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Wibschenmühle: Mythisch-Phantastischer Roman
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Wibschenmühle: Mythisch-Phantastischer Roman
eBook257 Seiten3 Stunden

Wibschenmühle: Mythisch-Phantastischer Roman

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Über dieses E-Book

Sabine Bernward, Hebamme an einer Entbindungsklinik, entdeckt eine auffallende Ähnlichkeit zwischen ihrer Wöchnerin und deren neugeborener Tochter. Als sie Mutter, Großmutter und Urgroßmutter der Familie Mulier kennenlernt, glaubt sie genetisch identische Kopien derselben Person vor sich zu haben. Handelt es sich um eine Laune der Natur, eine Genmutation oder gar um die sagenhafte Jungfernzeugung? Sabine beginnt mit Nachforschungen, die sie zum Haus der Muliers im Odenwald führen.
Dieses steht nach mündlichen Überlieferungen an der Stelle einer Mühle, die von Frauen bewirtschaftet worden und im Dreißigjährigen Krieg abgebrannt sein soll. Um den Ort und die Umgebung ranken sich Sagen und Legenden über so genannte Wibschen, aber auch heidnische Göttinnen, christliche Heilige, Nonnen und Zigeunerinnen.
Eine teils reale, teils fiktive Welt, deren Grenzen mehr und mehr verschwimmen, eine Parallelgesellschaft, die nur aus Frauen zu bestehen scheint, öffnet sich den Leserinnen und Lesern. Spuren der geheimnisvollen Familie lassen sich bis nach England verfolgen. Sabine wird jedoch von ihren Mitmenschen nicht ernst genommen. Die Spannung bleibt bis zum überraschenden Ende erhalten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum12. Mai 2017
ISBN9783741277252
Wibschenmühle: Mythisch-Phantastischer Roman
Autor

Liliane Spandl

Liliane Spandl, 1950 in Unterfranken geboren, aufgewachsen in der Pfalz, lebt seit 1977 in Südhessen. Veröffentlichte Artikel, Glossen und Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften, eine Erzählung, einen Roman und einen Band mit Kurzprosa. Seit 2005 Inhaberin des Odenwald-Verlags, in dem sie Mundart- und Regionalliteratur südhessischer Autoren herausgibt.

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    Buchvorschau

    Wibschenmühle - Liliane Spandl

    Wibschenmühle

    Titelseite

    Jungfernzeugung oder Genmutation?

    Vorgeschichte

    Prolog

    Samstag, 1. Juni

    Sonntag, 2. Juni

    Dienstag, 4. Juni

    Mittwoch, 5. Juni

    Donnerstag, 6. Juni

    Freitag, 7. Juni

    Samstag, 15. Juni

    Sonntag, 16. Juni

    Dienstag, 18. Juni

    Mittwoch, 19. Juni

    Donnerstag, 20. Juni

    Freitag, 21. Juni

    Montag, 24. Juni

    Donnerstag, 27. Juni

    Samstag, 29. Juni

    Montag, 1. Juli

    Freitag, 12. Juli

    Montag, 15. Juli

    Mittwoch, 17. Juli

    Dienstag, 30. Juli

    Mittwoch, 31. Juli

    Mittwoch, 29. August

    Epilog

    Anmerkungen

    Die Autorin

    Impressum

    Liliane Spandl

    Wibschenmühle

    Mythisch-fantastischer Roman

    aus dem Odenwald

    Jungfernzeugung oder Genmutation?

    Sabine Bernward, Hebamme an einer Entbindungsklinik, entdeckt eine auffallende Ähnlichkeit zwischen ihrer Wöchnerin und deren neugeborener Tochter. Als sie Mutter, Großmutter und Urgroßmutter der Familie Mulier kennenlernt, glaubt sie, genetisch identische Kopien derselben Person vor sich zu haben. 

    Handelt es sich um eine Laune der Natur, eine Genmutation oder gar um die sagenhafte Jungfernzeugung? Sabine beginnt mit Nachforschungen, die sie zum Haus der Muliers im Odenwald führen.

    Dieses steht nach mündlichen Überlieferungen an der Stelle einer Mühle, die von Frauen bewirtschaftet worden und im Dreißigjährigen Krieg abgebrannt sein soll. Um den Ort und die Umgebung ranken sich Sagen und Legenden über so genannte Wibschen, aber auch heidnische Göttinnen, christliche Heilige, Nonnen und Zigeunerinnen.

    Eine teils reale, teils fiktive Welt, deren Grenzen mehr und mehr verschwimmen, eine Parallelgesellschaft, die nur aus Frauen zu bestehen scheint, öffnet sich den Leserinnen und Lesern. Spuren der geheimnisvollen Familie lassen sich bis nach England verfolgen. Sabine wird jedoch von ihren Mitmenschen nicht ernst genommen. Die Spannung bleibt bis zum überraschenden Ende erhalten.

    Vorgeschichte

    Es ist schon einige Jahre her, aber ich erinnere mich so lebhaft daran, als sei es gestern gewesen.

    Ich war gerade damit beschäftigt, Unterlagen für meine Steuererklärung zu sortieren, als es an meiner Haustür klingelte. Über die Sprechanlage fragte ich nach, wer da sei.

    »Mein Name ist Linda Gebhardt, aber das wird Ihnen nichts sagen. Ich möchte Ihnen ein Manuskript übergeben!«

    Du liebe Zeit, dachte ich im ersten Moment, nicht schon wieder!

    Ich bin Inhaberin eines Kleinverlags, und mehr als einen Titel pro Jahr kann ich nicht herausgeben. Dennoch erreichen mich immer wieder die skurrilsten Anfragen nach Veröffentlichung, gelegentlich auch umfangreiche Manuskripte, die ich bis auf wenige Ausnahmen lese und kommentiere, auch wenn ich nach den ersten Seiten schon weiß, dass ich sie nicht veröffentlichen werde.

    Trotz dieser Vorbehalte ließ ich die Besucherin ein. Sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand, es mochte etwa sechs Jahre alt sein. Die Frau selbst schätzte ich auf fünfzig. Sie war mittelgroß, schlank, hatte braune Augen und dunkle Haare, die vereinzelt Silberfäden aufwiesen. Ihre Hautfarbe deutete auf südländische Vorfahren hin.

    Ich führte die beiden in mein Büro und bot ihnen gegenüber meinem Schreibtisch Platz an, während ich mich dahinter setzte.

    »Ich habe von Ihren schriftstellerischen und verlegerischen Aktivitäten gehört und dachte, das Manuskript wäre bei Ihnen in besten Händen«, eröffnete sie das Gespräch, während sie aus einer rucksackähnlichen Tasche einen Stapel DIN A4-Blätter zog und über den Schreibtisch in meine Richtung schob.

    Ich setzte zu einem Erklärungsversuch über den Buchmarkt im Allgemeinen sowie die Situation kleiner Verlage und unbekannter Autoren im Besonderen an, doch sie unterbrach mich und sagte: »Ich erwarte kein Honorar von Ihnen, kann allerdings auch keinen Zuschuss zu den Druckkosten leisten. Es ist nicht mein Manuskript und es gibt auch niemanden mehr, der Rechte daran besitzt. Diese Chance sollten Sie sich nicht entgehen lassen!«

    Ich bat sie, mir das etwas genauer zu erklären. Linda Gebhardt lehnte sich zurück und schloss die Augen. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, dass sie eingeschlafen oder in eine Art Trance gefallen war. Schließlich seufzte sie leise und sah mich lange an, bevor sie ihre Erzählung begann.

    Bei dem Manuskript handle sich um die Aufzeichnungen einer Freundin, die vor fünf Jahren von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden sei, »auf der Suche nach einem Familiengeheimnis, das nicht einmal ihr eigenes war. Sie war einer rätselhaften Familiengeschichte im Odenwald auf der Spur, die sich angeblich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, deren Anfang jedoch vermutlich viel weiter zurückreicht. Nach den hier vorliegenden Unterlagen und Mutmaßungen meiner Freundin hat sich diese Familie aufgrund genetischer Veränderungen ohne männliche Beteiligung ausschließlich über die weibliche Linie fortgepflanzt. Soweit die Ausgangssituation. Sie ließ sich durch nichts davon abhalten, Zusammenhänge aufzuspüren, die es vielleicht nur in ihrer Fantasie gab. Für bestimmte Dinge, von denen sie in ihren Aufzeichnungen spricht, habe ich keinerlei Belege gefunden, zum Beispiel ein altes Familienbuch, aus dem sie zitiert hat. Die Aufzeichnungen hat sie übrigens nicht selbst geschrieben, sondern einer mit uns befreundeten Journalistin diktiert, die alles auf dem Computer abgetippt und chronologisch geordnet hat. Übrigens hat Sabine – so heißt meine Freundin F02D auch Tagebuchaufzeichnungen von mir benutzt, ohne dass ich davon wusste. Eine Diskette oder sonstige digitale Datenträger habe ich nicht gefunden. – Ich weiß, das würde Ihre Arbeit sehr erleichtern ...«

    Das würde es in der Tat! Ich schätzte den Stapel auf etwa 250 Seiten, die ich, falls ich mich zu einer Veröffentlichung entschließen sollte, einzeln scannen, formatieren und redigieren musste, da ich Verlegerin, Lektorin, Vertriebsleiterin und Schreibkraft in Personalunion bin.

    »Und diese Journalistin, die das alles getippt hat ...«, warf ich ein.

    Meine Besucherin schüttelte den Kopf. »Wir haben uns aus den Augen verloren, nachdem Sabine verschwunden war ... Ich habe das Manuskript in Sabines Wohnung gefunden, also nehme ich an, dass Patrizia, unsere gemeinsame Freundin, es ihr überlassen hat. Sabine hatte keinen Computer, nicht mal eine Schreibmaschine ...«

    «Ich werde es auf jeden Fall lesen«, versprach ich. »Aber erzählen Sie mir doch etwas mehr über Ihre Freundin. Was, glauben Sie, kann ihr zugestoßen sein?«

    »Sie war einer merkwürdigen Sache auf der Spur und hat dafür akribisch, fast fanantisch ›recherchiert‹, wie sie das nannte.«

    Linda Gebhardt lachte, aber es klang nervös und nicht sehr fröhlich. »Sie ist zu einem Ort gegangen, an dem sie sich schon vorher einmal verlaufen hatte und anschließend drei Tage verschwunden war. Von diesem letzten Ausflug kam sie allerdings nie zurück ...«

    »Ist sie denn von sonst niemandem vermisst worden?«, fragte ich interessiert.

    Linda nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Sie lebte allein und wurde zuerst an ihrem Arbeitsplatz vermisst. Sie war Hebamme in einer Geburtsklinik. Von dort wurde ich verständigt. Wir waren Kolleginnen, allerdings arbeite ich in einem anderen Haus. Natürlich haben wir die Polizei eingeschaltet, aber sie wurde nicht gefunden. Das ist jetzt fast genau fünf Jahre her. -  Ja, Anna-Lena war gerade ein Jahr alt ...«

    Das Mädchen hatte sich so ruhig verhalten, dass ich seine Anwesenheit fast vergessen hatte. Jetzt sah ich sie zum ersten Mal aufmerksam an und stellte eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihr und Linda fest. Es gab sogar ein Muttermal an der gleichen Stelle im Gesicht, rechts neben dem Nasenflügel.

    »Ihre Tochter?«, fragte ich neugierig, obwohl das Mädchen vom Alter her eher ihre Enkelin hätte sein können.

    Linda lächelte und schüttelte den Kopf. »Eine Nichte«, sagte sie, »oder vielmehr Großnichte. Oder sagt man Großcousine? – Nein, eigentlich sind wir nur weitläufig verwandt, vielleicht fünften, sechsten Grades oder so ...«

    Das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Aber bevor ich weitere Fragen stellen konnte, erhob sich Linda, und auch das Mädchen mit dem Namen Anna-Lena sprang vom Stuhl auf.

    »Sie werden es verstehen, wenn Sie die Geschichte gelesen haben«, meinte sie und verabschiedete sich mit einem knappen Händedruck.

    Erst nachdem sie gegangen waren, fiel mir ein, dass sie keine Adresse hinterlassen hatte. Aber vielleicht würde ich einen Anhaltspunkt in dem Manuskript finden, das den Titel »Wibschenmühle« trug.

    Wegen anderer laufender Arbeiten legte ich die Blätter zunächst einmal in das Regal hinter meinem Schreibtisch und vergaß es, bis es mir Wochen oder sogar Monate später beim Aufräumen buchstäblich vor die Füße fiel.

    Blitzartig tauchte das Gesicht der seltsamen Besucherin mit ihrer merkwürdigen Geschichte und ihrer kleinen »entfernten Verwandten« wieder vor meinem geistigen Auge auf.

    Nachdem ich das Manuskript zügig durchgelesen hatte, versuchte ich vergeblich, Linda Gebhardt in den Telefonbüchern der Umgebung ausfindig zu machen. Natürlich gibt es Trägerinnen dieses Namens, die aber nach zahlreichen Telefonaten nicht in Frage kamen. Schließlich entschloss ich mich, den Bericht der Hebamme und Heimatforscherin Sabine Bernward der Öffentlichkeit zugänglich zu machen - mit allen Ungereimtheiten und ungelösten Fragen, die zurückbleiben.

    Die Herausgeberin

    Prolog

    Regelmäßig im Frühjahr packt mich die Aufräumwut. Nicht, dass ich besonders pedantisch in meiner Haushaltsführung wäre: Spinnen haben bei mir Asylrecht, und ihre Netze und Fäden entferne ich erst, wenn ich sicher bin, dass sie nicht mehr genutzt werden. Wollmäuse unter meinem Bett und unter dem Schrank entferne ich ebenfalls nicht sehr regelmäßig. Andererseits glaube ich auch nicht, dass ich besonders schlampig bin. Aber in meinem Schlafzimmer esse und trinke ich nicht, schon gar nicht vom Fußboden. Es gibt niemanden, der sich auf den Boden legt und kontrolliert, ob sich Staubflocken angesammelt haben. Es gibt hier ein breites Bett, in dem notfalls auch zwei Menschen schlafen können, was allerdings recht selten vorkommt. Für meine Garderobe reicht mir ein zweitüriger Schrank, der hoch genug ist, um darin jeweils das Sommer- oder Winterbett aufzubewahren, dazu Bettzeug für Gäste und einen Koffer, den ich für meine eher seltenen Reisen brauche. Ein Schreibtisch mit Drehstuhl, eine Kommode und ein Nachttisch ergänzen das Mobiliar, das auf einen Raum von etwa fünfzehn Quadratmetern verteilt ist. Und auf diesen fünfzehn Quadratmetern brauche ich von Zeit zu Zeit Abwechslung, sodass ich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Möbel verschiebe. Meistens fällt diese Aktion ins Frühjahr, wenn ohnehin der so genannte Frühjahrputz ansteht, bei mir gewöhnlich kurz vor Ostern.

    Bei einer dieser Gelegenheiten räumte ich auch meinen Kleiderschrank aus und stieß auf einen Karton, der dort schon einige Jahre stand. Er enthielt Erinnerungsstücke, die ich nach dem Tod meiner Mutter aus dem Pflegeheim mitgenommen hatte, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Meine Besuche im Heim waren im Laufe der Zeit immer seltener geworden, da sie mich wegen ihrer Demenzerkrankung zuletzt überhaupt nicht mehr erkannte. Es war schmerzlich, einem vertrauten Menschen bei seinem Verfall zusehen zu müssen. Dabei war meine Mutter in körperlich guter Verfassung, benahm sich aber wie ein Kleinkind. Ihre Erinnerung, wenn es überhaupt noch eine gab, beschränkte sich auf Kindergartenerlebnisse. Manchmal hielt sie mich für eine Freundin aus Kindertagen, der sie unbedingt ihre Bilderbücher zeigen musste. Die »Bilderbücher« waren unsere Familienalben. In meinen Kinderportraits sah sie sich selbst, während mein Vater und sie als Erwachsene «Mama« und »Papa« waren. Den anderen Verwandten gab sie Namen von Fantasiegestalten und Märchenfiguren. Sie zeigte weder Freude mich zu sehen noch Abschiedsschmerz, wenn ich wieder ging. Das hatte es mir sehr erleichtert, meine Besuche mehr und mehr zu reduzieren.

    Als ich nach ihrem Tod ihr Zimmer ausräumte, blieb nicht viel, was ich mitnehmen wollte. Ihre Kleidung spendete ich einer karitativen Einrichtung, die Möbel verkaufte ich über die Anzeigenrubrik der regionalen Tageszeitung. Eine kleine Schatulle mit Schmuck, von dem ich nicht wusste, ob er echt und wertvoll war, nahm ich an mich sowie einen Schuhkarton mit Bildern, Kalendern, Briefen und Zeitungsausschnitten, die sie aus irgendwelchen, für mich nicht erkennbaren Gründen gesammelt hatte. Ganz unten im Karton lag ein in Seidenpapier gewickeltes Päckchen, in dem ich ein kleines, in Leder gebundenes Buch fand. Es war ziemlich abgegriffen und in einer alten Handschrift geschrieben, die ich nur mit viel Mühe und großem Zeitaufwand lesen konnte. Meines Wissens hatte meine Mutter nie in altdeutscher Schrift geschrieben.

    Da ich damals gerade meine Hebammenausbildung absolvierte und keine Zeit für die Entzifferung alter Schriften hatte, stellte ich den Karton in den Schrank und nahm mir vor, ihn irgendwann einmal, wenn ich viel Zeit hätte, durchzusehen. Dann vergaß ich ihn völlig, bis er mir bei dieser Aufräumaktion wieder in die Hände fiel.

    Mein erster Impuls war, ihn zunächst unters Bett und dann zurück in das unterste Fach des Schranks zu schieben, sobald dieser an seinem neuen Platz aufgebaut wäre. Aber dann ließ ich den Lappen fallen, mit dem ich die Schrankböden ausgewischt hatte, setzte mich aufs Bett und öffnete den Karton, nachdem ich den Staub vom Deckel gewischt hatte.

    Ganz oben lag ein rotstichiges Foto meiner Mutter, auf dem sie sehr jung aussah. Vermutlich war es noch vor der Hochzeit mit meinem Vater entstanden. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie als »Dienstmädchen« bei einer Familie im Odenwald angestellt gewesen war. Möglicherweise stammte das Foto aus dieser Zeit. An Einzelheiten konnte ich mich nicht mehr so genau erinnern, aber ich hatte irgendeine Bemerkung von ihr im Kopf, dass es eine seltsame Familie gewesen sei. Es hätten vier oder fünf Generationen von Frauen unter einem Dach gelebt, nie hätte ein Mann das Haus betreten.

    Ich legte das Foto zur Seite und griff nach dem nächsten Stück Papier. Es handelte sich um eine aus einer Zeitung ausgeschnittene Todesanzeige, die nach der Aufmachung und dem Grad der Vergilbung schon mindestens zwanzig Jahre alt sein musste, was sich dann auch durch das Datum der angekündigten Trauerfeier bestätigte:

    »Unsere liebe Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, Schwester, Tante, Großtante, Cousine und Verwandte Katharina Mulier ist in Frieden zu ihren Müttern heimgekehrt. Die Trauerfeier findet am ... auf dem Friedhof in Langendorf statt.«

    Ich glaubte mich daran zu erinnern, dass dies der Name der Familie war, bei der meine Mutter als junges Mädchen gearbeitet hatte. Vermutlich hatte sie deshalb diese Todesanzeige aufbewahrt, die mir nun ziemlich merkwürdig vorkam: Es waren nur weibliche Verwandte aufgeführt, und die Tote war »zu ihren Müttern« heimgekehrt.

    Bilder der Familie fanden sich beim raschen Durchblättern des Kartons nicht, aber schließlich war es damals sicher nicht üblich, dass Dienstmädchen Fotografien ihrer Herrschaft als Andenken erhielten.

    In den Kalendern fanden sich nur gelegentlich Eintragungen über Geldbeträge, die eingenommen oder ausgegeben worden waren, die letzten im Pflegeheim, als meine Mutter noch einigermaßen zurechnungsfähig war. Ab und zu eine Notiz über Veranstaltungen, auch meine Besuche waren festgehalten, solange sie selbst einen Kalender führen konnte.

    In einigen Schulheften hatte sie Tagebuch geführt, aber auch das waren alltägliche Begebenheiten, die vor ihrer Heirat und meiner Geburt ein junges Mädchen bewegt haben mochten, soweit ich das bei der kurzen Durchsicht beurteilen konnte.

    Ganz unten auf dem Boden lag das kleine Lederbuch. Ich öffnete es und überflog einige Eintragungen, die im Jahr 1786 begannen und 1807 endeten. Der antiquarische Wert dieser Handschrift war mir sofort bewusst, allerdings hatte ich keine Ahnung, was dieses Buch mit meiner Mutter zu tun haben konnte und wie es in ihren Besitz gelangt war.

    Vor einigen Jahren hatte ich angefangen, in Bibliotheken, Archiven und Antiquariaten zu stöbern, da mich Geschichten und Erzählungen, Märchen, Mythen und Sagen aus dem Odenwald interessierten. Da ich dabei oft auf alte Akten, Urkunden und Bücher stieß, hatte ich inzwischen mehrere Kurse zur Erlernung alter Schriften besucht und konnte mich an dieses Buch heranwagen. Die Vermutung lag nahe, dass es mit der Familie Mulier zu tun hatte, bei der meine Mutter eine Zeit lang gelebt und gearbeitet hatte, wenn auch sehr viel später als zu der Zeit, in der die Aufzeichnungen geschrieben worden waren.

    Allerdings musste ich zunächst meine Putz- und Umräumaktion beenden. Ich schloss den Karton, ließ aber das Buch zur späteren Lektüre auf meinem Schreibtisch liegen.

    Samstag, 1. Juni

    Um zwanzig Uhr an jenem frühsommerlich warmen Vollmondabend hatte ich die Schicht von einer Kollegin übernommen, die mir von einer Neuaufnahme berichtete: eine junge Frau, noch ohne Wehen, die behauptete, dass sie um Mitternacht entbinden würde. Der Geburtstermin stimmte, aber noch deutete nichts darauf hin, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Da wir genügend Betten hatten, war sie aufgenommen worden, und wir harrten der Dinge, die da kommen sollten. Überrascht entnahm ich ihren Papieren, dass sie Mulier hieß, also den Familiennamen der ehemaligen Dienstherrschaft meiner Mutter trug.

    Die junge Frau hatte sich nicht hinlegen wollen, sie saß in ihrem Zimmer, las und schien ebenfalls zu warten. Als ich sie, einerseits aus Neugier, andererseits um mich vorzustellen, dort aufsuchte, wartete eine weitere Überraschung auf mich: Sie sah meiner Freundin und Kollegin Linda Gebhard so ähnlich, dass ich sie beinahe gefragt hätte, ob sie deren Tochter sei. Allerdings hatte mir Sabine bis zu diesem Zeitpunkt nie etwas von einer Tochter erzählt. Es musste sich also um eine Zufallsähnlichkeit handeln. Wir wechselten einige Worte, wie sie in solchen Situationen zwischen Hebamme und werdender Mutter üblich sind, dann ließ ich sie wieder allein.

    Um zweiundzwanzig Uhr klingelte sie, meldete einen Blasensprung und beginnende Wehen. Alles Weitere war Routine.

    Es gab keine Komplikationen. Kurz nach Mitternacht hatten Mutter und Kind alles gut überstanden und lagen glücklich vereint im Geburtsbett. Und trotzdem hatte ich ein seltsames Gefühl, wenn ich die beiden betrachtete: Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Die Mutter war eine hübsche junge Frau Anfang zwanzig, die Schwangerschaft war normal und ohne Komplikationen verlaufen, das Kind – ein Mädchen – allem Anschein nach gesund. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war unverkennbar. Das ist an sich auch keine Seltenheit, aber in diesem Fall war es fast, als wären alle Gene der Mutter in diesem Kind kopiert worden. Von den

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