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Der Geist des Hexenjägers
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eBook418 Seiten6 Stunden

Der Geist des Hexenjägers

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Über dieses E-Book

Der Geist des Hexenjägers

Albträume, Visionen, ein in Leder gebundenes Tagebuch aus dem Jahre 1548, das auf mysteriöse Weise den Weg auf Patricias Schreibtisch findet, und Adrian, ein geheimnisvoller Geist, sorgen für Unruhe im Leben der jungen Bibliothekarin.

Wird sie sich an ihre große Liebe und an ihr Leben erinnern, das in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im ehemaligen Ostpreußen stattfand? Wird sie sich wieder neu in Adrian verlieben und ihn dadurch retten?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Dez. 2019
ISBN9783750456914
Der Geist des Hexenjägers
Autor

Gabriele Walter

Im Jahre 1954 wurde sie in Schwäbisch Hall geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Schwäbisch Gmünd. 1973 heiratete sie. 1980 zog die Familie nach Nördlingen ins Ries. Erst Jahre später gelangte Gabriele Walter nach einigen Umwegen in eine Situation, die sie erkennen ließ, dass allein das Schreiben genau das war, was sie schon immer tun wollte. Und so wurde es zu einem wesentlichen Teil ihres Lebens. Während ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau, Ausbilderin und Seminarleiterin durfte sie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten kennenlernen und zwischenmenschliche Erfahrungen sammeln, die sich in ihren Erzählungen widerspiegeln. Ihre Romane handeln von der Liebe, die stets geheimnisvoll und zuweilen sogar gefährlich sein kann, von Schicksalen, wie sie einem täglich begegnen, und mystischen Ereignissen, die der Verstand mitunter nur schwer erklären kann. Es geht jedoch immer um Frauenschicksale und um starke, schwache, träumende, liebende und mit dem Schicksal hadernde Frauen.

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    Buchvorschau

    Der Geist des Hexenjägers - Gabriele Walter

    7

    Kapitel 1

    Es begann einige Nächte vor Patricias achtzehntem Geburtstag. Traumfetzen drangen wie kleine elektrische Stöße in ihr Unterbewusstsein. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Am Morgen wachte sie wie gerädert auf und obwohl sich die Träume wie Nebelschwaden auflösten und die Erinnerung daran mit sich nahmen, blieb dennoch ein ungutes Gefühl zurück, das sie aus undefinierbaren Gründen ängstigte.

    Dann – am Spätnachmittag ihres Geburtstages – wurde sie von einer erschreckenden Vision überfallen, die ihr den Blick in eine Zeit öffnete, die sie nur aus Romanen kannte. In der darauffolgenden Nacht fügten sich die Traumfetzen zum ersten Mal zu einem beängstigenden Albtraum zusammen.

    Von da an wurde sie einmal im Jahr von dieser Vision heimgesucht und zwar immer an ihrem Geburtstag. Der Albtraum jedoch kam in unregelmäßigen Abständen. Und immer wieder fragte sie sich, was es damit auf sich haben mochte. Ein ständig wiederkehrender Traum? Wie war das möglich? Die Szenen eines Films, den sie als Kind gesehen hatte, von ihrer kindlichen Seele aber nicht verarbeitet werden konnten? Die Erinnerung an ein Ereignis, das sie selbst erlebt hatte, konnte es nicht sein …

    Stockfinstere Nacht und undurchdringlicher Nebel erschwerten es Patricia, den schmalen Trampelpfad zu finden, über den sie zum vereinbarten Treffpunkt gelangen würde. Da half auch das schwache Licht der Sturmlaterne nicht allzu viel, die sie am ausgestreckten Arm vor sich hertrug.

    Sie konnte den Frühling riechen, feuchte Erde und vom Tau bedecktes Gras.

    Ängstlich suchend wandte sie den Kopf zu den am Wegrand wachsenden Büschen, von wo sie leises Rascheln vernommen hatte. Ihr Puls begann zu rasen, ihr Herz klopfte so laut, dass sie annahm, jeder müsse es hören, der sich in ihrer Nähe aufhielt. Als sie dann den nächtlichen Jagdruf eines Käuzchens vernahm, ließ sie vor Schreck fast die Laterne fallen. Ab und zu warf sie wachsame Blicke über ihre Schulter, während sie rasch einen Schritt vor den anderen setzte. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Allein ihr Herz sehnte sich so sehr nach dem Mann, für den sie selbst den Weg durch die Hölle nicht gescheut hätte. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als dem übermächtigen Verlangen nachzugeben, sich wieder in seine starke Arme zu schmiegen.

    Still lag das Ufer des kleinen Sees vor ihr, als sie endlich die Bank erreichte, die er als heimlichen Treffpunkt bestimmt hatte.

    Erwartungsgemäß erhob sich die große Gestalt des Mannes, dem ihre Sehnsucht galt, und breitete seine Arme aus. „Endlich", begrüßte er sie mit heiserer Stimme.

    Also hat auch er unser Treffen sehnsüchtig herbeigesehnt, dachte Patricia und schmiegte sich an seine Brust, während er sie in seinen weiten Umhang hüllte.

    „Ergreift sie!", zerriss die tiefe, etwas krächzende Stimme eines Mannes die Stille des Augenblickes.

    Tosendes Geschrei, untermalt von klirrenden Geräuschen aufeinanderschlagenden Metalls, brach los, als eine Horde Männer diesem Befehl unverzüglich folgte.

    Erst jetzt bemerkten die beiden entsetzt blickenden Menschen mehrere Söldner, die mit gezogenen Waffen auf sie zustürmten. Männer, die schon geraume Zeit vor ihnen angekommen sein mussten, um hinter Hecken verborgen auf sie zu lauern.

    Patricia klammerte sich fest an den geliebten Mann, doch es nutzte nichts. Ein letzter verzweifelter Blick, bevor einer der Söldner sie grob an ihren Oberarmen packte und aus dessen Obhut riss. Mit brutaler Gewalt schleuderte er sie auf den feuchten Boden. Im allgemeinen Handgemenge wurde sie gleich darauf erneut an Haaren und Gewand ergriffen. Der Mann, dessen Gesicht sich bis auf die Augen hinter einem Tuch verbarg, zerrte sie unbarmherzig an den Rand des Weges, bevor er sich erneut ins Getümmel stürzte. Sie wollte schreien, doch panische Angst, nicht um ihre eigene Person, sondern um die des geliebten Mannes, schnürte ihr die Kehle zu.

    Oh Gott! Was werden sie ihm antun?

    Ansehen zu müssen, wie sie ihn zusammenschlugen, barbarisch auf ihn eintraten, ihn bespuckten und endlich, nachdem sie ihn genug gequält und gedemütigt hatten, unter Johlen, spöttischen Bemerkungen und Gelächter abführten, zerriss ihr fast das Herz.

    Da trat erneut einer der Männer auf sie zu, griff nach ihrem Handgelenk und zerrte an ihr, bis sie ihm widerstrebend folgte. Auch sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, da es von einer Kapuze verdeckt wurde.

    An dieser Stelle erwachte sie stets schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd. Der Albtraum jagte ihr von Mal zu Mal mehr Angst ein. Zum einen, weil sie einfach nicht verstehen konnte, was es damit auf sich hatte, zum anderen, weil ihr danach stets zumute war, als würde sie mit jedem weiteren Schritt auf einen Abgrund zusteuern. Gleichzeitig aber hinterließ er den fast unerträglichen Schmerz einer unerfüllten Liebe und ein sehnsuchtsvolles Ziehen in der Brust. Und noch etwas blieb zurück: das unerklärliche Wissen, es nicht ertragen zu können, jemals ohne diese Liebe leben zu müssen. Doch wer war die Frau, die aussah wie sie selbst? Wer war der Mann, mit dem sich diese Frau traf? So sehr sie sich bemühte, es gelang ihr nie, ihn zu erkennen oder auch nur seinen Namen zu erfahren. Und wer war jener Mann, der sie am Ende ergriff und ihr allein durch seinen durchdringenden Blick einen Schauer über den Rücken jagte?

    Als Patricias Wecker an diesem Morgen surrte, lag sie bereits von heftigen Kopfschmerzen geplagt, wach im Bett und hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, da sie den Grund dafür ganz genau kannte. Am Nachmittag des vergangenen Tages war sie vom Klappentext und den ersten Seiten eines historischen Romans derart in Bann gezogen worden, dass sie nicht widerstehen konnte, ihn mit nach Hause zu nehmen. Historisch fundierte Romane, deren Handlung im sechzehnten Jahrhundert spielte, las sie am liebsten. Auch letzte Nacht hatte sie das Buch erst kurz nach zwei auf den Nachttisch gelegt. Wie erwartet war sie danach in unruhigen Schlaf gefallen und hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt.

    Und was hatte sie nun davon? Einen Brummschädel, der sich „von" schrieb. Müsste sie nicht zur Arbeit, sie würde im Bett bleiben und noch eine Runde schlafen. Zumal die Regentropfen, die rhythmisch an ihr Schlafzimmerfenster trommelten, ebenfalls nicht dazu beitrugen, ihre Stimmung zu heben.

    Auch das noch, dachte Patricia und fuhr sich, undamenhaft gähnend, mit beiden Händen durchs Haar. Gleich darauf schlug sie die Steppdecke zurück, schwang ihre Beine aus dem Bett und begab sich ins Bad. Anschließend trank sie einen extra starken Kaffee und zwang sich, eine Scheibe Toast mit Butter zu essen, um nicht mit leerem Magen aus dem Haus zu gehen.

    Unlustig zog sie ihren anthrazitfarbenen Regenmantel vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Bevor sie auf die Straße hinaustrat, blickte sie zum grau verhangenen Himmel hoch und zog angewidert die Nase kraus. Es waren nur wenige Schritte zu ihrem Wagen. Doch wegen der Kopfschmerzen entschloss sie sich, zu Fuß zur Bibliothek gehen. Frische Luft und ein wenig Bewegung würden ihr guttun, selbst an diesem regnerischen, ekelhaft kühlen Frühlingstag.

    Sie schlug den Mantelkragen hoch, spannte ihren Schirm auf und schritt flott vom Haus in der Schustergasse zum Marienplatz.

    Auch heute zogen die eng gedrängten hohen Bürgerhäuser, die historischen Blendfassaden mit den Treppengiebeln und Grabendächern ihre Blicke auf sich.

    Mittlerweile lebte sie seit mehr als einem halben Jahr in Wasserburg. Als sie auf die vom Inn umschlossene Halbinsel zog, hoffte sie, den Träumen und vor allem den alljährlich wiederkehrenden Visionen, von denen sie selbst im Wachzustand überfallen werden konnte, durch die veränderte Umgebung Einhalt gebieten zu können. Doch schon bei ihrer ersten Erkundungstour durch die historische, südländisch wirkende Altstadt musste sie enttäuscht feststellen, dass dem nicht so war. Und das obwohl die bunten, gotischen Häuser und die Straßen, durch die das Leben zu pulsieren schien, so anders aussahen als der Ort, den sie aus ihrem Traum kannte. Selbst dieser Marktplatz mit seinen Arkaden, die bei schönem Wetter zum Flanieren einluden, und den Straßencafés, die dann überzuquellen schienen, erinnerte sie in einer Art und Weise an eine längst vergangene Epoche, die sie frösteln ließ. Vor allem die Visionen im Wachzustand, während der sich ihr Geist regelrecht in einer anderen Epoche verlor, ängstigte sie. In einigen Tagen, an ihrem Geburtstag, würde es wieder geschehen. Wie so oft fragte sie sich, was der Auslöser dafür war. Was hatte ihre Geburt mit diesen erschreckenden Visionen zu tun? Und würden auch sie irgendwann – wie die Albträume – vermehrt und unkontroliert auftreten?

    Patricia schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, ich sollte wirklich keine historischen Romane mehr lesen. Es heizt meine Fantasie, die mir ohnehin oft genug einen Streich spielt, nur unnötig an. Plötzlich, möglicherweise weil sie daran gedacht hatte, begann Patricias Puls zu rasen. Sie atmete schnell und flach. Oh nein! Noch nicht heute. Nicht jetzt. Ihr Blick verschleierte sich und der Marktplatz veränderte sein gewohntes Bild …

    Fuhrwerke mit großen eisenbeschlagenen Holzrädern, gezogen von schnaubenden, nach Schweiß riechenden starken Pferden oder Ochsen, rumpelten geräuschvoll über die mit Stroh und Unrat verunreinigten Kopfsteinpflaster. Ein Fuhrmann knallte mit seiner Peitsche und fluchte lauthals, weil ein anderer ihm zu nah kam und ihn dadurch fast von der Straße drängte. Aber auch elegante Kutschen, vor die prächtige, glänzend gestriegelte Rappen gespannt waren, oder ebenso gepflegte edle Schimmel, deren Mähnen seitlich lang herunterhingen und bei jedem Schritt wippten, fuhren an ihr vorbei.

    Am Markttag herrschte stets reges Treiben, doch heute waren ungewöhnlich viele Menschen unterwegs und sie wusste genau woran das lag. Morgen würde ein ganz besonderes Spektakel stattfinden, das niemand versäumen wollte.

    Schreiend und keifend priesen Marktweiber ihre Waren an. Am lautesten schrien die Fischweiber, als wollten sie all die anderen übertrumpfen. Ihre leicht verderbliche, zum Himmel stinkende Ware musste baldmöglichst an die Frau gebracht werden. Der Gestank der Fischabfälle mischte sich mit dem der Gerbergasse und ließ Patricia würgen. Erst einige Stände weiter, am Stand des Fleischers, wo der Duft von Geräuchertem und Geselchtem ihrer Nase schmeichelte, legte sich die Übelkeit langsam. Sie ließ ihren Blick über das Angebot gleiten, das der für Fleischer untypisch hagere Mann auf einem grob gezimmerten Tisch feilbot. Geldgierig – wie man ihn kannte – verkaufte er wohl lieber seine ganze Ware, statt wenigstens einen Teil davon selbst zu essen.

    Da lagen erlegte Vasane, Rebhühner, Tauben und Hasen, während in Holzkäfigen noch lebende Hühner gackerten und Gänse fauchten.

    Sie erwarb zwei Rebhühner und ging weiter zum Gemüsestand. Kirschen, Heidelbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, rote und schwarze Johannisbeeren wurden feilgeboten. Der erdige Geruch an den Petersilienwurzeln, den Rote Beete und Möhren stieg ihr in die Nase und vermischte sich mit dem von Zwiebeln, Knoblauch, Sellerie und vielem mehr. Sie kaufte Johannisbeeren für einen Kuchen, einen knackigen Salat und ein paar Zwiebeln. Jetzt Anfang Juli gab es genügend Auswahl an frischem Obst und Gemüse. Am Nachbarstand gab es Zucker. Sie ließ ein Pfund für sich abwiegen.

    Die Bäuerin am Nebenstand bot mehrere Flaschen Meschkinnes an und der verlockende Duft frisch gebackenen Fladenbrotes mit Speck und der nach Fettgebackenem stieg ihr vom angrenzenden Stand in die Nase.

    Einige Dienstmädchen, gekleidet in einfache Leinengewänder, über denen sie Schürzen trugen, eilten suchend an ihr vorbei. Es gab welche, die ihr mit schlichter weißer Bundhaube bedecktes Haar offen auf die Schultern fallen ließen und solche, die es zu Zöpfen geflochten trugen. Auch sie trug ihr Haar unter einer Haube, allerdings einer aufwendig bestickten.

    Obwohl die großen Weidenkörbe, in denen die Mägde ihre gekauften Waren nach Hause schleppten, schwer zu sein schienen, blieb die eine oder andere mit vor Staunen offenem Mund stehen, um den Gauklern zuzusehen, die ihre akrobatischen Künste vorführten.

    So unbeschwert möchte ich noch einmal sein, dachte sie, während sie ihnen mit traurigem Blick folgte, der gleich darauf an einem barfüßigen Burschen in zerlumpten Kleidern hängen blieb. Er schleppte Wasser zum Stall des Wirtshauses, in dem betuchte Gäste ihre Pferde untergestellt hatten. Bei jedem Schritt schwappte ein wenig Wasser über. Armer kleiner Kerl. Ihren Blick weiter über den Marktplatz gleiten lassend, entdeckte sie den schmächtigen Schusterjungen, der ein Paar braune Stiefel über der Schulter trug, die er vermutlich auszuliefern hatte. Sie kannte ihn. Ein fröhlicher kleiner Kerl, der trotz seiner Armut und des verkürzten Beins, weshalb er ein wenig hinkte, allzeit eine lustige Melodie vor sich hinpfiff. Seit sie ihm vor einiger Zeit einen Groschen zugesteckt hatte, grinste er sie immerzu an und winkte schon von Weitem.

    Doch heute wurde ihre Aufmerksamkeit in eine Richtung gelenkt, aus der sie monotones Hämmern vernahm. Bei jedem Schlag fühlte sie einen Schmerz, als triebe ihr jemand einen Holzpflock ins Herz. Als könne sie damit ungeschehen machen, was dort entstand, schloss sie einen Moment die Augen. Doch das Hämmern hörte nicht auf. Niemand konnte das himmelschreiende Unrecht abwenden, das am nächsten Tag hier auf dem Marktplatz stattfinden sollte. Wie gerne hätte sie noch heute die Stadt verlassen, wäre gelaufen, so schnell und soweit ihre Füße sie tragen würden. Doch ihr schmerzendes Bein ließ gerade mal zu, dass sie den Markt besuchte.

    Und selbst wenn es nicht so wäre, ich könnte doch nicht weglaufen. Ich muss stark sein. Ich muss mein Schicksal ertragen, dachte sie und legte eine Hand schützend auf ihren Leib. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie in die Richtung, aus der sie die Geräusche vernahm, und blieb wie angewurzelt stehen, als sie das nicht sehr hohe Podest erblickte. Einige Zimmerleute legten gerade letzte Hand an, während bereits zwei Männer einen kräftigen Pfahl herbeischleiften. Gemeinsam richteten sie ihn ziemlich in der Mitte des Podestes auf. Sie wusste, als nächstes würden sie dürres Holz und dicke Scheite um ihn herum aufschichten. Es sollte schließlich ein schönes, mächtiges Feuer werden. Ein Mensch würde in den Flammen sein Leben lassen. Ein ganz besonderer Mensch. Einer, der ihr mehr bedeutete als ihr eigenes Leben …

    „Nein!", schrie Patricia und erschrak durch ihre eigene Stimme. Mein Gott! Es ist tatsächlich geschehen. Noch verwirrt bemerkte sie dennoch, dass sich ein Passant nach ihr umdrehte und ihr einen besorgten Blick zuwarf. Sie lächelte, obwohl ihr keineswegs danach zumute war. Na bitte, jetzt ist es so weit, du schnappst langsam über. Nun verfolgt dich diese Vision schon am helllichten Tag. Aber weshalb? Warum heute? Mein Geburtstag ist doch erst in ein paar Tagen. Wie befürchtet kommen sie ab sofort häufiger und unkontrolierbar? Oder doch nur eine Folge der Geschichten, die ich ständig lese? Ich muss damit aufhören. Verärgert über sich selbst ballte Patricia ihre Hände zu Fäusten. Fast hätte sie, um ihre Gedanken zu unterstreichen, wie ein trotziges Kind mit dem Fuß aufgestampft. Vor allem, da sie nur allzu gut wusste, dass sie sich ohnehin nicht daran halten würde, obwohl sich ihr Innerstes, mit dem eben Erlebten im Hintergrund, wie nie zuvor gegen diese Literatur sträubte.

    Warum ich? Wer bin ich? Was ist mit mir los? Fragen, die sie sich nur allzu oft stellte, für die es ihr jedoch bisher nicht gelungen war Antworten zu finden, und ob es ihr jemals gelingen würde, stand vermutlich in den Sternen. Doch tief in ihrem Innersten ahnte sie, dass ihre Suche erst dann enden würde.

    Und nun reiß dich zusammen. Es ist höchste Zeit ... Apropos Zeit … Nach einem Blick auf die Armbanduhr stellte sie fest, es waren nur wenige Sekunden vergangen. Kaum merklich vor sich hin nickend ging sie rasch weiter. Ich muss zusehen, dachte sie und schaute kurz zum grau verhangenen Himmel hoch, dass ich endlich ins Trockene komme.

    Allein beim bloßen Gedanken an feuchte Kleidung lief ihr ein Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre sie in ihre behaglich warme Wohnung zurückgelaufen, um sich auf dem bequemen Sofa in ihre kuschelig weiche Wolldecke einzuigeln und eine heiße Tasse Tee zu trinken. Allerdings wusste sie, staubtrockene Felder und Gartenbeete lechzten nach dieser tagelang anherrschenden Hitze förmlich nach Regen. Das Wetter spielte verrückt. Die letzten Tage im April hatte sich im schönsten Frühlingskleid gezeigt und der Wonnemonat Mai begann mit einem Regentag.

    Wäre bloß nicht alles so grau in grau. Selbst der Wochenmarkt wurde, nicht anders zu erwarten, bei solch nasskaltem Wetter nur schlecht besucht. Vermutlich ging es anderen Leuten ebenso wie ihr. Nur wer unbedingt vor die Tür musste, hastete missmutig dreinschauend durch die engen Gassen und über den weitläufigen Marktplatz, um baldmöglichst das angestrebte Ziel zu erreichen.

    Selbst die freundliche Gemüsefrau, bei der sie regelmäßig kaufte, saß zusammengesunken, den Reißverschluss ihres olivgrünen Parkas bis oben hinzugezogen, auf ihrem weißen Kunststoffklappstuhl. Während sie sich die Hände an einer heißen Tasse Tee wärmte, blickte sie mürrisch vor sich hin. Patricias Gruß entgegnete sie mit einem knappen „Morng."

    Erleichtert atmete Patricia auf, als sie den Magdalenenweg erreichte und bald darauf die Hintertür der Bibliothek aufschloss.

    Kaum fünf Minuten in ihrem Büro, schrillte die Klingel an der Hintertür.

    Oh Doris! Kannst wieder mal den Schlüssel in deiner überdimensional großen Tasche nicht finden?

    Doch bei einem raschen Seitenblick zur Uhr stellte sie fest, dass Doris frühestens in einer halben Stunde kommen müsste. Und tatsächlich, nicht die Kollegin, sondern der Postbote stand vor der Tür.

    Leo Faul, jederzeit gut gelaunt, knurrte ihr selbst an diesem tristen Tag ein freundliches „Morng, Frau Strasser" entgegen.

    „Sie sind heute aber früh dran?", wunderte sich Patricia.

    „Bei dem Weda hod koana Lust aufs Ratschen", erklärte er mit niederbayerischem Akzent, bei dem er das R gekonnt über seine Zunge rollen ließ.

    Patricia nickte verständnisvoll.

    Vor dem Postboten stand ein Paket. Zunächst reichte er ihr die Briefpost und das kleine schwarze Gerät, auf dem man den Empfang quittieren musste.

    „Des Packerl is ziemli schwar, antwortete er. „I drog’s eana lieaba glei ins Büro. I konn do net riskiern, doss Sia si an Bruch hebn, erklärte er, hob es hoch und trug es quer durch die Halle über die hellen Holzstufen nach oben in ihr Büro, wo er es stöhnend auf ihrem Schreibtisch absetzte.

    Obwohl Patricia mittlerweile von Woche zu Woche auf ein „Zauberbuch" hoffte, das sie dann doch nicht bekam, konnte sie es kaum erwarten das Paket zu öffnen.

    „Hoffentlich sind diesmal Bücher dabei, auf die wir so dringend warten, meinte sie, als auch sie das Büro erreichte. „Manchmal denke ich, die Leute schicken uns ihre Bücher nur, weil sie ihnen nicht wertvoll genug erscheinen sie zu behalten, aber dennoch zu schade, um sie wegzuwerfen.

    „Bestimmt is hait a ‘Zauberbuach‘ dabei", orakelte Leo Faul und lächelte Patricia aufmunternd an.

    „Aber garantieren können Sie mir das nicht?"

    Unwissenheit demonstrierend hob Leo Faul die Achseln, gleichzeitig zog er seine linke Augenbraue bedauernd nach oben, tippte mit zwei Fingern grüßend an seine Mütze und ging eilends zur Tür. „I wünsch’s Eana jedenfois und an scheana Dog a."

    „Den wünsche ich Ihnen ebenfalls, Herr Faul, trotz des ekelhaften Wetters und danke fürs nach oben tragen", rief sie ihm noch nach.

    Patricia hatte bereits mit siebzehn das Abitur mit Auszeichnung bestanden. Drei Jahre später hatte sie ihr Germanistikstudium beendet und nach einem weiteren Jahr war sie Bibliothekarin geworden. Nebenbei schrieb sie an ihrer Doktorarbeit. Mit gerade Mal dreiundzwanzig hatte sie auf Empfehlung Professor Doktor Andermanns, die Leitung der hiesigen Stadtbibliothek übernommen. Der Professor schätzte intelligente junge Leute die sich voller Begeisterung und Tatendrang in ihr Studium stürzten. Und Patricia, die seinen Ausführungen ohne Unterlass gespannt gefolgt war, ab und zu prägnante Fragen gestellt und diese zum Teil selbst beantwortet hatte, war ihm gleich bei der ersten Vorlesung aufgefallen. Er hatte sofort gewusst, diese junge Frau, die in unbeobachteten Momenten völlig in sich gekehrt vor sich hin grübelte, ein ganz besonderer Mensch war. Zu gerne hätte er gewusst, welch düsteren Gedanken sie dabei nachhing, doch darauf angesprochen, hatte sie ihn stets nur offen angelacht und ein belangloses Gespräch begonnen. Eine Patricia Strasser ließ sich nicht in die Karten schauen. Wie auch immer, er hatte die intelligente junge Frau von Anfang an gemocht und darum ihrem Bewerbungsschreiben seine persönliche Empfehlung beigelegt.

    Obwohl der Bürgermeister und die Stadträte die Empfehlung eines derart hochgeschätzten Professors nicht anzweifelten und Patricia nach einem persönlichen Gespräch anstellten, benahmen sie sich ihr gegenüber zunächst ziemlich reserviert. Und als sie dann, gleich während der ersten Wochen, Gelder von der Stadt beantragte, um den mit Gerümpel und zwei Glasvitrinen vollgestopften Speicherraum zu renovieren, lehnten sie ihren Vorschlag ab.

    Diese Geschichte hätte Patricia nun ad acta legen können, doch das widersprach ihrer Natur. Von jeher kämpfte sie, sobald sie annahm für eine ihr am Herzen liegende Sache kämpfen zu müssen. Und darum konnte auch diesmal niemand sie von ihrem spontan gefassten Plan abbringen. Nachdem sich dann auch noch eine nette ältere Dame nach einer Ausgabe der Gedichte des Ch. Hoffmann von Hoffmannswaldau erkundigt hatte, war sie zusätzlich dazu animiert worden.

    Bereits nach wenigen Treffen gelang es der kleinen zierlichen Person mit den feinen Gesichtszügen und der hoch erhobenen Nasenspitze, die die Neugier auf das pure Leben erahnen ließ, tatsächlich die Damen und Herren zu überzeugen. Letztendlich ließ es sich nicht mehr nachvollziehen, ob es an ihrer frischen, vor Ideen sprühenden Art oder an ihrer nervenden Beharrlichkeit gelegen hatte – sie erhielt die Genehmigung. Allerdings nur wenig Geld, da im Stadtsäckel gähnende Leere herrschte.

    Erste Hilfe erhielt sie von einem jungen Mann, den sie als begeisterten Science-Fiction und Thriller-Leser kennengelernt hatte. Er arbeitete als Kfz-Mechaniker in einer ortsansässigen Autowerkstatt. Als er zufällig ein Gespräch zwischen Patricia und Doris mitbekam, meinte er, er wäre ein ganz geschickter Heimwerker und es gäbe sicher Arbeiten, die er übernehmen könne.

    Überraschenderweise kam er mit zwei Freunden, einem Elektriker und einem Schreiner. Sie erklärten sich ebenfalls bereit ihr zu helfen. Der Schreiner besah sich die alten Balken und den Holzboden, der laut seiner Aussage lediglich abgeschliffen und neu versiegelt werden sollte.

    Doch bevor das geschehen konnte, musste erst mal das Gerümpel hinausgeschafft werden. Gemeinsam mit den jungen Männern, ihren Kolleginnen Doris und Sandra, die wiederum ihren Freund Marc dazu brachte ebenfalls anzupacken, setzten sie ihr Vorhaben in die Tat um. Marc stellte ihnen außerdem praktischerweise seinen Anhänger für den Sperrmüll zur Verfügung.

    Die zwei Vitrinen entpuppten sich als echte Antiquitäten. Lediglich das vernachlässigte Holz musste aufgearbeitet, ein beschädigtes Scharnier repariert, ein fehlendes und ein zerbrochenes Glas ersetzt werden. Sie passten ausgezeichnet in diesen Raum, den sie mit besonders hochwertiger Literatur und mit alten, selten gewordenen Büchern bestücken wollte. „Zauberbücher", wie Patricia sie liebevoll nannte.

    Die Bücher wurden auf diese Weise zwar nicht unbedingt gehütet wie die wertvollen Schriften in den sauerstoffarmen Glasbehältern des Vatikans, doch so wurden sie wenigstens nicht allzu sehr dem natürlichen Staub ausgesetzt. Sollte sich entgegen jeder Erwartung jemals ein solch überaus wertvolles Buch einfinden, würde man für die entsprechende Unterbringung sorgen.

    Jedenfalls übernahm letztendlich doch die Stadt großzügig alle Kosten, nachdem sich einige Stadträte und der Bürgermeister von der lohnenden Renovierung überzeugt hatten.

    Nun fehlte nur noch die passende Literatur.

    Patricia rief die Bevölkerung über das hiesige Tageblatt zu Buchspenden auf. Die Resonanz von Bürgern, die ihren Beitrag zum Zauberbuchprojekt leisten wollten, war riesig. Manchmal lieferte der Postbote ein Päckchen, aber meistens brachten die Leute die Bücher selbst vorbei. Einmal sogar vererbte ein netter alter Herr, der sich bei zahllosen Besuchen mit Patricia angefreundet hatte, seine gesamte Literatur der Bibliothek. Eine glückliche Fügung, die das Projekt einen großen Schritt weiterbrachte. Dennoch betrübte Patricia der Gedanke, den alten Herrn, der sie stark an ihren Großvater erinnert hatte, nie mehr wiedersehen zu dürfen.

    Leider bekamen sie allzu oft Bücher, die es schon in der Bibliothek gab, und nur selten ein besonderes Exemplar. Die Bücher stapelten sich in Patricias Büro. Wegwerfen kam nicht in Frage. Eines Tages, sie musste wieder einmal einen Bücherstapel umschichten, um an ihren Aktenschrank zu gelangen, überlegte sie ernsthaft, wie sie die Bücher loswerden könnte. Es dauerte nicht lange bis ihr der rettende Gedanke kam. Sie wandte sich erneut an die Zeitung und ließ bekanntgeben, dass am kommenden Wochenende ein Bücherflohmarkt stattfinden würde.

    Mittlerweile fand dieser alle zwei Monate vor der Bibliothek, bei schlechtem Wetter in der Eingangshalle statt. Das brachte immerhin genügend Geld, um das eine oder andere „Zauberbuch" auf Auktionen zu erwerben. Trotzdem verlor sie nie die Neugier. Voller Spannung griff sie nach einer Schere und ritzte den Klebestreifen auf, der den Karton zusammenhielt. Welche Schätze würde er wohl diesmal bergen? Zunächst entdeckte sie den Brief, der obenauf lag. Sie griff danach und las.

    Liebe Frau Strasser,

    ich finde Ihre Idee großartig. Grund genug, Ihr Projekt tatkräftig zu unterstützen, indem ich Ihnen 36 erlesene Werke sende. Mit den allerbesten Wünschen für weiteres Gelingen.

    Baron Karl Friedrich von Reineck.

    Auf einer angehängten Seite befand sich eine Liste aller Buchtitel, die Patricia sogleich zu kontrollieren begann. Nachdem sie ein Buch einmal in Händen gehalten und wieder beiseitegelegt hatte, versah sie den Titel auf der Liste mit einem schwarzen Haken. Bald bildeten einige sehenswerte Gedichtbände einen gesonderten Stapel, vier Biografien und etliche Romane einen weiteren.

    Patricia stutzte. Das Buch, das nun zum Vorschein kam, erregte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Es schien sehr alt zu sein, obwohl weder der außergewöhnliche Umschlag aus weichem Leder noch ein muffiger Geruch darauf schließen ließen. Kein Titel zierte das Deckblatt. Sie nahm es vorsichtig aus dem Karton und betrachtete das schwarze, ins Leder gebrannte Siegel, das ihr erstaunlicherweise vertraut vorkam. Wo habe ich das schon mal gesehen? Doch so sehr sie sich zu erinnern bemühte, es gelang ihr nicht. Möglicherweise in einem der historischen Bücher oder bei … Nein! Oder doch?

    Voller Ehrfurcht strich sie mit den Fingerspitzen sanft darüber. Allen Vorsätzen zum Trotz schlug sie es neugierig auf.

    Selbst auf der Innenseite befand sich kein Titel. Als sie eine weitere Seite umblätterte, wunderte sie sich noch mehr. Es handelte sich nicht wie erwartet um eine alte, gedruckte Ausgabe, sondern um ein in Kurrentschrift handgeschriebenes Buch. Wie gemalt reihte sich Buchstabe an Buchstabe. Ohne zu lesen betrachtete sie die erste Seite zunächst wie ein Kunstwerk. Sie konnte die kräftigen, dennoch feingliedrigen Hände des Verfassers, die sie Anhand der schwungvollen Schrift vermutete, im Geiste vor sich sehen. Bei dem Verfasser muss es sich um einen Mann mit Bildung gehandelt haben, das erkannte sie sofort.

    „Das ist ein Tagebuch – 1548", murmelte sie leise vor sich hin, als ihr Blick auf das Datum fiel. Behutsam blätterte sie Seite für Seite um. Dabei entging ihr nicht, wie sehr sich die elegante, klare Schrift veränderte. Die Buchstaben der letzten Seite wiesen zum Teil braune, verkrustete Flecken auf. Bei genauerem Hinsehen bestätigte sich ihre Vermutung, es müsse sich dabei um Blut handeln. Wodurch Patricia folgerte, dass der Schreiber möglicherweise misshandelt, eventuell sogar gefoltert worden war, was ihr wiederum etwas über die Ausdauer und den starken Willen des Verfassers verriet. Offensichtlich schien es ihm äußerst wichtig, seine letzten Gedanken unter allen Umständen niederzuschreiben, bevor sie ihn dem Tode übergeben würden.

    Was für eine Geschichte reime ich mir da bloß wieder zusammen? Oder könnte es tatsächlich so gewesen sein?

    Vorsichtig legte sie ihren Zeigefinger auf einen vermeintlichen Blutfleck. Im selben Augenblick fühlte sie ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust. Zitternd atmete sie tief durch, um ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen und hielt für Sekunden die Luft an. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Sie schluckte, um die aufsteigenden Tränen zu verdrängen.

    Patricia klappte das vermeintliche Tagebuch behutsam zu, legte es beiseite und griff noch einmal nach der Liste. Obwohl sie diese ein weiteres Mal von oben bis unten durchsah, konnte sie keinen Hinweis auf das Buch finden. Da sie nun ein Versehen vermutete, nahm sie es noch einmal auf, um es in die oberste Schublade ihres Schreibtisches zu legen. Im Laufe des Tages würde sie bei Herrn von Reineck anrufen, um ihn über den Fund zu informieren.

    Aufatmend, scheinbar einer Last entledigt, die sie zu erdrücken drohte, setzte sie sich. Plötzlich kroch das untrügliche Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein, über ihren Rücken und schon einen Augenblick später verstärkte es sich noch, als sie einen rauchigen Geruch wahrnahm. Zunächst neugierig schnüffelnd wie ein Hund, der Fährte aufgenommen hat, stockte ihr gleich darauf der Atem, als sie eine Hand zu fühlen glaubte, die sich leicht auf ihre Schulter gelegt hatte. Unbeweglich, um die vermeintliche Person nicht zu verscheuchen, blieb sie abwartend sitzen.

    „Guten Morgen, hast du hier übernachtet?", rief Doris, nachdem sie die Tür schwungvoll aufgestoßen hatte und fröhlich lächelnd eintrat, wodurch der Zauber jäh zerstört wurde.

    Patricia zuckte erschrocken zusammen, fuhr herum und starrte Doris mit zusammengezogenen Brauen verärgert an. „Guten Morgen", erwiderte sie unwillig und schob die Schublade energisch zu.

    „Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?"

    „Keine", antwortete sie einsilbig.

    Doris deutete auf die Kiste. „Wieder eine Zauberbuchkiste? Ist was Interessantes dabei?"

    „Ja, doch, antwortete Patricia, abwesend nickend, fügte aber sogleich wie erwachend hinzu: „Ich bin gerade dabei, die Bücher zu kontrollieren.

    „Aha, meinte Doris verhalten, nickte ebenfalls und griff nach dem Schlüsselbund, der auf Patricias Schreibtisch lag. „Kann ich etwas für dich tun? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.

    „Entschuldige, ich war in Gedanken."

    „Ich schließ mal eben auf, sagte die Kollegin, „dann kannst du hier weiter träumen.

    „Danke, Doris, antwortete Patricia leise, bevor ein Ruck durch ihren Körper ging. „He, ich träume nicht.

    „Schon klar", murmelte Doris und zog die Tür hinter sich zu.

    Patricia erhob sich, um den Rest zu sortieren. Doch da meinte sie erneut einen herben, dennoch leicht süßlichen Geruch wahrzunehmen. Unwillkürlich musste sie an ihren Vater denken, der ein passionierter Pfeifenraucher war. Für sie war es stets ein besonderes Vergnügen, bei ihm zu sitzen, während er seine Pfeife anzündete. Zum einen, weil sie das würzige Aroma mochte, zum anderen, weil er sich dann Zeit für sie nahm und meistens eine spannende Geschichte aus seinem Leben zum Besten gab.

    „Papa?", flüsterte sie unwillkürlich und sah sich um.

    Doch außer ihr selbst befand sich niemand im Raum. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, schob diese Vision auf ihre überspannte Fantasie und fuhr damit fort, ihre Arbeit zu erledigen.

    Nachdem sie das letzte Buch auf der Liste abgehakt und auf den entsprechenden Stapel gelegt hatte, fiel ihr Blick auf die Schublade, in der sich das Tagebuch befand. Ja, es schrie förmlich nach ihr. Sie setzte sich, zog die Schublade auf, nahm es heraus und legte es vor sich auf den Schreibtisch. Ganz sicher ist diesem Herrn von Reineck ein Fehler unterlaufen. Womöglich vermisste er es bereits? Nein, bestimmt nicht, mutmaßte sie jedoch gleich darauf, sonst hätte er sicher längst angerufen.

    Heftiges Klopfen an der Tür riss sie erneut aus ihren Gedanken. Wie erwachend blinzelte sie und rief: „Ja, bitte?"

    „Patricia, guten Morgen, wie geht es Ihnen?", fragte der junge Mann, der fröhlich lächelnd seinen Kopf zum Türspalt hereinstreckte.

    „Bis eben ging’s mir noch gut. Guten Morgen, Sebastian. Was treibt Sie denn bei diesem Regenwetter aus dem Haus?", fragte sie ein wenig verärgert infolge der erneuten Störung.

    „Es hat bereits aufgehört zu regnen, antwortete er, wenig beeindruckt von ihrem ablehnenden Tonfall. „Werfen Sie mal einen Blick nach draußen, dann werden Sie feststellen, dass die Sonne sich ihren Platz am Himmel zurückerobert hat.

    „Tatsächlich?", fragte sie und schaute kurz zum Fenster.

    „Ja und der Wetterbericht meldet für den Rest der Woche schönes Wetter. Da könnte man am Abend glatt mal in einen Biergarten gehen."

    Patricia durchschaute seine Anspielung sofort, entschied jedoch so zu tun, als hätte sie sie nicht verstanden. „Die Landwirte werden davon nicht begeistert sein."

    „Vom Biergarten?"

    „Sie wissen, was ich meine. Der ausgetrocknete Boden auf den Feldern war schon rissig."

    „Ihre Einschätzung der Lage teile ich widerspruchslos, dennoch freue ich mich

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