Stellwerk: Edition Moonflower - Band 3
Von Eve Grass
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Über dieses E-Book
Erscheinungsturnus: Vierteljährlich.
Alle Novellen sind in sich abgeschlossen.
Inhalt Band 3 (»Stellwerk« von Eve Grass):
»… Täglich stellt er die Weichen für eine Dampflok, die auf unbekannten Gleisen dahinrast und alle ins Unglück stürzen wird, die jemals diesen verfluchten Ort betreten haben«, flüsterte Clara.
Ein vor vielen Jahren aufgegebenes Stellwerk nahe der Grenze zur Tschechischen Republik.
Ein tragisches Ereignis.
Und ein düsteres Familiengeheimnis.
Clara von Halbrechtshausen ahnte schon lange, dass ihre Mutter ihr etwas verschweigt. Doch was haben ihre Träume von einem kleinen Mädchen und einer Ruine im Wald damit zu tun? Welch dunkler Fleck befindet sich in der Vergangenheit ihrer Familie.
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Buchvorschau
Stellwerk - Eve Grass
ERSTER TEIL
1
Das Telefon im Obergeschoss schrillte überlaut. Der kleine Klöppel, der gegen eine Stahlhülse trommelte, hätte Tote aufwecken können. Gleich darauf knarrten Stufen unter den eiligen Schritten eines Mannes. Mitten im nächsten Klingeln verstummte der Apparat.
»Stellwerk Habichtshaupt … Zug zwo-fünf-zwo-null … verstanden!«
Ein schwerer Hebel wurde stöhnend umgelegt. Das Atmen des Mannes wurde sogleich von einem lauten Rattern übertönt. Starke Drahtzugleitungen erwachten zum Leben, glitten über Umlenkrollen und durch dunkle Schächte, um die Weiche zu stellen.
Im Untergeschoss, dort wo die dicken Zugdrähte in engen Tunneln verschwanden, huschten panisch Ratten ans Licht. Sie kannten die Gefahr.
Schritte aus dem Erdgeschoss drangen zu ihm hinauf.
In dem Moment ertönte ein grässlicher Schrei.
Mit einem Ruck kamen die Seile zum Stillstand.
Die Muskeln des Mannes traten hervor, als er mit beiden Armen versuchte den Hebel, der die Weiche für die Einfahrt des Zuges stellt, komplett herunterzuziehen.
Augenscheinlich klemmte der.
Eine rote Sicherungsplombe, die das Überdehnen der Klinkenfedern am Weichenhebel verhindern sollte, brach knackend entzwei.
»All… Allmächtiger!«, stammelte er und eilte wieder nach unten. Aber es war bereits zu spät.
»HILF MIR!«, schrie jemand.
Ein Kinderarm erschien in blutrotem Nebel, dann verschwamm die furchtbare Szene, die der Schlafenden ein lang gezogenes Stöhnen entlockte.
2
Clara erwachte schweißgebadet. Sie setzte sich im Bett auf und starrte auf den Digitalwecker. 05:05 Uhr informierte die Anzeige. Eigentlich könnte sie jetzt noch eine Stunde schlafen. Aber der erneute Traum war so intensiv gewesen, dass die jüngere Frau von Halbrechtshausen seufzend ihre Füße unter der Daunendecke hervorzog und auf den kühlen Steinboden stellte. Immer und immer wieder quälten sie diese eigenartig schaurigen Sequenzen eines Albdrucks. Es war ein kleines Mädchen mit naturblonden Locken, welches sich des Nachts in ihren Kopf stahl und um Hilfe bat. Zuerst waren es nur harmlose Träume gewesen. Das Kind tollte jedes Mal über eine blühende Lichtung und lockte sie mit ihren drallen Ärmchen hinter sich her, bevor es urplötzlich im dichten Wald verschwand. Seitdem Clara ihr einmal im Traum nachgeschlichen war, hatten sich die Szenen verändert und stellten ihr ein neues Rätsel. Jetzt tauchte eine Ruine auf, die tief im Wald verborgen lag. Wenn sie sich den verwitterten Grundmauern näherte, wurde das Lachen des Kindes von einem durchdringenden Klingeln übertönt, das immer lauter wurde. Ring … ring … ring … schallte es regelmäßig durch Claras Kopf, bevor sie erschöpft die Augen aufschlug.
Der letzte Traum hatte all die anderen nächtlichen Visionen bei Weitem übertroffen. Die Geräusche waren so real gewesen. Entstammten sie einem Bahnhof? Und was hatte das mit dem Mädchen und der Ruine im Wald zu tun?
Die Frau mit den langen Haaren, die ihr als Schülerin den Spitznamen »Squaw« eingebracht hatten, begab sich ins Bad ihrer Erdgeschosswohnung. Später würde sie die Treppe ins Obergeschoss des Herrenhauses hinaufsteigen und mit ihrer betagten Mutter darüber reden. Sie hegte schon seit längerer Zeit die Vermutung, dass diese irgendetwas mit den seltsamen Träumen, die sie heimsuchten, zu tun haben könne.
3
Ann-Katrin von Halbrechtshausen kam nur noch mühsam aus dem Bett. Der frühe Morgen und das damit verbundene Aufstehen waren ihr verhasst. Seitdem ihr Ehemann Bodo vor etlichen Jahren bei einem Autounfall verstorben war, fehlte ihr jeglicher Antrieb, unter der wärmenden Daunendecke hervorzukriechen. Am liebsten hätte sie sich tagsüber in ihrem überdimensionierten Schlafzimmer im Herrenhaus verkrochen, heißen Tee getrunken und dicke Romane gelesen, bis das sanfte Mondlicht vom Ende eines weiteren sinnlosen Tages künden würde. Aber vom Erdgeschoss drangen schon die vertrauten Geräusche ihrer Tochter Clara zu ihr nach oben. Die Wasserleitung rauschte im alten Gemäuer des Anwesens, ein Radio spielte leise. Bald würde sie das unverwechselbare Tappen von Claras Hausschuhen auf der Steintreppe hören. Jeden Morgen sah sie nach ihr. Immerhin war Ann-Katrin bereits zweiundachtzig Jahre alt und konnte die Sorge ihrer Tochter gut verstehen. Aber in letzter Zeit stellte diese unbequeme Fragen – Fragen, die sie nicht beantworten wollte und die sie immer wieder in die Vergangenheit zurück katapultierten.
Noch bevor Clara an ihrem Bett auftauchte, stahlen sich an jenem Morgen die Erinnerungen an einen perfekten Sommertag im Jahr 1958 in ihren Kopf.
4
Ein Zug rollte durch sattes, hochsommerliches Grün Richtung Osten dahin. Das Rattern der Eisenräder auf den Schienen wirkte einschläfernd.
Ann-Katrin blinzelte, während ihre Augen der dahinhuschenden Landschaft zu folgen versuchten. Schon lange hatte die Blondine mit den künstlichen Locken kein Gebäude mehr gesehen. Vorbeiziehende Bäume, Felder und Wiesen ließen Ännchens Pupillen zucken und lösten so einen Schlummereffekt in ihr aus. Sie wäre lieber in einem der hochmodernen Personenzüge durch eine pulsierende Großstadt hindurchgezischt. Aber hier – am Rand der Welt, wie sie die Gegend heimlich bezeichnete – gab es eben keine größeren Ansiedlungen mehr. Die Dampflok zog die wenigen Waggons in Richtung Grenze zur Tschechoslowakei, wo der Zug enden würde. Ihre Großeltern wohnten dort in einem Dorf, welches aus drei Häusern bestand. Habichtshaupt schimpfte sich der Weiler, der wohl nach dem Ableben von Oma und Opa den Füchsen und Wölfen zufallen würde, denn die beiden