Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Spuk!: Dunkle Geschichten von Markus K. Korb
Spuk!: Dunkle Geschichten von Markus K. Korb
Spuk!: Dunkle Geschichten von Markus K. Korb
eBook258 Seiten3 Stunden

Spuk!: Dunkle Geschichten von Markus K. Korb

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wenn die Rache aus dem Reich der Toten kommt …
Wenn im Genfer See ein grauenhafter Fund gemacht wird …
Wenn japanische Geister nach dem Leben trachten …
Wenn verhüllte Dinge Schauer über den Rücken jagen …
Wenn nachts im Riesenrad schicksalshafte Begegnungen lauern …
… dann ist die Zeit reif für Spuk!
Unheimliche Erzählungen von Markus K. Korb.
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum18. Mai 2017
ISBN9783958695795
Spuk!: Dunkle Geschichten von Markus K. Korb

Ähnlich wie Spuk!

Ähnliche E-Books

Horrorfiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Spuk!

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Spuk! - Markus K. Korb

    Danksagung

    VORWORT

    Markus K. Korb.

    Das ist in meinen Augen mehr als ein bloßer Name – das ist eine Aussage. Ein Versprechen. Nicht nur für mich, sondern für viele Freunde von Horrorgeschichten. Ein Markus K. Korb schürt Erwartungen bei seinen Lesern.

    Doch dazu später mehr.

    Zu Beginn möchte ich gern ein wenig zurückdenken. Daran, wie mir dieser Name das allererste Mal begegnet ist. Es mag mittlerweile bestimmt sieben oder acht Jahre her sein, als ich auf dem Agra-Flohmarkt in Leipzig gelangweilt in einen Wühlkarton mit verstaubten, zum Teil recht zerfledderten Büchern griff. Zufällig (oder war es Schicksal?) zog ich die Anthologie Jenseits des Hauses Usher zwischen wahllos einsortierten Kochbüchern, Schmonzetten, Krimis und Groschenromanen hervor.

    Laut Untertitel auf dem Frontcover handelte es sich bei dem Buch um eine Hommage an Edgar Allan Poe, herausgegeben von eben jenem Markus K. Korb.

    Nicht nur das Cover macht einen sehr guten Eindruck. Vor allem der von Markus verfasste Klappentext zog mich sofort in den Bann. Er schrieb von menschlichen Abgründen und versprach den Lesern makabre, teils groteske, aber stets unheimliche Begebenheiten. Warnte davor, in einen Strom aus phantastischen Visionen gezogen zu werden und in einen Strudel des Grauens zu geraten, der einen an den Rand der Wirklichkeit führe.

    Ich überlegte nicht lange und schlug begeistert zu. Der Händler verlangte einen Euro. Ein echtes Schnäppchen also, bei dem nicht nachverhandelt werden musste ...

    Die Geschichten der illustren Autorenriege –Markus selbst steuerte neben dem Vorwort sowie kurzen Einführungstexten auch eine eigene Erzählung bei – weckten in mir die Liebe zur Phantastik.

    Fortan tauchte ich immer tiefer ein in die Welten des klassischen Horrors, verfolgte aber auch interessiert das weitere Schaffen von Markus K. Korb und anderen deutschsprachigen Autoren wie zum Beispiel Uwe Voehl, Arthur Gordon Wolf und Vincent Voss, um nur einige zu nennen.

    Meine Gier war geweckt – erst als reiner Leser, später auch als Erschaffer düsterer Welten.

    Wenige Jahre nach diesem ,verhängnisvollen‘ Flohmarktbesuch, im Herbst 2012, war es erstmals an mir, geeignete Autoren für eine eigene Anthologie zu finden.

    Ich hoffte, Markus K. Korb für das Projekt gewinnen zu können und schrieb ihm eine E-Mail, trug ihm mein Konzept vor und erzählte, weshalb ich ihn unbedingt dabeihaben wollte.

    Es dauerte nicht lange, bis ich eine Antwort erhielt. Markus war sofort Feuer und Flamme und freute sich, bald mit einem »jungen Enthusiasten« zusammenzuarbeiten.

    Nach einigen digitalen Briefwechseln entschieden wir uns, seine Kurzgeschichte Karussells auf Rummelplätzen, die bereits zum damaligen Zeitpunkt seit über einem Jahrzehnt nicht mehr erhältlich war, neu aufzulegen. Sie passte perfekt zum Buch und bildete außerdem den Auftakt zu einer kreativen, freundschaftlichen Zusammenarbeit, die bis heute anhält.

    In einer der vielen E-Mails, die wir uns hin und her schrieben, richtete er zum Abschluss folgende Zeilen an mich:

    »Es braucht Menschen wie dich, welche die Phantastik-Landschaft hierzulande mit ihrem Geist beleben und weiterbringen. Weiter so!«

    Diese motivierenden Worte, lieber Markus, werde ich nie vergessen. Gern erinnere ich mich daran zurück. Sie haben mich mit Stolz erfüllt und tun dies noch immer. Mit diesen Zeilen möchte ich dir etwas davon zurückgeben. Denn deine Geschichten halten die Fahnen der Phantastik hoch erhoben. Mit immer neuen Ideen und kreativen Projekten belebst du das Genre selbst wie kaum ein Zweiter.

    Inspiriert von Poe und Lovecraft, hast du deinen eigenen Stil gefunden, den du meisterlich über die unterschiedlichsten Themen, Epochen, Dimensionen und historische Schauplätze stülpst.

    Auch ich sage dir: »Weiter so!«

    Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, überzeugen sich nun am besten selbst, wovon ich spreche.

    Es sei nicht zu viel verraten, wenn ich Ihnen garantiere, dass Markus K. Korb Sie in den folgenden sechzehn Geschichten mit auf eine Reise durch Raum und Zeit nehmen wird, bis hin an den Rand der Wirklichkeit.

    Sie werden menschliche Abgründe in Tokio, Cornwall und Paris erkunden. Es erwarten Sie makabre, stets unheimliche Begebenheiten in stattlichen Herrenhäusern, auf Friedhöfen oder inmitten wilden Kriegsgetöses.

    Seine stets mühsam recherchierten Blicke in die Vergangenheit verwandeln historische (Schein-?) Wahrheiten in phantastischen Visionen.

    Er findet das Groteske in den Seelen von Kindern, Immobilienmaklern und Kriegsveteranen.

    Doch Vorsicht, der Strudel des Grauens übt einen gefährlichen Sog aus, dem sie sich nicht entziehen werden können.

    Ein echter Korb eben, damals wie heute. Eine Aussage. Ein Versprechen an die Leser, das eingelöst wird.

    Viel Lesefreude mit den neuesten Korbschen Geschichten wünscht herzlichst

    Constantin Dupien

    Im Januar 2017

    NACHTGESPENST

    Ich fließe geräuschlos in dein finsteres Zimmer. Es ist nachts um 4 Uhr, und obwohl du mit dem Gesicht zur Wand liegst, weißt du, dass ich da bin.

    Du spürst es in deinem Rücken. Eine Kälte, die auf deinem Unterhemd brennt, sodass du meinst, auf deinem Rückgrat würden sich weiße Froststellen bilden. Das bin ich. Dieses Gefühl geht von mir aus.

    Du hast es schon lange nicht mehr gespürt. Damals, als du noch ein Kind warst, war ich dein ständiger Begleiter – in langen durchwachten Nächten voller Furcht, als du einsam unter der Bettdecke gezittert hast. Doch du warst nie einsam.

    Stets war ich bei dir gewesen.

    Dachtest du wirklich, die Angst käme von den Comics oder den Büchern, die du gelesen hast?

    Das wollten deine Eltern dich glauben machen. Damit du deine Furcht verarbeiten kannst. Aber das stimmt nicht!

    Die Angst kam durch mich.

    Ich bestehe aus ihr, strahle sie aus, senkte sie in dein kleines Kinderherz.

    Wie du dich an dein Metallkreuz klammertest, das du zur Erstkommunion erhalten hattest! Wie süß! So hilflos. Nutzlos. Hättest du die Augen geöffnet, wärst du schon damals mein gewesen. Auch mit umklammertem Kreuzchen.

    Aber nein. Du musstest ja stets unter die Bettdecke kriechen, die Augen fest zusammengepresst, die Hände drückten das Kreuz an die bebende schmächtige Brust.

    Und dazu das Beten, ja mit Inbrunst hast du gebetet: „Vater im Himmel, beschütze mich. Lass es mir gut gehen, Amen."

    Ach, wie demütig.

    Doch jetzt bist du erwachsen und hast schon lange die Gebete vergessen.

    Jetzt gehörst du mir!

    Na komm, dreh dich um! Es hat doch keinen Zweck. Wir beide wissen, dass du es tun wirst. Du wirst dich umdrehen und mich anschauen.

    Und dann wird mein Anblick dich in den Wahnsinn treiben. Was dann geschehen wird? Nun, manche vergraben ihre Fingernägel in den Augenhöhlen und reißen sich die Augäpfel heraus. Andere strecken ihre Zunge aus dem Mund und beißen sie anschließend mit einem kräftigen Biss ab.

    Tja, man kann eben nie wissen, wie sich der Wahn auswirkt.

    Willst du es wissen?

    Mach schon! Dreh dich um und schau mich an!

    Uns beiden ist klar, dass du nicht widerstehen kannst ...

    Drum mach ein Ende.

    Nach all den Jahren:

    Schau.

    Mich.

    An!

    GENIUS LOCI

    Nur ein Narr leugnet die Existenz von Gespenstern. Nur, wer sein Leben leichtfertig auf Spiel zu setzen bereit ist, ignoriert die böse Aura, die als giftiger Brodem manche Orte umflort wie ein tödlicher Witwenschleier.

    Das Halicon-Hochhaus ist so ein Ort. Einst erbaut, um mit seiner verspiegelten Plexiglasfront den hochtrabenden Plänen der in ihm arbeitenden Banker den Ausdruck von Stolz zu verleihen, ist nach dem Niedergang des Bankhauses nur noch zornige Arroganz verblieben.

    Mein Bruder und ich hatten es uns als Spielplatz auserkoren. War es ein unbewusstes Spiel mit der Gefahr oder der Trotz gegen das elterliche Verbot, der uns diesen Ort als Spielplatz aussuchen ließ? Nirgendwo sonst konnten wir unserer Neigung zu gefährlichen Spielchen besser ausleben als hier. Ja, es war geradeso, als ob wir hier durch irgendetwas zu noch gefährlicheren Mutproben angestachelt würden. Auf einem Holzbrett auf dem Boden zu balancieren reichte nicht aus, es musste schon das Balancieren auf dem zwei Meter hohen, löchrigen Wellblechdach sein, welches den gemeinschaftlichen Fahrradständer vor Regen schützte. Oder ein Spaziergang auf dem Nebengebäude, das mit rissigem Eternit gedeckt war und jeden Moment einzubrechen drohte. Immer wagemutiger wurden wir, versuchten uns mit immer wilderen Taten zu überbieten und waren doch immer nur Getriebene von etwas anderem, das hier wohnte.

    Heimlich kauften wir von unserem Taschengeld einen gewaltigen Dolch, wie er auch im Zirkus von Messerwerfern benutzt wurde. Ein grobes, wuchtiges, im Sonnenlicht blitzendes Ding, geschmiedet, um Aufmerksamkeit zu erheischen und geworfen zu werden.

    Die Außenfassade war hierzu eine perfekte Zielscheibe. Mein Bruder und ich übten Zielwürfe – zuerst auf Fenster im Erdgeschoss. Der Dolch blieb zitternd im Glas stecken, das zwar knirschend in einem Spinnennetz aus Rissen splitterte, aber nie brach.

    Wir steigerten uns von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Um den Dolch aus höher gelegenen Fenstern ziehen zu können, mussten wir ins Haus hineingehen. Dies gelang uns problemlos durch die zerbrochene und schief in den Angeln hängende Eingangstür. Im Dunkeln lief dann derjenige, der geworfen hatte, hoch in die leeren Büroetagen und öffnete eines der Fenster, um dann bequem den Dolch herauszuziehen.

    Wir waren schlussendlich im letzten Stock angelangt. Der Weg dort hinauf erwies sich als besondere Mutprobe. Keiner von uns rannte hinauf, ein jeder kämpfte gegen den Unwillen an, sich nach oben zu begeben und den Showdolch aus dem Fenster zu ziehen. Dabei war die oberste Etage nicht anders als die übrigen Stockwerke. Aber irgendetwas war an der Aura dort oben ungewöhnlich.

    Böser.

    Gemeiner.

    Hinterhältiger.

    So als ob dort oben das faulige Herz des zerfallenden Hochhauses vor sich hin rottete und faserartige Gifttentakel über das Treppengeländer hinabschlängelte, wie eine aus dem Jenseits angeschwemmte riesige, stinkende Qualle, die nun in der Realität festsaß und zornentbrannt nach Mitteln und Wegen suchte, ihre Existenz aus der Monotonie der grauen Londoner Tage und der Langweile des Immergleichen zu befreien.

    Der Weg zurück durch das leere und nur von einem weit entfernten Oberlicht düster beleuchtete Treppenhaus war stets unheimlich. Von überall hörte man Geräusche, deren Quellen feststellbar waren, und ein geisterhafter Wind fuhr einem in den Nacken. Manchmal meinte ich, dass mich hallende Schritte auf einer der Etagen über mir einholten, und beeilte mich schneller zu werden. Doch sie holten auf, egal wie schnell ich wurde. Da stolperte ich und fiel ... gottlob in die Arme meines Bruders, der schon – einer inneren Eingebung folgend – mir ins Haus gefolgt und entgegengelaufen war. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn er nicht hier gewesen wäre ...

    Eines Tages war ich allein vor dem Hochhaus. Der Lattenzaun hinter mir schirmte mich gegen die Nebenstraße des Eastends ab. Arbeiter hatten ihn errichtet, um den geplanten Abriss der Öffentlichkeit anzuzeigen. Das Schild mit der Warnung an die Eltern, dass sie ihre Kinder nicht hier spielen lassen durften, war ebenfalls dort angebracht.

    Mein Bruder lag daheim krank im Bett und wand sich in grauenhaften Fieberträumen. Er griff mit zittrigen Händen nach mir, wollte mich nicht gehen lassen, aber meine Mutter bestand darauf, dass ich das Haus verließ. Ich sollte nicht ebenfalls krank werden.

    Ich hatte den Dolch mitgenommen. Eher lustlos warf ich einige Male gegen die Fassade. Nicht sehr hoch. Nur in den zweiten Stock.

    Und dann trat das Mädchen aus dem Schatten des Wellblechs, das sich über dem gemeinschaftlichen Fahrradständer spannte.

    Es trug ein weißes Kleid, lang bis zum Boden. Blonde Haare, deren Locken wild im Wind wehten, obgleich sich hinter dem Lattenzaun kaum ein Lüftchen regte. Blasses Gesicht, Augenhöhlen, schwarzen Schlünden gleich. Ein Strich als Mund.

    Wortlos schritt es an mir vorbei auf das Hochhaus zu. Es wandte nicht den Kopf oder gab mir mit einem Laut zu verstehen, dass es irgendeine Notiz von mir nahm. Nein, es beachtete mich nicht. Ja, mehr noch – es schien nicht die Fähigkeit zu haben, irgendeine Existenz außer der eigenen wahrzunehmen. Mir kam es so vor, als laufe es umgeben von seinem eigenen Realitätskontinuum an mir vorbei und verschwand im Halicon-Hochhaus.

    In diesem Moment spannte sich etwas in mir. Mein Rücken drückte sich durch, mein Kopf hob sich, der Blick fror nach vorne fest. Die Brustmuskeln verspannten sich so, dass mir das Atmen schwerfiel. Die Spannung erfasste auch meine Arme bis hin zu den Fingerspitzen – ich presste die Arme an den Körper und drückte sie in Richtung Boden, spreizte dabei die Finger weit, bis ich das Gefühl hatte, sie würden abbrechen.

    Und da wusste ich: Genau so ist es immer ...

    Derart verkrampft folgst du dem Mädchen ins Gebäude. Sie läuft stets mehrere Stufen voraus, ist schon auf dem ersten Absatz, als du ihr nachfolgst. Diesen Abstand holst du weder ein noch fällst du zurück. Eure Distanz ist stets dieselbe, wie gefangen von einem unsichtbaren Zugband, das sich zwischen euch straff spannt.

    Rissiger Beton unter deinen Füßen. Ein Luftzug durch wirr gebrochene Fenster, am Boden ein Mosaik aus staubbedeckten Splittern. Du läufst daran vorbei, nimmst es kaum wahr. Aber da ist etwas anderes. Und das zieht dich magisch an.

    Eine Melodie ist da. Ein Summen, das durchs Treppenhaus schwebt. Wunderschön. Du willst sie erreichen, möchtest sie mit Händen umschmeicheln, die Melodie. Du willst die Sängerin kennenlernen, mit ihr reden, mit ihr spielen, für immer ...

    Deine Füße treten auf vergiftete Mäuse, eingeringelt im Todeskampf. Du siehst mit Farbe beschmierte Wände, seltsame Muster. Geringelte Zeichen, an die Mauer gesprayt von einem fremdartigen Kult?

    Auf der nächsten Etage siehst du Plastikplanen, die vor den Fenstern hängen. Sie tanzen im Wind wie die Angehörigen einer bizarren Religion. Am Boden liegen Fliegen und Asseln. Hunderte regungslose Insektenleiber. Ab und an zuckt ein Flügel.

    Und dann bist du auf dem obersten Stockwerk. Ein Fenster steht offen. Ein Schreibtisch direkt davor. Wind weht dir durchs Haar. Es ist warm und angenehm. Sommer. Vögel singen draußen vor dem Fenster. Du willst zu ihnen. Und du weißt, dass draußen auch die Sängerin der Melodie ist. Ein weiterer Grund für dich, dorthin zu wollen.

    Du steigst auf den Schreibtisch, du spürst die rissige Oberfläche unter deinen blanken Füßen, fühlst, wie sich dein weißes Kleid darin leicht verfängt. Dann fühlst du unter deinen Sohlen das kalte Metall des Fensterrahmens. Unangenehm bohrt sich die Schiene in dein weiches Muskelfleisch. Aber diese Empfindung vergeht, weil du nur noch Seligkeit verspürst, als die Melodie wieder ertönt.

    Draußen ...

    Und du lehnst dich nach vorn.

    Jemand lockt dich: Weiter, komm weiter ...

    Und du folgst seinem Drängen ...

    Noch weiter lehnst du dich aus dem Fenster.

    Und das ist der Moment, in dem der Ort seinen Bann löst und dich freilässt.

    Jener Moment, in dem du dich so weit aus dem Fenster gelehnt hast, dass du das Gleichgewicht verlierst und erkennst, dass du abstürzen wirst.

    Panik schießt durch deine Eingeweide, strömt durch deine Adern. Und daran ergötzt sich das Etwas dieses Ortes. Davon erhält es Atzung, davon lebt es. Danach ist es süchtig und will mehr davon haben. Und mehr ... und immer mehr!

    Mit deiner Angst, deiner kreatürlichen, ungebremsten Angst ernährst du es. Es liebt die Todesangst der Menschen, saugt sie gierig ein. Es lädt seine Batterien wieder auf, sodass es erneut das Phantom des weißen Mädchens erzeugen und andere Opfer damit wie mit einer Marionette hinauf in den obersten Stock locken kann.

    Wieder und immer wieder.

    So war es schon bei mir, als ich meinen kranken Bruder verließ, um auf der Abriss-Baustelle meinem eigenen Doppelgänger zu begegnen, und so wird es auch bei dir sein ...

    KEIN BLICK ZURÜCK

    Non, Rien de rien

    Non, je ne regrette rien.

    Ni le bien qu’on m’a fait

    Ni le mal tout ça m 'est bien égal!

    Non, Rien de rien

    Non, je ne regrette rien.

    Nein, gar nichts

    Nein, ich bedaure nichts.

    Nicht das Gute, das mir widerfahren ist

    Nicht das Schlechte, all das ist mir egal!

    Nein, gar nichts

    Nein, ich bedauere nichts.

    Edith Piaf, »Non, je ne regrette rien«, 1960

    Durch die mit Leichengeruch geschwängerte Nachtluft schwebte Edith Piafs trotziger Gesang gleich einem Mantra in Dauerschleife. Das Lied ertönte aus Bernds altem Kassettenrekorder, der neben der Kaffeemaschine auf dem Aktenordnerschrank stand. Es war das Lieblingslied seiner Mutter gewesen. Seit ihrem Tod hatte es auch für ihn eine besondere Bedeutung. Das war auf den Tag drei Jahre her.

    Bernd saß in dem kleinen Büro, kaute Kaugummi und blickte durch die Glasscheibe hinaus auf den düsteren Flur der Morgue, die in diesem Dämmerlicht einer halbdunklen Gebärmutter glich. Sein Spiegelbild starrte zurück: braunes Haar, das an den Schläfen schon zurückwich; dazu blaue Augen, tiefe Schatten darunter und eingefallene Wangen. Die vielen Nachtschichten forderten ihren Tribut.

    Draußen vor dem Büro tröpfelte das Licht auf das Linoleum, schimmernd wie aus einem Eimer dahingegossen. Ganz am Ende des Flurs, jenseits der vielen Türen, floss ein

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1