Die Nachtwache am Weiher und zwei andere Erzählungen
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Buchvorschau
Die Nachtwache am Weiher und zwei andere Erzählungen - Gertrud Fussenegger
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Die nachtwache am weiher
Es war ein kühler gewittriger Spättag im August, an dem sich die junge Frau aufmachte, um ihren Mann im Gebirge zu besuchen. Sie schloß das kleine Haus ab, das sie nun schon seit Wochen allein bewohnte, und zog das Gittertörchen des Gartenzaunes hinter sich zu. Einen Augenblick hielt sie inne: über die Gitterstäbe bogen sich die grünen Flammen der Goldruten zu ihr hinaus, dahinter nickten die Sonnenblumen mit ihren großen schweren gelbmähnigen Blütenköpfen, deren Inneres sich schon zu bräunen begann. Anna schulterte ihren Rucksack und schritt die Straße hinab, ihre genagelten Schuhe klangen auf dem Pflaster. Ihr Schatten wanderte vor ihr her, schmal und langhinzüngelnd, denn es war nicht mehr früh am Tag und beinahe zu spät für einen Aufbruch ins Gebirge. Aber Anna hatte den nächsten Morgen nicht mehr zu Hause erwarten, hatte ihre unruhige Vorfreude nicht mehr zwischen den vier engen Wänden vertrösten wollen: so hatte sie beschlossen, wenigstens ein Stück des Weges heute noch hinter sich zu bringen. Sie konnte auf halber Höhe in einem Dorf übernachten und beim ersten Licht weiterwandern, ehe der neue Tag Schatten und Kühle aufzehren würde. Sie war als junges Mädchen oft allein gewandert und sie freute sich darauf, diesen lange nicht mehr geübten Brauch ihrer Jugend zu erneuern.
Sie schritt rüstig aus. In Gedanken war sie — wie schon den ganzen Tag — längst droben auf den Lärchenwiesen und Felshalden, die sie kannte, und auf der letzten Hochalm, wo jetzt ihr Mann lebte; zwei Monate schon lebte er dort, zwei Monate hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Zwei Monate! wiederholte es sich die Frau und erschrak beinahe darüber, sie waren ihr vergangen, sie wußte selbst nicht, wie. So ist das, dachte sie, wenn die Liebe schläfrig und die Sehnsucht lau wird, vor zwei, drei Jahren wäre mir eine Trennung fast unerträglich gewesen. Jetzt aber — und sie beschleunigte ihre Schritte noch mehr — war eine neue und süße Ungeduld in ihr erwacht, jetzt fühlte sie, was unter der Gewohnheit geschlummert hatte, wieder in sich lebendig werden: sie stellte sich vor — und lächelte unbewußt vor sich hin —, wie sie morgen dem Mann begegnen würde, er wußte nicht, daß sie kam, er würde zuerst seinen eigenen Augen nicht trauen wollen, wenn er sie plötzlich auftauchen sähe auf dem Pfad unterhalb seiner Hütte, in großen Sprüngen würde er ihr dann entgegeneilen; vielleicht würde sie ihn auch in der Hütte überraschen, von hinten herantretend, ihm die Hände über die Augen legen: Rat’, wer gekommen ist! —
Er leitete in dem Hochtal droben den Bau einer kleinen Straße, wohnte schon seit dem Frühjahr mit seinen Arbeitern in einer rasch errichteten Baracke, schlief auf einem Strohsack und aß die grobe selbstgekochte Mannskost. Anna hatte allerlei in den Rucksack gesteckt, von dem sie denken konnte, es würde ihm willkommen sein: eingemachtes Huhn, Backwerk, frische Wäsche: Dinge, die ihn dessen versichern sollten, daß ihn bei ihr, Anna, nach Beendigung seiner Arbeit die Annehmlichkeiten einer bequemen und geordneten Häuslichkeit erwarteten.
Gleich hinter dem Dorf führte der Weg eine steile Waldstufe empor. Anna hatte sie bald hinter sich gebracht und stand droben still, tiefatmend, und blickte zurück. Zu ihren Füßen lag die Ortschaft, ein freundlicher Flecken mit den vertrauten Würfeln weißer Häuser, in die Bucht eines breiten krümmungsreichen Tales geschmiegt. Unter tiefhängenden Wolkenschwärmen begann es allmählich einzudunkeln, nur da und dort zuckte noch das messingfarbene Licht der untergehenden Sonne aus vergoldeten Wolkenschlitzen hervor. Dann erglühte ein ferner Felsen unter dem Strahlenkuß oder es leuchtete der smaragdgrüne Fleck einer Alm sekundenlang auf. Über dem Hochgebirge im Norden und Süden braute es blauschwarz, ein ferner Donner grollte, und zwischen den höchsten Gipfeln zwinkerten Blitze, als spielten sie oder prüften erst ihre Kräfte, ehe sie über die Gratlinie vorstoßen und über das Tal hereinbrechen wollten.
Anna sah, bald würde es Nacht sein, und rasch setzte sie ihren Weg fort. Das Gewitter blieb hinter den Bergen, doch begann ein linder Regen zu fallen. Flüsternd bewegte er Gras und Laub. Üppige Spätsommerwiesen wogten um den sich schlängelnden Pfad. Mit weißen Mauern tauchte das Dorf aus der Dunkelheit auf.
Anna kannte es und kannte auch das einzige einfache Wirtshaus neben der Kirche. Sie trat ein, fragte um ein Quartier und gab ihren durchfeuchteten Mantel in die Küche zum Trocknen. Dann setzte sie sich in die zirbene Stube, bestellte ein Abendbrot und aß. Sie war der einzige Gast dahier. Aber vor der Stube, ein paar Staffeln tiefer und durch ein breites, mit Blumenstöcken halb verstelltes Fenster überschaubar, lag ein verglaster Vorsaal, die Wirtshausveranda. Dort saßen ein paar junge Leute beisammen, tranken Wein und zupften an ihren Gitarren. Die Mädchen waren in der Tracht des Landes, blühend in ihren Miedern und weißen Ärmelblusen; den Burschen stand der Jägerrock gut zu den kecken und feurigen Mienen. Die jungen Leute spielten und sangen, bald im Chor, bald nur mit einzelnen Stimmen, in einem Terzett wetteiferten zwei helle Frauenstimmen mit einem warm und voll klingenden Bariton. So ging das eine Weile fort, dann brachen die Sänger auf, paarweise, und Arm in Arm wanderten sie in die Nacht hinaus. Anna lauschte ihnen nach, wie sich ihr Tralala und Dudeldei allmählich entfernte und sich endlich draußen in der Dunkelheit verlor.
Plötzlich fühlte sie sich müde, trotzdem mochte sie noch nicht schlafen gehen. Sie langte sich einen alten Kalender vom Bord und blätterte darin. Ihre Augen liefen die Kolonnen der Monate und Wochen entlang: abgelebte und, wie ihr einmal erschien, ungelebte Tage. So wartete Anna, sie wußte selbst nicht, worauf.
Es war schon spät geworden, da erhellte sich der finstere Vorsaal unten abermals: ein Paar war durch die äußere Tür hereingekommen und hatte das Licht angedreht, jetzt schlenderte es langsam zwischen den Tischen heran und unter dem Fenster vorbei, hinter dem Anna saß. Weder der Mann noch das Mädchen sahen zu ihr auf, aber sie, Anna, sah sie gut, alle beide, und sie hätte beinah einen Ruf ausgestoßen, dann aber schwieg sie still, beide Hände vor den Mund gepreßt und vor Schrecken wie versteinert, denn der Mann da war der ihre, aber das Mädchen kannte sie nicht.
Die beiden schienen zu glauben, sie seien allein. Sie rückten ihre Stühle zurecht und saßen nieder, sie saßen nicht zum erstenmal miteinander am Tisch, nein, sie gehörten wohl zu den häufigen Gästen des Hauses, so vertraut zeigten sie sich mit seinen Einrichtungen: denn das Mädchen wandte sich jetzt zurückzu dem Schubschrank, öffnete eine Lade und holte selbst die Servietten heraus. Aus einer zweiten holte sie Messer und Gabel und legte sie für sich und den Mann zurecht. Schließlich langte sie noch den Korb mit dem Brot herbei; sie tat das alles, als hätte sie es schon oft getan, und mit einer selbstverständlichen fürsorglichen Vertraulichkeit, die nur einer Frau zusteht — oder einer Geliebten. Schließlich wandte sie das junge Gesicht dem Manne zu und lächelte. Ihre Hand stahl sich über den Tisch neben die seine, und, als hätte er gefühlt, was dieses stumme Darbieten bedeutet, schloß sich seine braune Rechte um ihre Hand und barg sie in sich.
Anna sank zurück, doch zugleich richtete sie sich von neuen auf, halb sitzend, halb knieend preßte sie das brennende, das lauschende Gesicht gegen die Fensterscheibe und sog fressenden Blickes das Bild dort in sich hinein.
Sie hörte nicht, was die beiden sprachen,