimat war endgültig verloren, ein Zurück gab es nicht. Wie viele andere Leidensgefährten mussten wir uns in der neuen Situation einrichten, irgendwie. Um unseren Hunger zu stillen, sammelten wir auf den Feldern übriggebliebene Ähren und später Kartoffeln. Oft zog die ganze Familie mit Körben und Eimern in den Wald, um Beeren zu suchen.

    Die Bauern, bei denen wir wohnten, teilten nicht mit uns. Die köstlichen Düfte, die das Haus durchzogen und bis in unsere Kammer drangen, machten uns zwar den Mund wässerig, aber leider nicht satt. Schließlich nahm meine Mutter eine Stelle als Feldarbeiterin auf einem Gut an, für ein bisschen Butter und Milch. Nebenbei gab sie den Bauerntöchtern der Umgebung Klavierunterricht. Entlohnt wurde sie in kostbaren Naturalien: Kartoffeln, Brot, Eier und Mehl. Irgendwann kehrte mein Vater aus dem Krieg zurück, kam zu uns nach Norddeutschland und fing sofort mit den Planungen für eine eigene Firma an. Ganz langsam entstand wieder so etwas wie ein »normaler« Alltag. Aber die Erfahrungen der vergangenen Jahre waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich war ein stilles, nachdenkliches Mädchen mit viel Phantasie.

    Als ich in die Schule kam, war ich wild entschlossen, ganz schnell Lesen zu lernen. Als ich es konnte, öffnete sich mir ein völlig neue Welt. Mein erstes eigenes Buch war ein Märchenbuch mit dicken, holzigen Seiten. Mit diesem Schatz hockte ich oft in meiner Blätterhöhle, die ich mir in einer Hecke gebaut hatte. Ein Platz für mich und für die Prinzessinnen und Prinzen aus dem Märchenbuch, mit denen ich hier Stunden und Tage verbrachte, ganz und gar versunken in eine Welt, die mir gerechter und besser erschien als die wirkliche. Hier in meiner Höhle holte ich mir Kraft und entwickelte erste eigene Vorstellungen, wie das Leben sein könnte – sein sollte, wenn es nach mir ginge. Ich war sehr davon beeindruckt, dass in fast jeder dieser Geschichten das Böse besiegt wird und die Liebe triumphiert. Ja, so eine Welt wollte ich auch.

    Stattdessen hatte ich erfahren müssen, dass Menschen auf andere Menschen schießen, dass die einen den anderen alles wegnehmen und dass die, die genug haben, denen, die hungern, nichts abgeben. Warum musste ich meine Spielsachen zurücklassen und monatelang in kalten Zügen hungernd und frierend durch Gegenden fahren, in denen Tote am Wegesrand lagen? Warum wurde ich jetzt, nur weil ich ein Flüchtlingskind war, als Lumpenpack beschimpft und ausgelacht, weil ich keine richtigen Schuhe besaß, sondern nur welche aus Holz? Wer sollte das verstehen? Und vor allem: Was hatte ich in einer solchen Welt verloren? Ich glaube noch heute, dass Märchen symbolischen Charakter haben. Und ich weiß, dass jeder einzelne Mensch dazu beitragen kann, diese Erde schöner und lebenswerter zu gestalten. Geahnt haben muss ich das wohl schon damals, in meiner einsamen Märchen-Blätterhöhle. Jedenfalls sehe ich es noch genau vor mir, wie das kleine traurige Flüchtlingsmädchen sich selbst ein großes Versprechen gab: »Ich werde alles dafür tun, an einer schönen Welt mitzuwirken. In dieser Welt soll es keine Kriege mehr geben. Und jeder Mensch soll in Würde leben.«

    Das Internat – ein Schritt in die Freiheit

    Flucht und Nachkriegszeit forderten ihren Tribut. Aus der fröhlichen Zweijährigen von einst war eine echte Heulsuse geworden. Bei jeder Kleinigkeit brach ich in Tränen aus, sehr zum Missvergnügen meiner lieben Nächsten. Außerdem war ich ständig krank, zweimal ging es sogar um Leben und Tod. Eine eifrige Schülerin war ich trotzdem. Schon auf der Grundschule habe ich alles, was die Lehrer sagten, begierig aufgenommen.

    Mein Ziel war von Anfang an klar: Ich wollte die Welt verstehen. Und dafür strengte ich mich an, so sehr ich konnte. Auf jeden Fall wollte ich Abitur machen, um später einmal selbst Lehrerin werden zu können.

    Die ersten fünf Jahre musste ich ein Knabengymnasium besuchen, weil es keine andere Schule in der Nähe gab. Täglich radelte ich morgens acht Kilometer hin und nachmittags acht Kilometer zurück, bei Wind und Wetter, im Sommer und im Winter. In meiner Klasse waren fünf Mädchen und 20 Jungen. Es waren schwierige Zeiten, in jeder Hinsicht, und nachdem ich einmal sitzen geblieben war, beschlossen meine Eltern, mich nach Rendsburg in eine Art Internat zu schicken, in ein so genanntes Mädchenheim, in dem die Schülerinnen während der Woche blieben und nur am Wochenende nach Hause fuhren.

    Es war die richtige Lösung für mich. Die schüchterne Heulsuse blühte endlich auf. Im Umgang mit den anderen Mädchen stellte ich rasch fest, dass ich von den Jungen aus meiner früheren Schule und vor allem von meinen Brüdern eine ganze Menge gelernt hatte. Von wegen Zimperliese! Unternehmungslustig wusste ich die Dynamik der reinen Mädchengruppe zu nutzen und probierte komplett neue Verhaltensweisen aus. Plötzlich gehörte ich, die die neunte Klasse wiederholen musste, zu den besten Schülerinnen. Das zaghafte Sensibelchen verwandelte sich wieder in ein fröhliches Geschöpf, das überall mitreden wollte und konnte.

    Mehr denn je wollte ich Lehrerin werden. Mit meinen Nachhilfeschülerinnen, die ich zwecks Aufbesserung des Taschengeldes angenommen hatte, konnte ich schon mal üben. Und sehr bald hatte ich gelernt, mein Wissen auf spielerische Art weiterzugeben.

    Das Leben im Heim förderte den Gemeinschaftssinn ungemein. Wir unternahmen viele Dinge zusammen und hatten viel Spaß dabei. Das galt vor allem für unsere Mädchenband, die sich »Nervensägen« nannte. Ich war die »Schlagzeugerin«, das heißt, ich hämmerte begeistert auf einen ganz normalen Kochtopf ein, um Rhythmus ins Spiel zu bringen. Einmal wurden wir ausgepfiffen, aber das störte die Künstlerinnen nicht weiter. An manchen Abenden gab’s für die rund 30 Heimmädchen Lesungen, an anderen wurde gebastelt, gesungen, getanzt oder gespielt. Oder wir feierten richtige Feste – insgesamt war es eine sehr schöne Zeit. Ich fühlte mich wohl und vor allem: Ich war so gut wie nie mehr krank.

    Obwohl meine Eltern nicht besonders streng waren, ging es mir ohne sie und meine Geschwister einfach besser. Im Heim fühlte ich mich freier, glücklicher, ohne familiäre Zwänge. Hier erwartete keiner ein bestimmtes Wohlverhalten, um den Nachbarn oder sonst wem zu gefallen. Hier durfte ich einfach Mensch sein, hier durfte ich alles allein entscheiden, und das gefiel mir gut. Zwar gab es Vorschriften, aber die wurden sehr großzügig ausgelegt. Beinahe fühlte ich mich richtig erwachsen, denn beim Erwachsensein sollte es ja wohl genau darum gehen: Um Eigenverantwortung und Selbstbestimmung.

    Kann es sein, dass ein Mensch sich besser entwickelt, wenn er weniger kontrolliert wird? Oder ist die berühmte Nestwärme doch wichtiger als die Freiheit? Diese Frage beschäftigt mich seit damals, und ohne wirklich zu einer letztgültigen Antwort gekommen zu sein, habe ich mir als junges Mädchen im Rendsburger Heim fest vorgenommen, dass meine Schüler und möglichen eigenen Kinder einmal in den Genuss der Freiheit kommen sollten, die für mich eine reine Freude war.

    Auch über Krankheiten dachte ich viel nach. Warum war ich früher, als unglückliche Zimperliese, so oft krank, und jetzt so selten? Macht eine gesunde Seele den Körper gesund? Wenn dem so wäre, grübelte ich, dann wären Medikamente keine Lösung. Dann musste einfach dafür gesorgt werden, dass jeder Mensch sich wohl fühlt, dass es ihm seelisch gut geht. Fragen über Fragen taten sich auf, und ich stellte mich ihnen mit Vergnügen. Ich bestand das Abitur und freute mich sehr aufs Studium, von dem ich mir viele Antworten erhoffte.

    Studium – eine neue Welt

    An der Pädagogischen Hochschule in Kiel taten sich neue Welten auf. Endlich erhielten meine ambitionierten Grübeleien eine solide theoretische Grundlage. Psychologie fand ich besonders spannend, schließlich ging’s hier um Menschentypen und dazugehörige Verhaltensweisen, also um das, was mich seit der Blätterhöhle so brennend interessierte. Ich war Studentin mit Leib und Seele. Mit vor Aufregung hochrotem Kopf verfolgte ich die Vorlesungen und begann – endlich, endlich – das eine oder andere zu begreifen. Warum zum Beispiel verschiedene Menschen in bestimmten Situationen ganz unterschiedlich handeln. Es war eine Offenbarung für mich, von den vier Grundtypen zu hören, dem Sanguiniker, dem Choleriker, dem Phlegmatiker und dem Melancholiker. Das berühmte und einleuchtende Beispiel von der Hürde, jedem Psychologie-Erstsemester wohlvertraut, amüsiert mich noch heute. Hopp, sagt der Sanguiniker lachend und springt über das Hindernis. So ein Ärger, schreit der Choleriker und tritt wütend dagegen. Kann man nichts machen, sagt der Phlegmatiker und kehrt wieder um. Warum muss ausgerechnet mir das passieren, jammert der Melancholiker und geht auch zurück. Ich machte mir einen Spaß daraus, meine Freunde und Bekannten typmäßig zu bestimmen. Ließen sie sich leicht einordnen oder gehörten sie zu den zahlreich existierenden Mischtypen? Und vor allem: Was ist eigentlich mit mir? Und weiter gefragt: Sind diese typbedingten Eigenschaften angeboren oder werden sie im Lauf der Jahre erworben? Haben wir also eine Chance, unseren Typ zu verändern, oder sind wir unseren Fehlern und Schwächen hoffnungslos ausgeliefert? Ich fand das alles unglaublich spannend und gratulierte mir immer wieder dazu, dass ich mich für dieses Studium entschieden hatte.

    Auch die Pädagogik gefiel mir. Hier erfuhr ich viel über Menschen, die ihr Leben dazu genutzt hatten, das Leben anderer glücklicher zu machen. Ich war fasziniert von Makarenko, der gewalttätige Kinder und Jugendliche von der Straße holte und mit ihnen gemeinsam ein Heim gründete, in dem die Kinder bei allem Mitspracherecht hatten, respektiert wurden und sich dadurch weiterentwickeln konnten. Ja, dachte ich. Das ist es. Das will ich auch. Ich möchte etwas schaffen, bei dem die Menschen sich so angenommen fühlen, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommen, irgendwo einen Krieg anzuzetteln.

    In den Seminaren wurden auch andere Pädagogen vorgestellt, die auf Vertrauen statt Strafe setzten. Eine damals noch revolutionäre Vorstellung. Fast unheimlich. In den Schulen war die Prügelstrafe noch längst nicht abgeschafft, und die gelegentliche oder regelmäßige Ohrfeige gehörte fest zum Erziehungsprogramm des Durchschnitts-Deutschen. Strafe muss sein! Kaum einer hatte je davon gehört, dass man Kinder nicht schlagen sollte. Der alte Spruch von Zuckerbrot und Peitsche galt nach wie vor. Andererseits war ein Aufbruch zu spüren, eine erste, noch sehr zaghafte Auflehnung gegen den »Muff von Tausend Jahren«. Nach den Vorlesungen gab es lange, lebhafte Diskussionen. Die Studenten waren leidenschaftlich bei der Sache.

    In den Semesterferien arbeitete ich in der Fabrik, um Geld fürs Studium zu verdienen. Hier lernte ich Menschen kennen, die jahrein, jahraus dieselbe stumpfsinnige Arbeit taten, die ich kaum sechs Wochen lang aushielt. Sie taten mir schrecklich Leid. Das ist doch kein Leben, dachte ich. Aber ich konnte nichts für sie tun. Oder doch? Irgendwann?

    Zum Lehramtsstudium gehörten diverse Praktika an Schulen. Das war auch gut so, denn alsbald mussten wir verkopften Kandidaten feststellen, wie grausam die Realität sein kann, wie frech und laut die Kinder sein konnten, die sich nicht um unsere wunderbaren pädagogischen Ansätze scherten. Kilometerweit klafften Theorie und Praxis auseinander, und Ratlosigkeit machte sich breit. Wie kann das sein, fragte ich mich. Pestalozzi und die anderen haben doch so viel erreicht. Sie haben das Stückchen Welt, das sie in Angriff genommen haben, verändert, haben ihre großartigen Ideen umgesetzt. Vielleicht, dachte ich, lag es einfach daran, dass sie ihre Ideen gelebt haben. Ja, das musste die Lösung sein.

    Theorie und Praxis

    Nach dem ersten Staatsexamen wurden die Lehramtskandidaten auf ganz Schleswig-Holstein verteilt. Bilsen sollte in den nächsten Jahren meine Heimat sein. Das Dorf zählte nur einige Hundert Seelen und die Schule, an der ich künftig arbeiten würde, hatte nur zwei Klassen: Die Erst- bis Viertklässler besuchten die Grundstufe, die Fünft- bis Neuntklässler die Hauptstufe. Zu dem hübschen kleinen Neubau gehörte ein Flügel mit Lehrerwohnungen. Ich wurde als Klassenlehrerin für die Kleinen eingeteilt, musste aber auch ein paar Stunden bei den Großen unterrichten. Der Arbeitsplatz gefiel mir. Mein Kollege, der bereits kurz vor der Pensionierung stand, war emsiger Hobbygärtner, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Das ländliche Idyll inspirierte mich, aber etwas fehlte mir doch: Als begeisterte Sportlerin mit Schwerpunktfach Leibeserziehung wollte ich nicht akzeptieren, dass es weder eine Sprunggrube noch irgendein Sportgerät gab.

    Um diesem Manko abzuhelfen, musste ich zunächst den Bürgermeister überzeugen, der als Schirmherr der Schule bei jeder Veränderung mitreden durfte. Das war kein unüberwindbares Problem, da ich den Herrn ohnedies täglich besuchte. Das Dorfoberhaupt arbeitete nämlich hauptberuflich als Landwirt, und ich kaufte meine Milch bei ihm. Oft begleitete ich ihn sogar in den Kuhstall, pausenlos auf ihn einredend. Wie wichtig Schulsport sei. Wie sehr es der Gesundheit und dem Gemeinschaftsgefühl der Kinder nutzen würde, wenn sie regelmäßig trainieren könnten. Es gebe doch bereits einen Spielnachmittag im Wald, versuchte der Bürgermeister die übereifrige Jung-Lehrerin abzuwimmeln. Aber nur bei schönem Wetter, konterte ich. Und außerdem sei mir das zu wenig. Ich wolle richtige Geräte, die man zu bestimmten Zeiten in einem Klassenraum aufbauen könne. Die müssten nicht mal gekauft werden, säuselte ich, längst hätte ich mit anderen Schulen und Sportvereinen der Umgebung Kontakt aufgenommen und Leihgaben ausgehandelt. Schließlich kapitulierte der Schirmherr. Statt des gewohnten »Wat schall dat« und »Bruuk wie doch nich« knurrte er eines glücklichen Tages »Mienswegen«. Sofort leitete ich alles Nötige in die Wege. Binnen Tagen gab es einen Barren, einen Kasten, drei Bodenmatten, Bälle, Reifen, Keulen und Ähnliches. Die Kinder freuten sich mindestens so sehr wie ich über das neue Schulfach.

    Aber das war nur der Anfang. Längst hatte ich in Gedanken die große Wiese vor dem Schulgebäude zum Sportplatz umfunktioniert. Und ich war mit meiner Idee nicht mehr allein: Die Mütter und Väter meiner

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