Asni
Von Nasrin Siege
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Buchvorschau
Asni - Nasrin Siege
Inhalt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Über die Autorin
Nasrin Siege
ASNI
Roman
ULRIKE HELMER VERLAG
1
Die Hände hatte er nicht gefesselt. Nur die Knöchel und um den Bauch ein dickes Seil. Er bindet sie los, hebt sie vom Pferdekarren und schiebt sie zu der Frau in der Tür. Sicher die Mutter des kleinen Mädchens, das an ihr lehnt. Ein wellenartiges Zittern durchfährt Asni. Die Augen des Kindes gleiten auf ihr wundes Knie.
»Wer ist das?«, will die Frau wissen.
»Das ist Asni!« Kassahuns Finger bohren sich in ihren Nacken. »Sie soll dir im Haushalt helfen.«
»Warum hattest du sie festgebunden?«
»Frag nicht so viel!« Kassahun drängt sie ins Haus, drückt sie auf eine Liege aus Knüppelholz und Kuhhautgeflecht und setzt sich dann dicht neben sie. Hier ist es warm und der Geruch von Essen, Kuhdung und saurer Milch erinnert Asni an Großmutter.
Sie schließt die Augen und wünscht sich fort in Großmutters kleine Lehmhütte.
»Was ist passiert?« Großmutter hatte die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, als Asni am späten Nachmittag mit der Ziege von der Weide gekommen war. »Wieso blutest du am Knie?«
»Eine Schlange. Ich bin vor ihr weggelaufen und gestürzt!«
»Was für eine Schlange?«
»Sie war schwarz mit roten Streifen und ungefähr sooo lang«, Asni breitete ihre Arme aus. »Und ihre Zunge ging immer rein und raus!«
»Das war keine Schlange!« Großmutter schaute besorgt und am Sonntag darauf brachte sie ihr Enkelkind nach dem Gottesdienst zum Priester.
»Dir droht eine Gefahr«, prophezeite Abba Noah, während sich seine Augen durch sie hindurchzubohren schienen. »Aber hab keine Angst. Das heilige Wasser unseres Klosters wird dich vor dem Bösen schützen!« Er tätschelte ihren Arm, dann wandte er sich an Großmutter: »An sieben Tagen bringe sie hierher, bevor die Sonne aufgeht! Sieben Tage lang!«
Am nächsten Morgen in der Frühe wurde Asni von der Großmutter geweckt, an die Hand genommen und noch im Halbschlaf zur Höhle von Abba Noah geführt, die er sich mit drei anderen Mönchen teilte. Der Abba wartete bereits vor einem der Eingänge auf sie. Er trug einen langen schwarzen Umhang und auf seinem Kopf ein gelbes Käppchen. In der Hand hielt er das große hölzerne Kreuz seiner Kirche. Sie folgten ihm bis zu einem anderen Eingang und schlüpften in die Höhle. Hier war es dunkel, kalt und still. Nur das Geräusch von Tropfen, die von der Decke fielen und in großen ausgehöhlten Steinen aufgefangen wurden, war zu hören.
»Zieh dich aus!«, befahl der Priester.
Asni schüttelte den Kopf. Der Abba war ein Mann und sie wollte sich ihm nicht nackt zeigen. Außerdem fror sie.
Doch Großmutter zog ihr kurzerhand das Kleid über den Kopf. »Du willst doch von dem Bösen gereinigt werden, oder?« Und Asni gab nach.
Zitternd vor Kälte und Scham kniete sie sich, so wie der Priester es ihr befahl. Dann schlug er sie. Wieder und wieder hieb er ihr das hölzerne Kreuz auf den Kopf, begoss sie dabei mit dem heiligen Wasser aus dem Steinnapf und sang Worte in der alten Bibelsprache, die Asni nicht verstand. Nach dieser Behandlung brachte Großmutter sie zurück und schloss sie nach Abba Noahs Anweisung – »Kein Tageslicht darf ihre Haut berühren! Sieben Tage lang!« – in der Hütte ein. Während dieser Zeit führte der Nachbarssohn Großmutters Ziege auf die Weide.
Asni langweilte sich. In der Hütte war es dunkel. Die einzige Abwechslung waren Stimmen und Geräusche, die von draußen zu ihr drangen, das Kitzeln der Ameisen und langbeinigen Spinnen, deren Wege über ihre Haut führten, und das Essen, das Großmutter ihr brachte. Sie war eingeschlossen in Dunkelheit und es fiel ihr schwer, Tag und Nacht zu unterscheiden. Sie versuchte die Tage zu zählen, freute sich viel zu früh, da sie sich verzählt hatte, aber dann war es endlich soweit! Der Morgen des achten Tages! Die Sonne auf der Haut, das Licht in ihren Augen, das Aufatmen nach der Finsternis und Enge in der Hütte. Der Tag, an dem Abba Noah ein kleines Kreuz aus Stein und ein Lederbeutelchen auf ein Band fädelte.
»Die musst du immer um den Hals tragen«, sagte er und drückte es ihr in die Hand. »In dem Beutel habe ich Gottes Worte aufgeschrieben. Zusammen mit dem Kreuz werden sie dich in Zukunft vor dem Bösen bewahren!«
Asni tastet nach dem Band und atmet auf, als ihre Finger den Beutel und das Kreuz finden. Der fensterlose dunkle Raum wird von zwei Petroleumlampen spärlich beleuchtet. Auf einer Matratze liegen Kissen, Decken und Kleider, neben dem Lager steht ein kleiner Holztisch mit einer Plastikschüssel. An der gegenüberliegenden Lehmwand, über einem Schrank, hängt das Bild der Mutter Maria, die auf das Kind in ihren Armen schaut. ›Bitte!‹, flüstert Asni und sie kneift dabei die Augen zusammen, um das Lächeln Marias sehen zu können: ›Hol mich hier heraus!‹
»Was sagst du?« Kassahun fasst sie am Kopf, dreht ihr Gesicht zu sich und grinst wieder so, dass seine Bartspitzen hüpfen.
»Und wo soll sie schlafen?« Die Stimme der Frau klingt kratzig und rau. »Hier haben wir keinen Platz für sie!«
»Dann eben im Küchenhaus!«, donnert Kassahun. Asni zuckt zusammen und auch die Frau, die ihm, ohne dass er es merkt, einen bösen Blick zuwirft, die Stirn runzelt und aufgebracht schweigt.
»Heute brauchst du nicht zu arbeiten«, schnurrt er jetzt wie ein Kater in Asnis Ohr. »Heute sollst du bedient werden, kleine Braut!« Und sein Atem, der nach Alkohol und dem Saft zerkauter Chatblätter stinkt, berührt ihre Haut.
»Wir haben Hunger!«, befiehlt er laut der Frau. »Wo bleibt das Essen?«
Ein Mädchen, etwa so alt wie Asni oder vielleicht auch etwas älter als dreizehn, bringt Schüssel, Seife und Karaffe herbei und während es ihr Wasser über die Hände gießt, lächelt es sie neugierig von der Seite an. Asni weicht dem Blick aus, senkt den Kopf und wäscht ihre wunden Hände, die von der Seife brennen.
»Das ist Frehiwot«, Kassahun dreht Asnis Kopf zu ihr. »Meine Tochter!«
Frehiwot und ihre Mutter stellen einen Teller mit Injera-Fladen und Schüsseln mit Kichererbsenbrei, Spinat und Fleisch auf den kleinen Tisch. Kassahun stürzt sich gierig darauf, schlingt das Essen in sich hinein.
»Warum isst du nicht?«, brummt er nach einer Weile, kneift Asni mit seinen fettigen Fingern in die Wange. »Iss doch! Iss doch!«
Sie schüttelt den Kopf, wendet sich von ihm ab.
»Fre!«, brüllt er. »Bring sie zum Küchenhaus! Ich will sie nicht mehr sehen!«
Asni steht sofort auf. Die Frau gibt ihr wortlos eine Wolldecke und führt sie nach draußen.
Lautes Schreien hatte Asni geweckt. Frauenstimmen und Johlen. Sie war von ihrem Lager aufgesprungen und zu Großmutter, die in der offenen Tür stand, gelaufen. Da sah sie die Frau des einzigen Ladenbesitzers im Dorf mit schweißüberströmtem Gesicht auf ein Mädchen einschlagen. Es war Tigist. Sie hatten früher ein paarmal beim Ziegenhüten zusammen gespielt, damals musste es etwa so alt gewesen sein wie sie, Asni, heute. Tigist stammte aus einem anderen Dorf und lebte im Haushalt der Frau, die sie jetzt schlug. Niemand griff ein. Auch nicht Großmutter. Einige Nachbarn klatschten, andere lachten und manche schauten nur schweigend zu. Als die Frau endlich von ihr abließ, ging Asni zu Tigist. Sie wimmerte, ihr Kleid war zerrissen, Blut rann aus ihrer Nase. Großmutter brachte einen Becher mit Wasser, das Asni ihr langsam einflößte. Tigist hustete und spuckte es wieder aus. Später erfuhr sie von Großmutter, dass Tigist die Zweitfrau des Ladenbesitzers sei und seine erste Frau sie deshalb hassen würde.
»Komm ja nicht auf die Idee wegzulaufen!«, ruft Kassahun ihr mit vollem Mund nach. »Da draußen sind Hyänen!«
Fre nimmt eine der Petroleumlampen, öffnet die Tür und nimmt Asni an die Hand. Die Nachtluft weht kühl herein. Im milchweißen Mondlicht, das sich mit dem der Petroleumlampe mischt, erkennt Asni die Umrisse der Nachbarhütten. Sie könnte jetzt fortlaufen. Jetzt, wo Kassahun nicht mehr da ist. Fre würde sie laufen lassen. Ganz bestimmt. Aber es ist kalt und dunkel und sie hat Angst vor den Hyänen. ›Morgen‹, verspricht sie sich. ›Wenn es hell ist und warm von der Sonne. Morgen laufe ich weg!‹
»Ich habe keine Angst vor Hyänen!«, sagt sie stattdessen und greift dabei nach dem kleinen Steinkreuz und dem Lederbeutelchen um ihren Hals.
»Das solltest du aber.« Fre drückt ihre Hand. »Die schleichen oft nachts um die Häuser … neulich haben sie einen Mann aus dem Nachbardorf gefressen. Der hatte zu viel Honigwein getrunken und war auf dem Weg nach Hause.« Während sie fortfährt, führt sie Asni vorbei an Lehmhütten, aus deren Mauerritzen leise Stimmen und Schnarchen dringen und das laute Weinen eines Babys; Hunde, denen sie unterwegs begegnen, begrüßen sie schwanzwedelnd und ohne Lärm.
»Euer Küchenhaus liegt weit weg«, wundert Asni sich und Fre antwortet mit einem leisen Lachen. Sie öffnet eine niedrige Lattentür, leuchtet in den Küchenraum, reicht ihr die Wolldecke. »Hier bist du sicher … ich gehe jetzt!«
Sie hörte Kassahun und Vater zu, wollte, dass sie wieder über sie redeten. Vater sollte sagen, dass das ein Irrtum war. Nein, sollte er sagen. Sie kann dich nicht heiraten.
Doch die beiden Männer kauten Chat, lachten laut über die Geschichten, die sie von sich gaben, und schienen sie darüber vergessen zu haben.
»Irgendwann hat unser Vater beschlossen, mit der ganzen Familie in die Nähe vom Donnerstagsmarkt umzusiedeln«, erzählte Kassahun. »Das haben wir dann auch getan. Der Name, den wir unserem Dorf gegeben haben, ist ›Hamus Gebeya‹, Donnerstagsmarkt.« Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem kleinen Teppich. Im Rücken Kissen, vor ihm auf einem Tablett eine große Flasche Coca-Cola, zwei halbvolle Gläser und ein riesiger Haufen Chat.
»Das war schlau!« Vater lag mit halbgeschlossenen Augen lang ausgestreckt auf der Seite, eine Wange dick gequollen vom Chat. Er richtete sich etwas auf, nahm einen Schluck Cola, gab ein lautes Schlürfgeräusch von sich, legte sich wieder hin, lachte und aus seiner Stimme klang Bewunderung: »Seitdem habt ihr es am Donnerstag nicht weit zum Markt.«
»Du sagst es! Wir haben direkt daneben unsere Häuser gebaut und Felder angelegt. Und dann hatte ich die beste Idee meines Lebens! ›Lasst uns Chat anbauen!‹, hab ich gesagt. ›Der Boden ist genau richtig dafür!‹ Erst wollten mein Vater und meine Brüder nichts davon hören und haben weiter Gemüse und Getreide angepflanzt. Die Einnahmen aus meiner ersten Ernte haben sie dann überzeugt. Seitdem sind alle mit dabei – bis auf unseren jüngsten Bruder, der Priester ist.«
»Du bist wirklich schlau!« Vater setzte sich auf, klopfte seinem neuen Freund anerkennend auf die Schulter und legte sich ein neues Bündel Blätter auf den Schoß. »Dein Chat ist aber auch besonders gut!«
»Sogar die Händler aus Addis reißen sich drum!«, prahlte Kassahun.
Asnis Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Es dauert eine Weile, bis sie im fahlen Licht des Mondes, das durch die Holzlatten dringt, eine Henne mit ihren Küken und eine kleine Katze neben der noch warmen Kochstelle entdeckt. Sie wickelt sich in die Wolldecke und legt sich zu dem Kätzchen, das sich sofort schnurrend