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Die Frau vom Schwarzen See: Geschichte einer Auswanderin
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Die Frau vom Schwarzen See: Geschichte einer Auswanderin
eBook408 Seiten5 Stunden

Die Frau vom Schwarzen See: Geschichte einer Auswanderin

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Über dieses E-Book

Im Jahr 1870, mitten im eisigen böhmischen Winter, klettert die Magd Agnes Pangerl aus dem Fenster um den Nachstellungen des Bauern zu entkommen. Gemeinsam mit Schicksalsgenossen macht sie sich auf den langen, beschwerlichen Weg nach Amerika. Sie ist fest entschlossen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ihr Glück zu machen. Im Elend der New Yorker Armenviertel zerplatzen alle Träume von einer besseren Zukunft. Getrieben von Armut und Verzweiflung lässt sie sich auf ein waghalsiges Abenteuer ein. Sie heiratet einen Mann, den sie noch nie gesehen hat und folgt dessen Ruf ins ferne Kanada. Aber wieder macht ihr das Schicksal einen Strich durch die Rechnung und sie muss von vorne anfangen. In der neuen Heimat findet sie aber auch gute Freunde, die ihr das harte Leben in der Fremde erleichtern. Allen voran ihr Nachbar Sebastien, für den sie bald mehr empfindet als nur Freundschaft.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Dez. 2019
ISBN9783750215788
Die Frau vom Schwarzen See: Geschichte einer Auswanderin

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    Buchvorschau

    Die Frau vom Schwarzen See - Anna-Irene Spindler

    Geschichte einer Auswanderin

    „Das Jahr 1848 öffnete das Tor für die Einwanderer

    vorübergehend weit –

    es sollte sich bis 1914 nie mehr ganz schließen.

    Innerhalb von sechs Jahrzehnten wanderten

    beinahe 400 000 Menschen

    aus den böhmischen Ländern aus."

    Josef Polišenský

    („Tschechische und Deutschböhmische Auswanderung nach Amerika")

    Für meine Großmutter Marie Pangerl und meine Mutter Maria Mundl.

    Schon als kleines Kind haben sie mir Geschichten aus dem Böhmerwald erzählt. Vom armseligen Leben der Kleinhäusler und auch davon,

    dass die Einwohnerschaft ganzer Dörfer

    gemeinsam nach Amerika auswanderte und

    nur die Alten zurückblieben.

    3. Februar 1870

    Mit einem energischen Ruck zog sie den Knoten fest. Das karierte Tuch aus fester Baumwolle, das sie sich bei der Küchenarbeit immer als Schürze umband, enthielt ihre gesamten Habseligkeiten. Zu einem Bündel verschnürt lag es jetzt vor ihr auf dem Bretterboden der winzigen Kammer. Im schwachen Licht der flackernden Kerze sah sie sich noch einmal um. Vier Jahre hatte sie in dem Zimmerchen gehaust. Jetzt sah es genauso kahl aus wie an dem Tag, als ihr die Großmagd die Schlafstelle zugewiesen hatte. Mühsam richtete sie sich auf. Zwei Unterleibchen, zwei Unterröcke, eine Bluse, zwei Röcke und das gute Sonntagskleid, lange Unterhosen und zwei Paar Strümpfe hatte sie über einander angezogen. Eine derbe Lodenjacke, ein großes wollenes Kopftuch und klobige Lederstiefel, die über die Knöchel reichten, vervollständigten ihre Kleidung. Was sie am Leibe trug konnte ihr nicht gestohlen werden. Außerdem schützten die vielen Schichten gegen die klirrende Februar Kälte und den schneidenden böhmischen Wind. Sie tastete über ihren Bauch. Überprüfte, ob der Leinenbeutel festsaß.

    Gestern war Lichtmess gewesen. Da hatte sie ihren Lohn bekommen. In diesem Jahr war es noch viel weniger als sonst. Denn nach alter Tradition hatte ihr die Bäuerin als Teil der Entlohnung ein Paar neue Winterschuhe spendiert. Geld war ihr zwar immer lieber gewesen als Naturalien, aber in ihrer Lage waren die derben Schuhe mit dem groben Profil ein wahrer Segen. Die mageren Ersparnisse der vergangenen zehn Jahre steckten nun zusammen mit ihren Ausweispapieren und dem Dienstbüchlein in dem Beutel, den sie sich mit zwei starken Bändern um den Leib gebunden hatte.

    Sie schloss kurz die Augen. Dann atmete sie tief ein, blies die Kerze aus und öffnete vorsichtig die Tür. Angestrengt lauschte sie. Aber nichts war zu hören. Das ganze Haus lag in tiefstem Schlummer. Leise machte sie die Tür wieder zu und klemmte die Lehne des Stuhls unter die Klinke. Nur für den Fall, dass der Bauer heute Nacht schon die Idee hatte, zu ihr in die Kammer zu kommen. Die Fensterflügel öffneten sich vollkommen lautlos. Gut, dass sie gestern die Beschläge noch mit Schweineschmalz eingeschmiert hatte. Sie warf ihr Bündel hinaus und kletterte, durch die vielen Kleidungsschichten behindert, ungelenk hinterher. Ehe sie das Fenster zuschob, nahm sie noch den Knochen mit, den sie am Mittag aus der Küche mitgenommen und auf dem Fensterbrett deponiert hatte. Der war für Harras, den wilden Hofhund. Nachts wurde er aus dem Zwinger gelassen und seine Kette an einem Drahtseil befestigt, das vom Haus quer über den Hof zur Scheune gespannt war. Hatte er einmal angefangen zu kläffen, konnte ihn nur der Großknecht zum Schweigen bringen. Oder aber ein Mitbringsel. Hinter dem Birnbaum, der gleich neben ihrem Kammerfenster wuchs, hatte sie einen Reisigbesen versteckt. Im Rückwärtsgehen verwischte sie sehr sorgfältig ihre Spuren im frischen Schnee. Die weißen Flocken segelten zwar sacht vom nächtlichen Himmel und würden bald alles zudecken. Aber über ihrer Kammer schlief die Großmagd. Falls diese aus irgendeinem Grund in der nächsten halben Stunde zum Fenster heraus schaute, würde sie die Fußspuren sicher entdecken.

    Die Kette klirrte leise. Harras war auf sie aufmerksam geworden.

    „Psst! Ganz ruhig! Ich hab‘ hier was ganz Feines für dich", flüsterte sie in die Dunkelheit hinein. Ein drohendes Knurren war die Antwort.

    Mit aller Kraft warf sie den Knochen in die Richtung, in der sie Harras vermutete. Ein leises Jaulen erklang. Dann war nur noch das kratzende Geräusch der scharfen Zähne zu hören, die am Knochen nagten. Einen Fuß hinter den anderen setzend überquerte sie den Hof. Endlich war sie so weit entfernt, dass die Spuren ihrer Schuhe im Schnee vom Haus aus nicht mehr gesehen werden konnten. Energisch schleuderte sie den Reisigbesen über den windschiefen Zaun. So viele Jahre war er ihr steter Begleiter gewesen. Im Stall, im Hof, im Hausflur, in der Küche, überall hatte sie mit ihm und seinen unzähligen Vorgängern gefegt. Tagein, tagaus. Winters wie Sommers. Aber damit war jetzt Schluss! Mochte sich doch jetzt die Großmagd mit ihm plagen. Für sie begann ein neues Leben.

    Als sie den Schutz des Gehöfts verließ, pfiff ihr der eisige Wind mit aller Macht ins Gesicht. Er zerrte an ihren Röcken und dem Kopftuch. Aber zuversichtliche Vorfreude erfüllte sie ganz und gar und wärmte sie von innen heraus. Sie nickte vor sich hin, als sie den Fahrweg erreichte und energisch ausschritt. Ja, sie tat das Richtige! Ganz sicher!

    In einer der nächsten Nächte, vielleicht sogar schon heute Nacht, wäre der Bauer in ihre Kammer gekommen. Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Zu eindeutig waren seine anzüglichen Worte und Gesten in den letzten Wochen gewesen. Anna, eine Kleinmagd genau wie sie selbst, war vor sechs Wochen von heute auf morgen vom Hof verschwunden. Anna schlief in der Kammer neben ihr. Manche Nacht hatte sie die eindeutigen Geräusche gehört, die von der Anwesenheit des Bauern zeugten. Sie wusste, dass Anna den Bauern nicht freiwillig in ihre Kammer gelassen hatte. Er hatte sie gezwungen. Wie schon so viele Mägde vor ihr. Und sie war genauso verschwunden wie schon so viele Mägde vor ihr. Allesamt hatte der Bauer geschwängert. Selbstverständlich wusste die Bäuerin davon. Sie tat jedoch nichts dagegen, denn auf diese Weise kam der Bauer nicht zu ihr ins Bett und sie hatte ihre Ruhe. Aber die Klausner-Bäuerin hatte all den unglücklichen Frauen eine andere Anstellung besorgt und ihnen sogar stets ein bisschen Geld mitgegeben.

    Nun wäre die Reihe an ihr gewesen. Aber daraus würde nun nichts werden. Zu gerne hätte sie das Gesicht des Bauern gesehen, wenn er im Nachthemd zu ihr geschlichen kam und sah, dass der Vogel ausgeflogen war.

    Ja, sie tat das Richtige! Sie fand sich nicht mehr mit dem armseligen Leben ab, das schon so viele Frauen ihrer Familie geführt hatten. Unzählige Generationen hindurch waren ihre Vorfahren Inwohner gewesen. Immer so arm, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen waren, die traurigen Hütten zu kaufen, in denen sie hausten. Erst ihr Urgroßvater war zu einem Häusler aufgestiegen. Er hatte es geschafft, einem Bauern eine halb verfallene Kate und ein wenig Grund abzukaufen. Die Parzelle war jedoch so winzig, dass es nur zum Anbau von ein paar wenigen Reihen Kartoffeln reichte. Also mussten sich er, seine Frau und auch die fünf Kinder weiterhin als Knechte und Mägde verdingen. Und so war es auch bei ihren Großeltern und deren Kindern gewesen. Ihr eigener Vater war mit noch nicht einmal vierzig Jahren beim Holzmachen von einem Baum erschlagen worden. Die Mutter war ihm nur fünf Jahre später nachgefolgt. Abgehärmt und entkräftet durch die jahrelange Unterernährung, war sie an Lungenentzündung gestorben, nachdem sie sechs ihrer sieben Kinder bereits im Säuglingsalter begraben hatte.

    Dieses armselige Schicksal hatte sie wie ein furchterregendes Schreckgespenst stets vor Augen gehabt. Deshalb hatte sie an dem Tag, als die Kleinmagd Anna verschwand, einen Entschluss gefasst. Sie, Agnes Pangerl, vierundzwanzig Jahre alt, aus Depoltowitz im Böhmerwald, Untertanin von Franz Josef dem Ersten, von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich und König von Ungarn und Böhmen, würde alles hinter sich lassen!

    Hoffnungsfroh stapfte sie durch den tiefen Schnee Schritt für Schritt ihrem neuen Leben entgegen. Zum Schutz vor der beißenden Kälte und dem schneidenden Wind zog sie das Kopftuch vor das Gesicht. Nur noch die Augen lugten heraus. Trotz des dichten Schneefalls hatte Agnes kein Problem sich zurechtzufinden. Der Weg war links und rechts mit Hecken gesäumt. Außerdem war sie die sechs Kilometer nach Neuern in ihrem Leben schon so oft gegangen, dass sie jeden Baum, jeden Strauch, ja beinahe jeden Grashalm kannte. In der Scheune des Neuerner Fuhrmanns konnte sie bis zum Morgen Unterschlupf finden. Kurz nach Sonnenaufgang würden nach und nach die sechzehn anderen jungen Leute eintreffen. Zwölf Männer und vier Frauen. Dann würden sie gemeinsam ihre abenteuerliche Reise beginnen.

    Was hält dich denn hier? Komm doch einfach mit‘ hatte ihr Mariele, die Magd des Gruber-Bauern aus Deschenitz auf dem Heimweg von der Christmette in Neuern ins Ohr geflüstert.

    Am vierten Februar bei Sonnenaufgang. Wir treffen uns beim Fuhrmann. Und dann heißt es Böhmerwald leb wohl! Amerika, wir kommen! ‘

    Sechs Wochen lang hatte Agnes diese tollkühne Idee wieder und wieder durchdacht. Die Vorteile aufgezählt und die Nachteile dagegen gerechnet. Um dann schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass es nichts Schlimmeres geben konnte, als das hoffnungslose Dasein, das sie hier auf dem Hof des Klausner-Bauern fristete. Sie wusste nicht, was das ferne unbekannte Land Amerika für sie bereithalten würde. Aber was ihr blühen würde, wenn sie hier im Böhmerwald bliebe, das wusste sie nur zu gut. Entweder würde sie im Bett des Bauern landen und früher oder später mit einem unehelichen Kind am Hals davon gejagt werden. Oder aber sie würde mit ein wenig Glück einen ehrlichen anständigen Mann finden. Genauso bettelarm wie sie selbst. Und gemeinsam würden sie dann als Häusler ihr Dasein fristen. Ihr Leben lang hätten sie zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Agnes war nicht so naiv, zu glauben, dass einer armen Frau in Amerika etwas geschenkt wurde. Aber wenn man fleißig war und sich vor keiner schweren Arbeit scheute, konnte man es in dem Land jenseits des großen Ozeans zu etwas bringen. Davon war sie fest überzeugt. Und hart arbeiten konnte Agnes. Das stand fest.

    Agnes presste ihr Ohr an das hölzerne Scheunentor. Leises Gemurmel war zu hören. Vorsichtig schob sie die schwere Tür einen kleinen Spalt auf. Im schwachen Lichtschein einer Blendlaterne konnte sie die zusammen gekauerten Gestalten nur schemenhaft erkennen. Die Fuhrknechte schliefen um diese Uhrzeit. Also mussten es ohne Zweifel ihre zukünftigen Weggefährten sein.

    „Zumachen!", rief eine erboste Stimme, als der Wind über ihren Kopf hinweg in den Schuppen fegte und die Lampe zum Flackern brachte. Sie zwängte sich durch den schmalen Spalt und schob das Scheunentor wieder hinter sich zu. Eine dick vermummte Gestalt sprang auf und eilte ihr entgegen.

    „Schön, dass du auch dabei bist! Mariele legte die Arme um sie. „Ich hatte schon Angst, du kommst nicht.

    Agnes zog das dicke Wolltuch von ihrem Kopf. Glücklich presste sie ihr eisiges Gesicht an die Wange der Freundin.

    „Iiih! Du bist ja ein einziger Eisklumpen", empörte sich Mariele und brachte ihr Gesicht in Sicherheit. Dann zog sie ihre Freundin in den Lichtkreis der Laterne.

    „Das ist die Agnes Pangerl vom Klausner-Hof. Sie wird sich uns anschließen."

    Die fünf Männer, die auf der dünnen Strohunterlage hockten, brummten einen Willkommensgruß, ehe sie wieder die Köpfe zusammensteckten und sich leise weiter unterhielten. Agnes zog die wollenen Fäustlinge von ihren klammen Fingern. Sie hielt sie dicht an den Mund und versuchte sie mit ihrem Atem ein wenig zu wärmen.

    „Die Leni aus Olchowitz hat es sich anders überlegt. Die Krämerin, die gestern die Eier auf unserem Hof abgeholt hat, brachte eine kurze Nachricht von ihr mit. Die große, weite Welt wäre nichts für sie, ließe die Leni ausrichten. Sie würde lieber beim Havel-Bauern bleiben. Da wüsste sie wenigstens, was auf sie zu käme. Und ob die Hedwig Seidl vom Oettl-Hof morgen wirklich auftauchen wird, glaube ich erst, wenn sie da ist. Ich hatte wirklich Angst, ich müsste ganz alleine mit den Burschen losziehen."

    Agnes schüttelte lächelnd den Kopf. „Keine zehn Pferde bringen mich wieder zurück zum Klausner-Bauern. Ganz egal was in der weiten Welt auf mich wartet, nichts kann so schlimm sein, wie das was wir hier tagein tagaus ertragen müssen. Ich will nicht so enden wie meine Mutter und meine Großmutter. Nach einem Leben voller Mühsal, Entbehrungen und Plagen in einer einfachen Holzkiste verscharrt zu werden, weil das Geld für einen ordentlichen Sarg nicht reicht. Nein, Mariele! Nicht mit uns! Wir haben etwas Besseres verdient, findest du nicht auch?"

    Mariele Leschinger nickte zustimmend. Ihr eigenes und das Schicksal ihrer Familie glichen aufs Haar dem von Agnes und ihren Vorfahren. Auch die Leschingers waren von jeher bettelarm gewesen. Der einzige Unterschied war, dass Mariele im Gegensatz zu Agnes keine Waise war. Ihr Vater lebte noch. Was Marieles Lage jedoch nicht wirklich besser machte. Franz Leschinger war die meiste Zeit so betrunken, dass er nicht einmal mehr wusste, welcher Wochentag gerade war. Geschweige denn den Monat kannte, in dem er Marieles kargen Lohn im Wirtshaus für Schnaps ausgab. Entgegen den üblichen Gepflogenheiten zahlte Marieles Dienstherr seinen Knechten und Mägden den Lohn monatlich aus. So hatten sie zwar immer ein bisschen Geld zur Verfügung. Aber auf die Art konnte er ihnen auch mitten im Jahr kündigen, nicht wie sonst üblich nur zu Lichtmess. Auch wenn Franz Leschinger sich sonst nichts mehr merken konnte, den Zahltag vergaß er nie. An diesem Tag wankte er regelmäßig von seiner halb verfallenen Kate am südlichen Ortsrand quer durch Deschenitz zum Anwesen des Gruber-Bauern. Dort wartete er auf Mariele, um ihr das sauer verdiente Geld abzunehmen. Anfänglich hatte sie noch versucht, das Geld vor ihrem Vater zu verstecken. Aber er hatte sie regelmäßig so windelweich geprügelt, dass sie es ihm irgendwann freiwillig gegeben hatte, nur um von ihm in Ruhe gelassen zu werden. Sobald er die paar Kreuzer in der Tasche hatte, wackelte er schnurstracks ins Wirtshaus und kam erst wieder heraus, wenn das Geld weg war. Nein, auch Mariele hatte genau wie Agnes Nichts zu verlieren, aber Alles zu gewinnen.

    Eng aneinander gekuschelt hockten sie auf dem Boden der Scheune auf einer Unterlage aus Stroh. So fühlte sich der Boden wenigstens nicht gar so eisig an. Die Männer hatten sich zwischenzeitlich im Stroh zusammengerollt und schnarchten in unterschiedlichen Tonhöhen vor sich hin. Die beiden Frauen waren zum Schlafen jedoch viel zu aufgeregt. Flüsternd tauschten sie Neuigkeiten aus.

    „Hast du das von der Anna gehört?"

    Agnes schüttelte den Kopf. „Nein. Wieso, was ist denn mit ihr?"

    „Deine Klausner-Bäuerin hat sie doch auf einen Hof in Janowitz vermittelt. Als die Bäuerin dort bemerkte, dass sie schwanger ist, wurde sie gleich wieder entlassen. Anna ist dann nach Hause zu ihren Eltern. Aber ihr Vater wollte sie nicht daheim haben. In Schimpf und Schande hat er sie davon gejagt. Vor drei Tagen haben sie ihre Leiche aus der Angel gezogen. Die Gruber-Bäuerin hat uns Mägde zusammen gerufen und einen Vortrag gehalten, damit wir uns ja nichts zuschulden kommen lassen. Sonst würden wir genauso enden wie Anna. Als Selbstmörderin! Zu schlecht und verkommen, um von einem Pfarrer in geweihter Erde bestattet zu werden. Dazu verdammt ewig in der Hölle zu schmoren."

    Agnes lief es kalt den Rücken hinunter. Und das hatte nichts mit der eisigen Luft in der Scheune zu tun. Wie oft hatten Anna und sie, Kleinmägde alle beide, Seite an Seite gemolken, Butter gedreht, Heu gewendet, Flachs gerauft und gesponnen. Sie hatten sich gegenseitig ihr Leid geklagt und von ihren Träumen erzählt. Nun lag Anna mit ihrem ungeborenen Kind irgendwo in einem hastig gebuddelten Loch. Vor der Kirchenmauer verscharrt wie ein räudiger Hund! Unbändige Wut gegen den Klausner-Bauern stieg in ihr hoch. Er räkelte sich bestimmt gerade in seinen warmen Kissen und träumte davon, zur nächsten Magd ins Bett zu steigen.

    „Die Franzosenkrankheit soll er kriegen, der geile alte Bock!", zischte Agnes wutentbrannt. Sie legte ihren Arm um Marieles Schulter.

    „Danke, dass du mir von deinen Plänen erzählt hast! Dank dir habe ich die Chance ein neues Leben zu beginnen", flüsterte sie der Freundin ins Ohr.

    „Danke, dass du mitkommst! Wir Beide werden es schaffen. Wir werden uns in Amerika ein neues Leben aufbauen. Du und ich, Agnes Pangerl und Mariele Leschinger! Zwei arme Mädchen aus dem Böhmerwald werden es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu etwas bringen, das weiß ich ganz genau."

    Marieles Augen strahlten bei diesen Worten mit den Sternen um die Wette, die sie durch die kleine Dachluke am nächtlichen Himmel so verheißungsvoll funkeln sahen.

    Februar und März 1870

    Kurz nach Tagesanbruch trudelten nach und nach die anderen Auswanderer ein. Allesamt fröhliche, kraftstrotzende Burschen. Der jüngste von ihnen gerade einmal siebzehn Jahre alt. Zwei der Männer tauchten nicht auf. Ihnen war die Lust am Auswandern vergangen. Der eine war von der Leiter gestürzt und hatte sich beide Beine gebrochen. Der andere hatte die Frau fürs Leben gefunden und geheiratet. Als Letzte schlüpfte die Seidl Hedwig zum Tor herein. Damit waren sie komplett.

    Zehn Männer und drei Frauen verließen an diesem eisigen Februar Morgen Neuern und machten sich auf den langen Weg nach Hamburg. Da das Geld bei allen recht knapp war, würden sie die meiste Zeit zu Fuß unterwegs sein. Die Möglichkeit für die ganze Gruppe eine kostenlose Mitfahrgelegenheit auf einem Fuhrwerk zu finden, war nicht sonderlich groß. Aber trennen wollten sie sich auf keinen Fall. Gemeinsam wäre es viel leichter die abenteuerliche Reise über den Großen Teich zu meistern. Einer der Männer hatte einen Bruder, der in der Brauerei auf der Burg Klingenberg als Braubursche arbeitete. Von ihm wussten sie, dass es dort, am Zusammenfluss von Otava und Moldau eine Anlegestelle gab. Mit dem Schiff wollten sie Moldau abwärts über Prag bis zum Schloss Mĕlnik fahren. Die Fahrt mit einem der kleinen Moldau-Lastkähne war die bei Weitem günstigste Art des Reisens.

    Schloss Mĕlnik lag an der Mündung der Moldau in die Elbe. Auf der Elbe waren immer so viele Kähne unterwegs, dass es kein Problem sein sollte eine Fahrgelegenheit flussabwärts zu bekommen. Vielleicht konnten die Männer sogar beim Löschen der Ladung helfen oder beim Befeuern der Dampfkessel. So könnten sie das Fahrtgeld sparen und Erfahrung sammeln für die Große Überfahrt. Vom Hörensagen wussten sie, dass es die Möglichkeit gab, auf den Ozeandampfern zu arbeiten und sich die Fahrt über den Atlantik auf diese Weise zu verdienen. Das gesparte Geld konnte man für den Start in der neuen Heimat gut gebrauchen. Ob es für Frauen auch die Möglichkeit gab sich die Überfahrt zu erarbeiten, wusste keine von ihnen. Aber in der Euphorie der ersten Stunden verschwendeten Agnes, Mariele und Hedwig keinen einzigen Gedanken an diese ferne Zukunft. Über diese Dinge wollten sie nachdenken, wenn es soweit war. Zu groß war die Aufregung und Freude über das große Abenteuer, in das sie so unvermittelt hinein geschlittert waren.

    Und dann klappte alles so, wie es sich die dreizehn jungen Auswanderer ausgemalt hatten. Nach fünf Tagen erreichten sie die Burg Klingenberg. Mitfahrgelegenheiten ergaben sich auf dem Weg dorthin zwar keine. Dazu waren mitten im eisigen böhmischen Winter zu wenige Fuhrwerke auf den verschneiten Straßen unterwegs. Aber an jedem Abend fanden sie rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit einen Schlafplatz. Die Männer hackten Holz, die Frauen halfen beim Melken oder in der Küche und die Bauern erlaubten ihnen im Gegenzug in ihren Scheunen zu übernachten. Zweimal bekamen sie sogar zusätzlich noch saure Milchsuppe, schön heiß, und für jeden eine Scheibe Brot.

    In Klingenberg saßen sie über zwei Wochen fest. Auf der Moldau trieben zu viele Eisschollen, so dass keine Schiffe fuhren. Aber die Männer und sogar die drei Frauen fanden Arbeit in der Brauerei. Zwei Mahlzeiten am Tag, ein Bett im Gemeinschaftsschlafsaal waren der Lohn für täglich zehn Stunden Arbeit.

    Als es Anfang März wärmer wurde kam der Schiffsverkehr auf dem Fluss wieder in Gang. Hedwig erwies sich als wahre Meisterin in der Kunst des Feilschens. Mit dem Führer eines Lastkahns, der Baumstämme von den Höhen des Riesengebirges nach Hamburg transportierte, verhandelte sie so lange, bis er alle dreizehn Auswanderer kostenfrei mitnahm. Die Männer sollten das Befeuern des Dampfkessels übernehmen, die drei Frauen in der Kombüse arbeiten, für das Essen sorgen und sich um die Wäsche kümmern. Da der Kahn am Zusammenfluss von Elbe und Moldau seine Fahrt erst begann, hatte der Schiffseigner noch keine Mannschaft angeheuert. Er brauchte somit nur einen erfahrenen Maschinisten, der das Befeuern überwachte. Die anderen Arbeiten würden seine Passagiere übernehmen. Der Eigner war mit dieser Vereinbarung sehr zufrieden, denn die aufkommende Kettenschifffahrt auf der Elbe machte den kleinen Frachtkähnen immer mehr zu schaffen. Sie bekamen kaum noch Ladung und mussten deshalb sehr billig transportieren. Die Einsparungen bei der Mannschaft kamen ihm daher sehr gelegen. Hedwig war fest davon überzeugt, dass sie sogar noch eine Entlohnung für die kleine Auswanderertruppe heraus gehandelt hätte, wäre ihr nur genügend Zeit geblieben.

    Auf dem Weg flussabwärts konnten die Männer im Maschinenraum des Frachtkahns wertvolle Erfahrungen sammeln. Als sie schließlich in Hamburg den Kahn verließen, bescheinigte ihnen der Schiffseigner, dass ganz ordentliche Heizer und Kohlentrimmer aus ihnen geworden waren. Die drei Frauen hätte er am liebsten ganz behalten. Besonders Marieles Kartoffelsuppe und Agnes‘ böhmische Knödel hatten es ihm angetan. Hedwig, die für die Wäsche verantwortlich gewesen war, versicherte er immer wieder, dass seine Hemden noch nie so sauber und so weich gewesen wären. Mit der Hoffnung, für die Überfahrt nach Amerika nun bestens gerüstet zu sein, verabschiedete sich die kleine Truppe schweren Herzens von dem wackeren Binnenschiffer. Er wünschte ihnen viel Glück für ihr großes Abenteuer. Dann machte er sich auf die Suche nach einer neuen Fracht Elbe aufwärts zurück nach Mĕlnik.

    Ursprünglich hatten sie vorgehabt, getrennt voneinander nach einem Schiff nach Amerika zu suchen. Aber angesichts des unglaublichen Gewirrs an Anlegestellen, Kais, Trockendocks und Lagerhäusern hatten sie Angst, niemals wieder zusammen zu finden, wenn sie sich einmal aus den Augen verloren hatten. Also zogen sie gemeinsam los. Etliche Male endete ihre Suche in Sackgassen vor riesigen Backsteinlagerhäusern oder an Brackwasserkanälen, die nach fauligem Fisch stanken. Immer wieder mussten sie nach dem Weg fragen, ehe sie schließlich zu den Landungsbrücken gelangten, an denen die großen Segelschiffe und Ozeandampfer lagen. Riesige Schiffsleiber, überragt von einem unübersehbaren Wald an Masten und gewaltigen Schornsteinen bauten sich vor den Augen der kleinen Schar auf.

    „Oh mein Gott!", entfuhr es Agnes, als sie der unzähligen Schiffe ansichtig wurde. Ein unablässiges Kommen und Gehen herrschte an den Kais. Schauerleute, Matrosen, Passagiere, Händler – alle drängelten um das staunende Auswanderergrüppchen herum, schoben sie unter ärgerlichem Fluchen bald hier hin, bald dort hin.

    Angesichts der großen Schiffe und des unfassbaren Durcheinanders, das an den Landungsbrücken herrschte, presste Hedwig fassungslos ihr kleines Bündel fest an die Brust. Irgendwie hatte sie erwartet, dass das Schiff, das sie nach Amerika bringen sollte, die Größe des Frachtkahns auf der Elbe hätte. Als sie jetzt die gigantischen Schiffsleiber aus Holz und Eisen sah, die an den Kaimauern auf und ab schaukelten und immer wieder mit hässlich kratzenden Geräuschen an den dicken hölzernen Planken entlang geschoben wurden, griff die Angst mit eiskalter Hand nach ihr. Wenn die Schiffe hier im Hafen schon so schrecklich schaukelten, wie würde es dann erst draußen auf dem weiten Ozean sein?

    „Siehst du wie die schaukeln?", flüsterte sie Agnes leise zu.

    Agnes nickte. „Natürlich schaukeln sie. Was hast du denn gedacht? Dass der Ozean so still da liegt wie der Schwarze See?"

    Auch sie war aufgeregt. Aber nicht weil sie eingeschüchtert war oder Angst hatte. Nein! Sie war aufgeregt, weil endlich ihr lang gehegter Traum zum Greifen nahe war.

    „Ich weiß nicht was ich gedacht hab‘. Aber das hier bestimmt nicht", stammelte Hedwig. Beim Anblick der schaukelnden Schiffe war ihr der Schreck derartig in die Glieder gefahren, dass die Lust auf ein neues Leben jenseits des großen Ozeans dahin schmolz wie Schnee in der Frühjahrssonne.

    Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht."

    „Was kannst du nicht?", fragte Mariele, die bisher nicht auf Hedwig geachtet hatte und sich nun verwundert zu ihr umwandte.

    „Ich kann nicht in ein Schiff steigen."

    „Unsinn! Du kommst doch gerade von einem Schiff", sagte Mariele verständnislos.

    „Das ist nicht dasselbe, gab Hedwig zu Bedenken. „Das war nur ein kleiner Kahn. Und außerdem fuhr er auf einem Fluss. Der hatte keine Wellen. Und wenn der Kahn untergegangen wäre, hätte ich ans Ufer schwimmen können.

    „Hat man je so einen Unfug gehört! Du kannst überhaupt nicht schwimmen. Außerdem wärst du in dem eisigen Wasser der Elbe erfroren, bevor du bis zum Ufer hättest plantschen können." Mariele rollte mit den Augen.

    Sie hatte für Feiglinge nichts übrig und Dummheit war ihr verhasst.

    „Sei doch nicht dumm! Hast du schon vergessen, wie das Leben zuhause war? Mühsal und Plage von früh bis spät. Ohne jede Aussicht, dass jemals eine Änderung eintritt. In Amerika wird Alles anders sein", redete Mariele auf die verängstigte Hedwig ein. Aber diese schüttelte wieder energisch den Kopf.

    „Nein! Nicht für alles Geld der Welt werde ich in eines dieser Schiffe steigen. Da will ich lieber bis ans Ende meiner Tage als Kleinmagd schuften. Ich geh‘ wieder zurück in den Böhmerwald."

    Mariele zuckte mit den Schultern. „Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Aber du wirst es bis zum Ende deines Lebens bereuen."

    Sie küsste Hedwig auf beiden Wangen. Dann drehte sie sich um und beobachtete weiter das bunte Treiben. Für sie war der Fall erledigt.

    Agnes hakte sich bei Hedwig ein und zog sie ein paar Schritte beiseite.

    „Willst du wirklich nicht mit uns mitkommen?", fragte sie.

    „Nein, sagte Hedwig. „Die große weite Welt ist nichts für mich.

    „Und wie willst du wieder zurück kommen?"

    Hedwig zuckte mit den Schultern. „Ich weiß noch nicht. Ich werde schon einen Weg finden."

    Agnes betrachtete die junge Frau neben sich. Ehe sie zu ihrer gemeinsamen Reise aufgebrochen waren, hatten sie sich nur flüchtig gekannt. Während der vergangenen Tage hatte sich jedoch eine stille Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Anders als Mariele war Hedwig still und zurückhaltend. Sie hatte nicht viel geredet. Aber durch ihre stete, freundliche Hilfsbereitschaft war sie Agnes sehr ans Herz gewachsen. Es tat ihr leid, dass Hedwig nun ganz alleine zurückbleiben würde.

    „Vielleicht nimmt dich der Frachtschiffer wieder mit zurück nach Mĕlnik."

    „Natürlich! Das ist eine gute Idee. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin." Ein schelmisches Grinsen huschte über Hedwigs Gesicht.

    „Er war doch so angetan von den weichen Hemden. Vielleicht stellt er mich ja als Wäscherin an. Ich mache mich besser gleich auf den Weg, bevor er seine Ladung beisammen hat und Elbe aufwärts davon dampft."

    „Findest du allein zurück zu der Anlegestelle der Binnenkähne, oder soll ich mitkommen?"

    „Danke, Agnes! Das ist lieb von dir. Aber ich finde den Weg schon. Und wenn nicht, kann ich ja fragen. Anders als in Amerika verstehen mich hier die Leute. Herzlich umarmte sie Agnes. „Pass gut auf dich auf, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten!

    „Und du gib acht, dass du beim Wäsche aufhängen nicht in die Elbe plumpst!"

    Ihr Bündel fest an sich gepresst, drehte sich Hedwig um. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und winkte Agnes zum Abschied noch einmal zu. Dann verschwand sie im Getümmel.

    April 1870

    Ganz allmählich konnten die beiden Frauen die Grenze zwischen Wasseroberfläche und Himmel erkennen. Das heller werdende Schwarz des Firmaments zeichnete sich immer deutlicher vom schwarz-grünen Wasser des Atlantiks ab. Seit nunmehr sechzehn Tagen standen sie jeden Morgen vor Sonnenaufgang am Bug des Dampfers und starrten in die Dunkelheit. Seit sechzehn Tagen warteten sie darauf, dass am Horizont die Umrisse der Stadt New York auftauchen würden. Der Kapitän der Atlantica hatte ihnen beim Auslaufen des Frachtdampfers gesagt, dass die Überfahrt mindestens achtzehn Tage dauern würde. Aber das hinderte Agnes und Mariele nicht daran, jeden Morgen Ausschau zu halten nach ihrer neuen Heimat.

    Der Start in Hamburg hatte sich als recht schwierig erwiesen. Tagelang waren sie durch das Hafengebiet gestreift auf der Suche nach einem Schiff, das sie nach Amerika mitnehmen würde. In der übelsten Gegend der Hafenstadt hatten sie eine billige Unterkunft gefunden. Trotzdem zehrte jeder Tag ihres Aufenthalts an ihren kümmerlichen Ersparnissen. Nach vier Tagen vergeblicher Suche hatten sie endlich einen Passagierdampfer gefunden, der am nächsten Morgen nach New York auslaufen sollte. Allerdings kostete die einfachste Kabine im untersten Deck 120 Mark. Nur einer der Männer hatte genügend Geld gespart um diesen Preis bezahlen zu können. Aber auf dem Dampfer wurden noch drei Kohlentrimmer und ein Heizer gesucht. Also hatte die Gruppe schweren Herzens beschlossen sich zu trennen. Als die vier Burschen an Bord des Dampfers gingen, standen die verbliebenen acht jungen Böhmerwäldler an der Mole, drückten ihre Freunde zum Abschied, wünschten ihnen alles Gute und winkten ihnen hinterher, ehe sie im Bauch des großen Dampfers verschwanden. Jeder von ihnen wusste, dass es mit ziemlicher Sicherheit ein Abschied für immer wäre. Mutlos und mit hängenden Köpfen machten sich die Zurückgebliebenen wieder auf die mühsame Suche nach einem Schiff.

    Schließlich war es Mariele, die ihnen die Überfahrt sicherte. Drei Tage nachdem sie sich von ihren Freunden getrennt hatten, drückten sich Mariele und Agnes wieder an den Landungsbrücken herum. Neugierig beobachteten sie das Beladen eines Frachtdampfers. Holzkisten wurden an Bord gebracht. Sie wurden nicht, wie sonst üblich, in großen Netzen verstaut mit Kränen über die Ladeluken gehievt und dann abgelassen, sondern einzeln mit Schubkarren über eine Planke geschoben. Eine sehr umständliche Methode, wie Agnes fand.

    „Ich möchte wissen, was die da verladen. Scheint ja etwas ganz Besonderes zu sein, wenn sie so ein Aufhebens darum machen", sagte sie.

    Die beiden Frauen wollten gerade weiter gehen, als es geschah. Einer der Schauerleute hatte offensichtlich zu wenig Schwung geholt. Er schaffte es nicht die Schubkarre in einem Ansatz bis zum Schiffsdeck hoch zu schieben. Er verlor das Gleichgewicht und die Karre kippte um. Mit einem lauten Scheppern krachte die Holzkiste auf die Mole. Der Lademeister, der das Beladen überwachte, lief rot an und begann mit wüsten Flüchen den Hafenarbeiter zu beschimpfen. Die anderen Arbeiter stellten sich auf die Seite ihres unglücklichen Kollegen und in kürzester Zeit hallte die Mole wider von üblem Geschrei und Beschimpfungen. Schließlich machten die sechs Schauerleute kehrt und ließen den fluchenden Lademeister einfach stehen. Mariele packte Agnes am Arm.

    „Lauf‘ und hol‘ die Männer. Beeil dich! Ich versuche den Lademeister zu überzeugen, dass wir genau

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