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13 Urbane Legenden: Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen
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13 Urbane Legenden: Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen
eBook309 Seiten4 Stunden

13 Urbane Legenden: Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen

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Über dieses E-Book

In jedem Dorf, in jeder Stadt gibt es Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Jeder von uns kennt sie unter dem Namen »Urbane Legenden«.
Es sind Geschichten, die man sich in lauen Sommernächten am Lagerfeuer erzählt und die von mysteriösen bis gruseligen paranormalen Begebenheiten handeln.

Sind das aber wirklich nur Ammenmärchen?
Oder steckt tatsächlich ein Körnchen Wahrheit in diesen alten Legenden?

Freut euch nun auf spannende Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Apr. 2023
ISBN9783985280193
13 Urbane Legenden: Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen

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    Buchvorschau

    13 Urbane Legenden - Lennox Lethe

    Vorwort des Herausgebers Andreas Dörr

    Urbane Legenden! Die Faszination des Unheimlichen. Sagen aus längst vergangener Zeit. Erzählt an den Feuerstellen der Ahnen. Weitergegeben an die Nachkommen. Heute meist belächelt und als Ammenmärchen abgetan. Märchen, die man den Kindern vor dem Zubettgehen erzählt, damit sie des Nachts nicht durch die Gegend streifen. Aber wie jede Legende stets ein Stück Wahrheit enthält, so ist das bei den Urbanen Legenden nicht anders.

    Ich erinnere mich da noch lebhaft an meine Grundschulzeit. Als meine Lehrerin uns vom »Wingerath« erzählte. Jene Furcht einflößende, sagenhafte Gestalt, die ihr Unwesen auch heute noch in den Wäldern meines Dorfes zu treiben vermag. Das Haus, in dem er einst wohnte, steht heute noch inmitten unseres Dorfes. Unscheinbar, etwas abseits der Straße. Ob dort noch Menschen leben? Nun ja, es schaut bewohnt aus. Jedoch sah ich noch nie jemanden hinein- oder hinausgehen. Man möchte am liebsten gar nicht darüber nachdenken, wieso ich das noch nie tat. Jedenfalls lebte dort einst ein böser Mann. Ein Tagedieb, ein Hochstapler. Verhasst weit über die Grenzen unseres Dorfes. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Auch wollte niemand die Totenwache für ihn übernehmen, als es eines Tages mit ihm zu Ende war. So mussten Männer aus der Stadt kommen und des Nachts am Sarg des toten »Wingerath« ihre Wache halten. Es muss eine einsame, kalte und gespenstische Nacht gewesen sein. Und man erzählte sich, dass die Männer, obwohl sie bereits oft Totenwache hielten, in dieser Nacht vor Angst kaum Ruhe fanden. Dann, so will es die Legende, stand einer der Männer auf, um durch den Korridor des Hauses nach draußen zu gehen, als ein großer, alter Mann vor der Eingangstür ihm den Weg versperrte und ihn anbrüllte: »Was macht ihr in meinem Haus! Hinfort! Hinfort mit euch von meinem Grund und Boden!« Der Wächter, völlig verängstigt, lief zitternd zurück in das Zimmer, wo seine Kameraden den Leichnam bewachten, um ihnen von der Begegnung zu erzählen. Jedoch brauchte er dies nicht, denn der alte Mann, den er an der Tür gesehen hatte und der ihn aufforderte, sein Haus zu verlassen, lief ihm nach. Besser gesagt, und so erzählten es die tapferen Totenwächter, sei der Mann nicht gelaufen, sondern geschwebt. Geschwebt, wie es Geister tun. Nun bekamen es alle mit der Angst und sie taten, was der Geist von ihnen verlangte, und verließen schreiend das Haus des »Wingerath«. Nun sprach sich die Sache natürlich im ganzen Ort und über die Grenzen des Dorfes herum. Und so kam es, dass am Tag der Beerdigung Hunderte von Menschen vor dem Haus standen, um den Geist zu Gesicht zu bekommen. Und sie sollten nicht enttäuscht werden. In dem Moment, als die Träger den Sarg mit dem Leichnam über die Schwelle trugen, hörte man ein gellendes, teuflisches Lachen und am Fenster, das über der Tür angebracht war, stand er. Der »Wingerath«. Dann sprach er einen Fluch aus. Jeder, der nun fortan des Nachts durch den »Kohlenwald« gehen sollte und Schuld aufgeladen hatte, weil er jemanden betrogen, gestohlen oder sonstige Verbrechen verübt haben sollte, würde von ihm, »Wingerath«, verfolgt werden, und dieser Mensch würde seine Sündenlast auf den Schultern spüren in Form des Geistes des »Wingerath«.

    Dies zur Legende vom »Wingerath«. Losgelassen hat mich die Geschichte nie wirklich. Und es jagt mir heute noch einen kalten Schauder über den Rücken, wenn ich an seinem Haus vorbeifahre.

    Ob ich jemals des Nachts im »Kohlenwald« war? O ja! Spürte ich die Last des »Wingerath« auf meinen Schultern? Nun, ich möchte die Frage so beantworten: Hat nicht jeder irgendwann einmal Schuld auf sich geladen? Man braucht dazu nicht unbedingt einen »Wingerath«, der einen daran erinnert, aber ich dachte damals so bei mir, als ich den Wald wieder verlassen hatte: »Gut, dass du mich wieder daran erinnert hast!«

    So weit zu dieser unheimlichen »Urbanen Legende«, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf die nun folgenden 13 Geschichten einstimmen sollte. Ich möchte Sie einladen, den Autorinnen und Autoren auf ihren Reisen zu folgen und Zeuge zu werden, welche gespenstischen Geschichten sich noch abspielen oder abgespielt haben in unserer doch so rational erscheinenden Welt.

    Lassen Sie uns gemeinsam den Vorhang der Rationalität und der Logik für ein paar Stunden zur Seite schieben und eintauchen in die Mysterien unserer Welt. Lassen Sie uns Wesen kennenlernen, die man besser nie kennengelernt hätte.

    Ihr

    Andreas Dörr

    Willkommen liebe Freundinnen und Freunde der Urbanen Legenden.

    Mein Name ist Augustus Bedelheim. Ein Mönch. Sie kennen mich! Ich bin dieser Mann mit Kutte und den leuchtenden Augen am Rande des Sumpfes auf dem Einband. In dem Kloster, in dem ich wohne, bin ich zuständig für, nun ja, sagen wir mal, für die Dinge zwischen Himmel und Erde, die unser lieber Vater im Himmel am liebsten vergessen würde. Ich schreibe diese Dinge auf. Archiviere sie. Bewahre sie auf für die Nachwelt. Damit sie nicht in Vergessenheit geraten.

    13 dieser mystischen und unheimlichen Geschichten habe ich für Sie herausgesucht und neu interpretieren lassen von den besten Autorinnen und Autoren eurer Zeit. Aber, handelt es sich hier wirklich um neue Interpretationen der alten Geschichten oder vielmehr um Erlebnisse und Erfahrungen, die den Autorinnen

    und Autoren zugetragen worden sind? Von wo auch immer. Von wem auch immer. Sind die alten Legenden doch nur Legenden, die wir an unsere Kinder weitergeben, oder handelt es sich um viel mehr? Jedoch die, die mir die vorliegenden Geschichten zugetragen haben, haben mir versichert, dass sie ihrer Fantasie entsprungen sind. Aber kann man das glauben, wenn man sich schon uneins darüber ist, ob die zugrunde liegenden Legenden wirklich bloß Legenden sind?

    In jeder Legende steckt, der Bedeutung nach, ein Stück Wahrheit. Ein Stück erlebte Geschichte. Es liegt nun an Ihnen, zu entscheiden, wie viel Wahrheit, wie viel erlebte Geschichte in dem Folgenden liegt.

    Also entspannen Sie sich. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie 13 Urbane Legenden. Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen.

    In Köln, liebe Leserinnen und Leser, geht die Sage umher, dass sich der Teufel höchstpersönlich in jedem Jahr in der Karfreitagsnacht dazu auserkoren fühlt, geizigen Ratsherren, Politikern oder auch gewöhnlichen Menschen eine ganz besondere Fahrt in einer besonderen Kutsche als Dank für ihre Missetaten zu schenken. Für mich als frommer Mönch käme eine solche Fahrt in dieser Kutsche sicher nicht infrage. Außerdem geht es darin doch ziemlich heiß her. Wenn man dann noch bedenkt, dass die Kutsche, hat sie ihr Ziel am Gürzenich erreicht, im Boden verschwindet … Gott, oder besser gesagt, der Teufel allein weiß, wohin.

    Nun, heutzutage haben die Kutschen als Transportmittel ausgedient und der Mensch fährt lieber mit diesen Automobilen umher. Ein Glück, dass Anna, die gerade frisch in Köln angekommen ist, auch gleich ein Transportmittel findet, das sie zu ihrem Elternhaus fahren kann. War da aber wirklich Glück im Spiel?

    Die Feuerkutsche von Lennox Lethe

    »Brauchen Sie ein Taxi?«

    Die Worte des Mannes trafen sie, noch bevor der warme Wind ihre Wangen erreichte. Anna rollte ihren Trolley gerade aus der Drehtür von Terminal 2. »Das wäre toll.«

    »Dann kommen Sie.« Er spazierte zum Taxistand und steuerte einen elfenbeinfarbenen Mercedes in der Mitte der Reihe an. Ein Kollege schaute missbilligend zu, wie er Annas Trolley im Kofferraum verstaute.

    »Normalerweise geht’s der Reihe nach«, sagte der Taxifahrer, als sie im Fahrzeug saßen. »Das ist so üblich, aber keine Vorschrift. Sie haben nämlich freie Fahrzeugwahl, wussten Sie das?«

    Anna zuckte mit den Schultern. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht und es war ihr auch egal.

    »Ich war gerade eine rauchen und hab Sie gesehen. Ich rauche nie beim Taxi, wissen Sie. Sonst denken die Leute, dass ich keine Zeit für sie habe. Wo soll’s denn hingehen?«

    Sein rheinländischer Tonfall erinnerte an die Büttenredner im Karneval. Er dehnte die Vokale und sprach die Gs wie Js aus. Anna schätzte ihn auf Mitte sechzig, vielleicht älter. Er trug karierte Bermudas, ein blaues Hemd und eine braune Weste aus Kunstleder mit einem Kuli in der Brusttasche. Die verspiegelte Sonnenbrille hatte er in die kurzen, weißen Haare geschoben.

    Sie nannte ihm die Adresse in Bayenthal. Nickend stellte er das Taxameter ein und fädelte sich in den Verkehr ein.

    »Ist nicht Ihr erstes Mal in Kölle, hab ich recht? Ich hab ’nen Blick für so was.«

    »Meine Eltern wohnen hier.«

    »Ostern bei Vater und Mutter. Na, das ist doch herrlich.«

    Sie nickte artig. In Wirklichkeit graute ihr vor den Ostertagen. Sie hasste es, wenn fröhliche Menschen aufeinander gluckten.

    Das Taxi rauschte über die schmale Zubringerautobahn. Dann ging es über die Rodenkirchener Brücke. Auf dem Rhein glitten weiße Ausflugsschiffe dahin wie dünne Zigarren, und auf dem Wasser glitzerte die goldene Märzsonne.

    »Sind eine Menge Touristen in der Stadt«, sagte der Fahrer. »Das Wetter spielt prima mit. Hat der Petrus gut gemacht.«

    »Dann haben Sie ja viel zu tun. Freitag Abend ist in Köln doch Party angesagt.« Anna dachte an die Partymeile um die Zülpicher Straße, wo sie als Studentin gekellnert hatte. Da hatte sie Marcel kennengelernt.

    »Nicht heute. Wir haben Karfreitag.« Er warf ihr einen strengen Blick zu.

    »Na und? Heutzutage interessiert das doch niemanden mehr.«

    »Das Ordnungsamt schon. Tanzveranstaltungen, Märkte und Sportevents sind verboten. Im Kino laufen keine Horrorfilme. Der Karfreitag ist ein stiller Feiertag.«

    Anna machte sich nichts aus der Kirche, aber jetzt erinnerte sie sich dunkel daran, so etwas schon einmal gehört zu haben.

    »Heute ist alles still«, sagte der Fahrer. »Abgesehen von der Feuerkutsche natürlich.« Er lachte.

    »Der was?«

    »War bloß ein Witz. Die Feuerkutsche ist eine Legende.«

    Anna hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

    »Ich dachte, Sie sind von hier? Dann müssen Sie doch davon gehört haben.«

    Leicht verlegen schüttelte Anna den Kopf.

    »Die Geschichte von der Feuerkutsche stammt aus dem Mittelalter, als Kölle so ein richtiges Drecksloch war. Die Leute waren arm.« Er schob seine Sonnenbrille auf die Nase, sodass Anna sich in den Gläsern spiegelte, als er kurz zu ihr hinüber auf den Beifahrersitz sah. »Es gab da einen Bürgermeister, und der war ’ne richtig fiese Möpp. Er besaß Ländereien vor den Toren der Stadt und schwamm im Geld, lebte in Saus und Braus wie ein Pascha. Aber statt den Leuten etwas abzugeben, ließ er die Pflanzen lieber auf den Feldern verrotten. Er hatte ein Herz aus Stein.« Der Fahrer verzog abfällig das Gesicht. »Der Herrgott im Himmel und sein Kollege in der Hölle sahen sich das eine Weile an. Dann war Schluss mit lustig. Der Bürgermeister wurde mit der Kutsche geholt.«

    »Wer hat ihn geholt?«

    Der Fahrer grinste. »Na, der Teufel. Gerade als der Bürgermeister aus dem Rathaus kam, hat sich die Erde aufgetan und eine glühende Kutsche kam direkt aus der Hölle emporgeschossen. Die Pferde standen lichterloh in Flammen. Der gute Mann schrie und wollte weglaufen, doch der Teufel hat seine Peitsche nach ihm geschwungen und ihn in die Kutsche gezogen. Dann ratterte sie davon und verschwand in einem Loch in der Erde direkt beim Gürzenich.«

    Der Fahrer setzte den Blinker, scherte auf die Abbiegespur aus. »Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Damit man die Sache auch nicht vergisst, bricht in der Nacht vom Karfreitag zwischen Rathaus und Gürzenich die Hölle los. Punkt Mitternacht hört man Pferdegetrappel und das Rattern von Rädern. Schon von Weitem sieht man den Feuerschein die Häuser entlangzucken. Spätestens jetzt ist es Zeit, zu verschwinden und sich im Bett die Decke fest über den Kopf zu ziehen. Die Mutigen, die aus den Fenstern schauen, so erzählt man sich, sehen die Kutsche durch die Gassen rasen. Sie steht lichterloh in Flammen. Die Pferde brennen und sprühen Funken wie Konfetti. Auf dem Kutschbock sitzt der Teufel persönlich und in der Kutsche trommelt der hartherzige Bürgermeister verzweifelt gegen die Fenster.«

    Anna hob skeptisch die Brauen. »Hat wirklich mal jemand die Kutsche gesehen?«

    »Keine Ahnung. Glaube nicht, dass das Ordnungsamt es schon mal versucht hat. In Kölle hat der Teufel ne Ausnahmegenehmigung.«

    Die Fahrt endete vor einem gepflegten Arbeiterhaus aus der Gründerzeit. Die Wohnung ihrer Eltern lag im Erdgeschoss. An den Fenstern klebten kitschige Osterhasen und im Treppenhaus roch es nach Lavendel.

    »Da bist du ja, Anna.« Ihre Mutter strahlte über beide Backen. Eine geblümte Kochschürze spannte über dem runden Bauch. Ihre haselnussbraun gefärbten Haare waren wie eine Krone auf dem Kopf getürmt. »Ein Jammer, dass du erst jetzt kommst. Du hast den Kreuzgang verpasst.«

    »Es gab keinen früheren Flug. Ostern will jeder nach Hause.« Anna lächelte entschuldigend. In Wirklichkeit hatte sie keine Lust verspürt, sich in aller Herrgottsfrüh für den ersten Flieger aus dem Bett zu quälen, um mit der Familie die Passionsgeschichte abzuklappern. Jetzt kam sie pünktlich zum Mittagessen und sie hatte Hunger mitgebracht.

    Im Wohnzimmer schlug ihr kollektiver Frohsinn entgegen. Alle lachten und strahlten. Ihre Schwester Marie war seit Weihnachten noch schlanker geworden, ihr Mann Simon noch pummeliger, als hätten die beiden die Fettpolster getauscht. Jonathan und Victoria, die verhätschelten Zwillinge, beschmierten gerade eine Staffelei mit Acrylfarben. Das Zeitungspapier auf dem Boden war mit bunten Farbklecksen übersät.

    »Ausgezeichnet«, lobte Annas Vater. »Schau mal, Anna.«

    Die schiefen Kreise und grünen Striche sollten wohl ein Osternest darstellen. Falls ihr das Bild später als Geschenk aufgedrängt wurde, würde sie es heimlich im Müll entsorgen wie den selbst gebastelten Weihnachtsmann. Sie konnte einfach nichts damit anfangen. »Hübsch«, log sie und wuschelte den Kindern unsicher durch die Haare. »Unsere Familie hat Talent.«

    »Tatsächlich hat Papa nächste Woche eine Vernissage«, rief Simon vom Sofa.

    »Im Gemeindecafé?« Da hingen seine Bilder regelmäßig und wurden von kurzsichtigen Rollatorrentnern mit wohlwollenden Blicken betrachtet.

    »Im Kolumba.« Ihr Vater lächelte stolz. »Von mir ist nur ein einziges Werk dabei, aber das reicht schon.«

    »Das freut mich.« Sie trat näher an eins der Stillleben heran, die überall im Raum hingen und sich eifrig bemühten, an die Qualität der Holzrahmen heranzureichen. Die Blumensträuße, Karaffen und Teekannen erinnerten sie an die dünnen UNICEF-Postkarten, die man in der Adventszeit ungefragt im Briefkasten fand.

    »Das Kolumba ist das Kunstmuseum des Erzbistums Köln«, trällerte Annas Mutter. Sie hatte die Küchenschürze inzwischen ausgezogen und damit begonnen, den Tisch zu decken. »Der liebe Pastor Klütsch hat ein paar Fäden gezogen.«

    Anna lächelte steif. Wahrscheinlich war die Ausstellung sehr viel weniger spektakulär, als alle gerade taten. Dass der Kram aber überhaupt in einem richtigen Museum hing, war verrückt. Ohne den kölschen Klüngel wäre es nie passiert.

    Als sie am Tisch saßen, bemerkte Anna die Fischmesser. Sie hatte sich auf etwas Anständiges gefreut. Normalerweise tischte ihre Mutter bergeweise Essen auf. Weihnachten war sie mit drei prall gefüllten Tupperdosen nach Hause gefahren.

    »Es ist Karfreitag«, erklärte ihre Mutter nach dem Tischgebet. »Da gibt es immer Fisch. Den Hecht habe ich gestern ganz frisch in der Markthalle gekauft. Bei Beerens Fischspezialitäten, die sind die Besten.«

    »Er schmeckt ganz ausgezeichnet«, schleimte Simon und verdrehte entzückt die Augen. »Stimmt’s Kinder? Sagt der Oma, wie euch das Essen schmeckt.«

    »Super, Oma«, lobten Jonathan und Victoria eifrig und bissen synchron in ihre Fischstäbchen. Der Hecht blieb den Erwachsenen vorbehalten.

    »Wo ist denn der Weißwein? Wenn es schon Fisch gibt …« Anna schob den Stuhl zurück, doch ihre Mutter hielt sie mit einer freundlichen Geste zurück.

    »Du weißt doch, dass wir in der Fastenzeit keinen Alkohol trinken.«

    Anna zog den Stuhl wieder heran und nippte an ihrem Wasserglas. Das Familienfest ging ihr schon jetzt auf die Nerven. Sie ertrug die überschwängliche Idylle einfach nicht. Gerade tätschelte Marie Simons Arm und schaute zu ihren perfekten Kindern hinüber, die ihre Fischstäbchen auf den Tellern in kleine Pakete zerteilt hatten, welche sie munter in Ketchup tauchten und lautlos aßen. Sie waren jetzt fünf. Ihre kecken Stupsnasen und süßen Sommersprossen erfüllten die Herzen ihrer Eltern mit Stolz.

    Anna war nicht etwa neidisch. Sie wollte keine Kinder. Das Leben war zu kurz, um es mit Windelnwechseln und Elternsprechtagen zu vergeuden. Sie und Marcel hatten sich bewusst dagegen entschieden. Aber ihre Schwester Marie so schrecklich glücklich zu sehen, kotzte sie an. Nach der Geburt war sie auseinandergegangen wie ein Hefeteig. Wenigstens den Preis hatte sie zahlen müssen. Doch nun war sie gertenschlank und sah aus wie Ende zwanzig. Bei jeder Gelegenheit küsste und knuddelte sie ihren Simon, der sich ebenfalls noch nie für etwas angestrengt hatte. Der Vorstandsposten war ihm nachgeschmissen worden, weil er zufällig die richtigen Leute im Karnevalsverein kannte. Anna war nicht neidisch auf den Job. Lieber würde sie sterben, als in endlosen Meetings zu sitzen und über Quartalszahlen zu quatschen. Sie wollte weder sein Elektroauto noch sein Aktienpaket. Aber es nervte sie, dass dieses fröhliche Moppelchen jeden Mist im Leben geschenkt bekam.

    Anna lutschte missmutig am Fisch herum.

    »Schmeckt dir der Hecht nicht? Jupp Beerens hat mir versichert, dass ich nicht eine Gräte finden würde. Falls doch, soll ich sie ihm am Dienstag vorbeibringen.«

    »Doch.«

    »Wirklich?«

    Die Fragerei ging ihr auf die Nerven. »Es ist nur … Im Glienicker See gibt es auch Hechte.«

    Anna senkte den Blick und genoss das entsetzte Schweigen. Den Satz hatte sie sich einfach nicht verkneifen können.

    »O Kind, daran habe ich überhaupt nicht gedacht!«

    »Wo ist der Glienicker See?«, fragte Victoria.

    »Nicht jetzt, Schatz«, mahnte Simon.

    »Fahren wir da gleich hin?«, fragte Jonathan.

    »Wie ungeschickt von mir!« In den Augen ihrer Mutter lag pure Verzweiflung.

    »Bitte entschuldigt mich.« Der Stuhl quietschte über den Dielenboden, als Anna aufstand und in die Küche lief.

    Ein weiterer Stuhl quietschte, wahrscheinlich der ihrer Mutter, denn ihr Vater flüsterte: »Lass sie. Sie fängt sich schon wieder.«

    Anna fand eine Flasche Riesling von der Ahr im Kühlschrank. Sie klapperte extra laut mit dem Korkenzieher, und das Ploppen des Öffnens war bis zum Esstisch zu hören. Gut so.

    Scheiß auf Karfreitag.

    Mit einem Weinglas, der Flasche und hängenden Schultern durchquerte sie das Wohnzimmer. Als sie den Esstisch passierte, um auf die Terrasse hinauszuschleichen, sagte niemand ein Wort.

    Draußen zog sie einen Liegestuhl in die Sonne.

    Im letzten Herbst war ihr Ehemann beim Tauchen im Glienicker See ertrunken, als sie zu Hause Netflix geguckt hatte. Unter Wasser war es zu Komplikationen gekommen, hatte man ihr gesagt. Das käme angeblich selbst bei erfahrenen Tauchern vor und wäre nicht passiert, wenn Marcel einen Partner dabeigehabt hätte.

    Danach war Anna wie ein rohes Ei behandelt worden, das jederzeit zerbrechen konnte. Gleichzeitig hatten sich die meisten in ihrer Nähe unbehaglich gefühlt und nicht gewusst, was sie sagen sollten. Einige hatten über ihre eigenen Verluste geplappert. Vom Tod der Oma, dem Tod der Eltern oder dem Tod des Lieblingshaustiers. Andere hatten das Klischee von der Zeit, die alle Wunden heilte, wiedergekäut.

    Aber Marcel hatte keine Wunde hinterlassen. Anna weinte ihm keine Träne nach. Nicht weil er ein schlechter Kerl gewesen wäre, sondern weil er sie einfach nicht glücklich gemacht hatte. Die ersten Wochen vielleicht, aber dann hatte die Last des Alltags alles zunichtegemacht.

    Sie hätten sich ohnehin getrennt. Anna band es niemandem auf die Nase, weil es ihren Status als trauernde Witwe geschmälert hätte. Sie mochte diese Rolle, denn sie sorgte effektiv dafür, dass alle um sie herum aufhörten zu lachen.

    Anna nahm einen Schluck Riesling, den sie ohne ihre kleine Show nie bekommen hätte. Er schmeckte herrlich und besaß genau die richtige Temperatur.

    Man ließ ihr viel durchgehen und sie reizte diese Freiheit aus. Eigentlich überspannte sie den Bogen. Sie empfand eine perverse Befriedigung dabei, ihren Mitmenschen den Spaß zu verderben. Gerade malte sie sich das Tischgespräch aus, das garantiert nicht mehr in Gang käme, so sehr ihre Mutter auch versuchte, die Stimmung zu retten. Es würde zäh und anstrengend sein. So wie das Leben.

    Anna schloss die Augen. Die warmen Sonnenstrahlen fühlten sich herrlich auf den Lidern an. Der Wein stieg ihr bereits zu Kopf. Die paar Fischhappen und das gedünstete Gemüse bildeten nicht gerade eine solide Grundlage für eine Flasche Riesling.

    Ihr Körper entspannte sich und ihre Gedanken begannen davonzuschweben.

    Klack-klack, klack-klack. Klack-klack, klack-klack …

    Erst glaubte sie, ihren eigenen Herzschlag zu hören. Aber es klang eher wie Pferdegetrappel.

    Im Geiste sah sie eine brennende Kutsche auf sich zurasen. Auf dem Bock hockte eine finstere Gestalt mit glühenden Augen und schwang eine Peitsche, deren Schweif aus roten Funken bestand.

    Anna schmunzelte. Es war nur diese alberne Geschichte, die der Taxifahrer erzählt hatte.

    Klack-klack, klack-klack …

    Nein, sie bildete sich das Klackern nicht ein. Es waren ganz eindeutig eiserne Hufe, die auf das Pflaster schlugen; auf die Platten der Terrasse, um genau zu sein. Sie kamen näher und schwollen zu einem Crescendo an.

    Klack-klack, klack-klack …

    Als Anna die Augen aufriss, blinzelte sie direkt in die Sonne. Wie auf einem frisch geknipsten Polaroid schälten sich die Fassade des Nachbarhauses und die Sträucher des Gartens allmählich aus dem weißen Nichts.

    Schatten trafen ihr Gesicht. Die Hufe verharrten neben ihr, und die Zwillinge schauten auf sie herab, einer rechts, einer links. Ihre süßen Gesichter schienen in den Wolken zu schweben. Anna kam sich auf einmal winzig vor.

    »Geht’s dir besser, Tante Anna?«, fragte Victoria.

    »Willst du mit uns spielen?« Jonathan lächelte über sein Engelsgesicht.

    Nein, das wollte sie nicht.

    Als sie sich in der Liege aufrappelte, wurde ihr klar, warum die beiden so viel größer

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