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Nebelkind: Phantastischer Roman aus der Eifel
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eBook270 Seiten3 Stunden

Nebelkind: Phantastischer Roman aus der Eifel

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Über dieses E-Book

Bei der Recherche zu einer Zeitungsreportage lernt die Journalistin Sarah ein altes Klarissenkloster im Ahrtal und eine geheimnisvolle Wahrsagerin kennen. Zur gleichen Zeit beginnen seltsam realistische Träume sie in der Nacht heimzusuchen. Träume, in denen ihr immer wieder ein kleines Mädchen begegnet, Träume, die sich mehr und mehr in die Wirklichkeit hineinschleichen. Und jedes Mal sterben Menschen aus ihrer nächsten Umgebung.
Eines Tages sieht sie das geheimnisvolle Kind bei einem Spaziergang im Eifelwald und folgt ihm. Damit setzt sie scheinbar eine Kette mysteriöser Ereignisse in Gang. Auf der Suche nach dem Kern des Geheimnisses gerät Sarah mehr und mehr in eine surreale Situation, aus der sie alleine nicht mehr herausfindet ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Juli 2019
ISBN9783954415069
Nebelkind: Phantastischer Roman aus der Eifel

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    Buchvorschau

    Nebelkind - Erika Kroell

    Liebenden

    Der Eremit

    Wer das Alleinsein liebt, wird niemals einsam sein.

    Die wirklich Einsamen aber können Alleinsein kaum ertragen.

    Sarah hätte später nicht mehr sagen können, wann der Traum zum ersten Mal aufgetaucht war. Ihr schien es schließlich, als habe sie ihr ganzes Leben mit diesem Traum gelebt, als sei er Teil aller ihrer Tage und Nächte gewesen.

    Tatsächlich träumte sie den Traum zum ersten Mal in der Nacht zum 3. April dieses Jahres. Und tatsächlich begleitete er sie nur ein vergleichsweise kurzes Stück ihres Lebens.

    Der Nacht, in der sie den Traum zum ersten Mal träumte, war ein ganz gewöhnlicher Tag vorausgegangen. Sarah hatte nachmittags gearbeitet, wie meist an Sonntagen, hatte gegessen, getrunken, mit ihrem Kater geschmust, Wäsche gewaschen, ferngesehen, gebadet. Einige Fotos mussten entwickelt werden, und aus bereits entwickelten hatte sie eine Auswahl für eine Reportage getroffen. Sie hatte mit Kollegen über verschiedene Termine gesprochen, die in den nächsten Tagen anstanden und über eine Reportage nachgedacht, die sie für die kommende Samstagsausgabe schreiben wollte.

    Ein ganz gewöhnlicher Tag.

    Sie hatte sich gut gefühlt. Nicht besonders gut, aber ganz gewöhnlich gut.

    Abends hatte sie sich einen Spielfilm im Fernsehen angesehen, in dem es um eine unglückliche Liebe ging, die aber dann doch noch in einem Happy End mündete. Kurz vor Mitternacht war sie ins Bett gegangen, hatte noch ein paar Seiten in einem Krimi gelesen, bis ihre Augenlider schwer wurden, gerade noch geschafft, das Licht zu löschen und war zusammengerollt wie ein kleines Kind eingeschlafen.

    Der Traum schien unmittelbar danach zu beginnen. Sie öffnete die Augen und sah durch das Dunkel des Zimmers das etwas hellere Rechteck des Fensters schimmern. Dahinter lag – nahezu unsichtbar – der Garten. Schemenhaft machte Sarah eine Bewegung in der Finsternis aus, ein leise bewegter Schatten, vielleicht nur ein Windhauch in den Büschen. Sie schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster. Ihre Fußsohlen spürten fast schmerzhaft die Kälte des Dielenbodens. Die Gardine war halb beiseite geschoben. Sarah spähte durch die Scheibe in den dunklen Garten. Die Finsternis war wie eine feste Wand, die kein Blick durchdringen konnte, die Nacht mondlos, der Himmel wolkenverhangen.

    Sie öffnete das Fenster, und sofort blies ein kalter Wind ins Zimmer und ließ sie frösteln. Auf ihrem Nachttisch erlosch flackernd eine Kerze. Sarah konnte sich nicht erinnern, sie angezündet zu haben.

    Sie lehnte sich aus dem Fenster und versuchte, ins Dunkel starrend, der schattenhaften Bewegung zu folgen, die im hinteren Bereich des Gartens ihren Blick anzog. Irgendetwas oder irgendjemand war da. Sarah spürte keine Angst, lediglich eine emotionslose Erwartung.

    Die Bewegung kam näher.

    Sie richtete sich auf und wartete ohne Ungeduld. Sie wusste, schon bald würde sie sehen, wer sich dort im Dunkeln verbarg. Die Konturen des Schattens wurden deutlicher. Näher und näher schwebte er auf sie zu. Sarah konzentrierte sich auf die Gestalt, die ihr langsam aus der Nacht entgegen wuchs. Sie war klein. Schmal. Langes glattes Haar umrahmte ein kleines, rundes Gesicht. Es war ein Mädchen. Sarah hatte das vage Gefühl, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern.

    Sein Körper war mit einem weiten schwarzen Kleid umhüllt, das bis zum Boden reichte. Sarah konnte seine Füße nicht sehen.

    Das Schattenkind öffnete den Mund und schien etwas zu sagen, aber Sarah hörte keinen Laut. »Was sagst du?« fragte sie, und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd und hoffnungslos.

    Das Mädchen bewegte wieder die Lippen in dem Versuch, sich Sarah mitzuteilen, doch obwohl die Nacht sehr still war, hörte Sarah nichts. Da lächelte das Kind, hob eine Hand und winkte leicht, drehte sich um und schwebte zurück ins Dunkel, scheinbar ohne sich zu bewegen.

    Sarahs Erwachen war unangenehm schreckhaft. Sie lag nackt auf ihrem Bett; die Decke war zu Boden gerutscht, und sie fror entsetzlich. Sie knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Kurz vor fünf..

    Beide Fensterflügel waren weit geöffnet; die Gardine bewegte sich leicht im frischen Morgenwind, der das Zimmer bereits vollständig ausgekühlt hatte.

    Schlaftrunken krabbelte sie aus dem Bett, schloss das Fenster und schlüpfte rasch wieder unter die Decke. Drei Stunden Schlaf standen ihr noch bevor, von denen sie keine einzige Minute versäumen wollte.

    Die Herrscherin

    … und immer ist da eine Frau, die weiß, was geschieht …

    Erst viel später an diesem Tag, als sie an ihrem Schreibtisch in der Redaktion saß und Stichpunkte für ihre Reportage auf ein Blatt Papier kritzelte, fiel Sarah die nächtliche Szene wieder ein. Wieso war das Fenster eigentlich offen gewesen? Sie hatte es vor dem Einschlafen geschlossen, dessen war sie ganz sicher. Also musste sie es wohl auch selbst wieder geöffnet haben. Ein vages Bild blitzte in ihrer Erinnerung auf. Ein kleines Mädchen. Mit einem schwarzen Kleid. Ein Traum. Und sie war offensichtlich schlafwandlerisch zum Fenster gegangen und hatte es geöffnet.

    Seltsam. Bisher war sie nie geschlafwandelt. Zumindest wusste sie nichts davon. Sie würde ihre Eltern fragen, ob sie vielleicht als Kind schon mal im Schlaf durchs Haus gegeistert war.

    »Ich gehe jetzt«, sagte Gregor. Tief in Gedanken versunken, reagierte Sarah nicht.

    »Hallo, Süße!« Gregor klopfte ihr auf die Schulter. Sie schrak hoch und wandte sich um.

    »Ich bin jetzt weg. Kreissparkasse. Pressekonferenz.«

    Sarah nickte und hob kurz eine Hand zum Gruß.

    Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich auch langsam fertigmachen musste. Heute Nachmittag war sie mit der Äbtissin eines Klarissenklosters in der Eifel verabredet. Die Nonnen und das Kloster waren die Hauptdarsteller ihrer Samstagsreportage. Sie musste allerdings noch abwarten, bis Annette Walser, die Redaktionsleiterin, endlich auftauchte. Da Gregor schon unterwegs war, wollte Sarah die Redaktion nicht völlig unbeaufsichtigt lassen.

    Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien, und obwohl es kalt war, schien das Wetter ausgesprochen freundlich zu bleiben, so dass sie schöne Fotos erwarten konnte.

    In ihrer Vorstellung war das Kloster alt, düster und verwittert und sehr romantisch in einem bewaldeten Tal gelegen. Sie freute sich schon jetzt darauf, diese Stimmung, die hoffentlich nicht nur in ihrer Phantasie existierte, mit der Kamera einzufangen.

    Um die Zeit bis zu Annettes Eintreffen nicht unnütz abzusitzen, füllte sie die Gießkanne mit Wasser und wanderte an Fensterbänken und Schreibtischen entlang, um die meist kümmerlichen Pflanzen zu gießen. Auf Annettes Schreibtisch prangte eine große Yucca-Palme, die permanent nach Wasser lechzte. Würde Sarah sich nicht hin und wieder erbarmen, wäre das Pflänzchen längst verdorrt. Gregor hatte auf Blumenschmuck gleich ganz verzichtet. Die Fensterbänke aber standen voll mit blühenden und satt grünen Topfpflanzen, die Sarah im Laufe der Zeit mitgebracht hatte. Die Fenster waren groß und ließen reichlich Licht herein – ideale Bedingungen für Zimmerpflanzen. Damit, fand Sarah, waren wenigstens die Fenster der ansonsten recht spartanisch eingerichteten Redaktion hübsch anzusehen.

    Die Tür wurde aufgestoßen, und Annette Walser stürmte in den Raum. »Hallo«, keuchte sie. »Gregor nicht da?«

    Sarah goss die Fächerpalme auf ihrem Schreibtisch. Das Wasser versickerte gluckernd zwischen den dunkelbraunen Erdkrumen. »Zur PK Kreissparkasse.«

    Annette warf ihre Tasche auf den Schreibtisch und ließ sich in ihren Stuhl fallen. »Ist Kaffee fertig?«

    »Klar«, antwortete Sarah und begann rasch, ihre Tasche zu packen. Wenn sie jetzt nicht schleunigst hier herauskam, würde Annette sie gleich bitten, ihr einen Kaffee zu bringen. Und Chefin hin oder her – zu solcherlei Frondiensten war Sarah nicht bereit.

    Sie hängte sich die schwere Kameratasche über die Schulter und ging zur Tür. »Ich bin jetzt weg. Bis später.« Annette sah ihr ein wenig entgeistert nach, stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee in der kleinen Redaktionsküche.

    Im Auto kramte Sarah die Straßenkarte aus dem Handschuhfach und suchte den Weg zum Kloster heraus. Sie hatte die Wahl zwischen zwei Strecken: Sie könnte zuerst über die Autobahn fahren und erst auf den letzten Kilometern zur Landstraße wechseln, oder sie nutzte das schöne Frühlingswetter aus und unternahm eine Landpartie über Kempenich. Das Kloster lag irgendwo zwischen Mayen und Adenau im Wald versteckt, und es würde ohnehin seine Zeit brauchen, es zu finden. Sie entschied sich für die Landstraße.

    Als sie an der Kreissparkasse vorbeifuhr, versuchte Gregor gerade, die Straße zu überqueren. Sarah hielt an und winkte ihn mit einer galanten Handbewegung hinüber. Er erkannte sie erst auf den zweiten Blick und warf ihr dann eine Kusshand zu. Sarah fing sie auf, klatschte sich den Kuss auf die Wange und winkte. Eigentlich, dachte sie, war Gregor kein übler Typ. Gut sah er aus, schlank und muskulös, und die randlose Brille gab ihm einen intellektuellen Touch. Und eigentlich war er auch ein prima Typ. Und interessierte sich für sie, oder hatte sich zumindest mal für sie interessiert, als sie angefangen hatte, für die Eifel-Rundschau zu arbeiten. Drei Jahre war das jetzt her, und Gregor hatte ihr mehrere Monate lang sozusagen den Hof gemacht. Zuerst fand Sarah diese Aufmerksamkeit angenehm und bemühte sich, darauf einzugehen. Sie gingen einmal zusammen essen, und auf dem Weg zum Parkplatz legte Gregor den Arm um ihre Taille. Sie reagierte mit gesträubten Nackenhaaren und einer Gänsehaut am ganzen Körper und beschloss daraufhin, dass die Zeit für eine Beziehung wohl noch nicht reif war. Gregor hatte noch eine Weile versucht, sie einzufangen, aber schließlich enttäuscht aufgegeben. Einerseits bedauerte Sarah, nicht wenigstens den Versuch gestartet zu haben, andererseits war sie froh, dieses Problem umschiffen zu können. Sie hatte keinerlei sexuelle Erfahrung. Sicher, manchmal fragte sie sich, ob das wohl noch normal sei in ihrem Alter. Aber andererseits: Wenn sie nicht das Bedürfnis verspürte, dann war es wohl so richtig. Hin und wieder, beim Anblick einer schönen Frau, erwog sie, ob vielleicht lesbische Ambitionen in ihr schlummerten. Aber auch das hatte sich bisher nicht bestätigt. Ich bin irgendwie asexuell, dachte Sarah. Zumindest bis jetzt.

    Sie kurvte die Serpentinen nach Ramersbach hoch und folgte der Straße in Richtung Kempenich. Fast eine dreiviertel Stunde war sie unterwegs, bis sie den Wald erreichte, in dem das Kloster lag. Eine genaue Wegbeschreibung hatte sie nicht. In ihrem Telefonat hatte die Äbtissin von einem unbefestigten Weg gesprochen, den sie einschlagen musste, um das mitten im Wald gelegene Kloster zu erreichen.

    Zweimal bog sie in den falschen Waldweg ein, bis sich endlich ein kleines Tal vor ihren Augen auftat und den Blick auf das Kloster freigab. Sie schätzte die Entfernung auf noch etwas mehr als zwei Kilometer. Das Kloster war klein, nicht viel mehr als ein Bauernhaus mit Scheunen, umgeben von einer teilweise abbröckelnden Bruchsteinmauer.

    Sarah hielt am Waldrand und stieg aus. Aus dieser Entfernung entsprach das Kloster in etwa der Vorstellung, die sie sich davon gemacht hatte. Idyllisch, von der Sonne beschienen, friedlich.

    Sie schoss ein paar Fotos, stieg wieder ein und folgte dem holperigen Waldweg bis zu ihrem Ziel. Sie parkte den Wagen dicht an der Klostermauer.

    Bevor sie die Klingel an dem großen Eingangstor betätigte, trat sie ein paar Schritte zurück und ließ das Gebäude auf sich wirken. Die Mauer ließ nur einen Teil der Bauten im Inneren sehen. Sarah fotografierte aus den verschiedensten Blickwinkeln. Ein Schornstein auf dem Haupthaus stieß dicke Qualmwolken aus. Lebenszeichen waren nirgends zu entdecken. Alle Fenster des Hauses waren geschlossen.

    Sarah klingelte. Wenig später hörte sie Schritte hinter der Mauer, und dann öffnete sich schwerfällig ein Flügel des großen Holztores. Eine kleine alte Frau in der schwarzweißen Tracht der Klarissen blickte sie erwartungsvoll an.

    »Guten Tag.« Sarah fühlte wie ein Kind angesichts der ehrfurchtgebietenden Tracht. »Sarah Wenders von der Eifel-Rundschau. Ich bin mit Schwester Gabriele verabredet.«

    Die Nonne nickte und bat sie mit einer Handbewegung herein. Mühsam schob sie die schwere Holztür wieder ins Schloss.

    Sarah betrat einen gepflasterten Innenhof, der rechts vom Hauptgebäude und im hinteren Bereich von mehreren Scheunen und Nebengebäuden begrenzt wurde. Zur linken Seite erstreckte sich ein relativ großer Garten, in dem in ordentlich angelegten Beeten wahrscheinlich der Gemüsebedarf des Klosters gezogen wurde. An den Rändern der Beete wuchsen vereinzelt Krokusse und Osterglocken und unterbrachen das noch etwas triste Bild des Gartens. In einem der Beete dicht an der linken Mauerseite hockte eine Nonne und zog mit eine kleinen Hacke Furchen in die krumige Erde. Entlang der Mauer standen uralte knorrige Obstbäume. Einige setzten bereits zur Blüte an.

    In ein, zwei Monaten muss der Garten herrlich aussehen, dachte Sarah. Dann werde ich nochmal wiederkommen und Fotos davon machen.

    Die Nonne schlurfte langsam in Richtung des Haupthauses voraus.

    »Einen Moment noch.« Sarah hielt die Kamera ans Auge und fing das Bild der Gärtnerin ein, die alten Bäume, die brüchige Mauer.

    Die alte Nonne beobachtete sie geduldig, als sie den großen Innenhof halb überquerte und die Perspektiven verglich. Noch ein Foto gegen die Sonne. Wunderbar.

    Jetzt die Gebäude. Das Haupthaus war ein gerader Kasten aus Bruchsteinen mit einem Schieferdach. Die Fensterläden brauchten einen frischen Anstrich. In den Scheiben spiegelte sich das Sonnenlicht. Hinter keinem Fenster konnte Sarah ein lebendiges Wesen ausmachen.

    »Würden Sie sich bitte vor das Haus stellen?« bat Sarah die Nonne. Die alte Frau lächelte und nickte. Sarah drückte mehrmals den Auslöser.

    Schließlich lenkte sie das Kameraauge auf die Nebengebäude, drei verschieden große Holzschuppen, dicht aneinander gebaut. An den Außenwänden hingen mehrere alte Sensen mit verrosteten Blättern, teils schartig ausgefranst und sicher seit langem nicht benutzt. Eine wackelig aussehende Holzleiter führte zum Scheunenboden hoch, auf dem früher vermutlich Stroh gelagert wurde. Sarah zoomte das Bild zu einem Ausschnitt, der die Sensen, die Leiter und ein altes Holztor gleichzeitig erfasste.

    Gerade, als sie auf den Auslöser drücken wollte, öffnete sich das Tor und eine Gestalt in einem dunklen Kapuzengewand trat heraus. Ihr Gesicht lag vollständig im Schatten der Kapuze, und die beiden Hände steckten kreuzweise in den Ärmeln des Gewands. Ein klassisches Klosterbild.

    Sarah zögerte einen Augenblick, die Kamera fest ans Auge gedrückt. Der Anblick dieser Kapuzengestalt ließ tief in ihr eine Saite klingen, deren Ursprung sie nicht kannte. Was war das für ein Gefühl, das dieser Mensch in ihr auslöste? Sarah horchte in sich hinein. Sie fand keine Erinnerung, die mit diesem Anblick und mit diesem Gefühl in Einklang zu bringen war.

    Mit einer raschen Kopfbewegung schüttelte sie die irrationale Empfindung ab.

    Die Gestalt blieb in der offenen Tür stehen und hob den Blick in Sarahs Richtung. Der Schatten der Kapuze ließ Sarah das Gesicht mehr ahnen als sehen. Sie knipste mehrmals hintereinander, bis die Person – sie konnte nicht sagen, ob Mann oder Frau, vermutete aber aufgrund der Haltung und der Körpergröße eher einen Mann – um eine Ecke der Scheune verschwand.

    »Entschuldigen Sie die Verzögerung«, wandte sich Sarah der Nonne zu und lächelte.

    Die Alte nickte nur freundlich und führte sie durch eine etwas modernere Tür in das Haupthaus. Über eine ausgetretene Holztreppe ging es in den ersten Stock, wo die Nonne am Ende eines mit verblichenen Teppichen ausgelegten Flurs an eine Tür klopfte.

    Sie öffnete die Tür, murmelte ein paar Worte in den Raum hinein und ließ Sarah eintreten.

    Hinter einem großen, einfachen Schreibtisch erhob sich eine der schönsten Frauen, die Sarah je gesehen hatte. Schwester Gabriele war noch größer als Sarah, die mit fast einsachtzig nicht gerade klein geraten war, und sehr schlank. Ihr Gesicht war schmal, mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase und einem kräftigen Kinn. Unter einem blonden Haaransatz bog sich eine hohe Stirn, und zwei perfekte Brauen krönten offene, graugrüne Augen, die Sarah ernst und freundlich ansahen. Trotz der klaren Schönheit und des Klarissenschleiers strahlte Schwester Gabriele absolut nichts Madonnenhaftes aus, sondern wirkte wie eine moderne Frau, die das Leben und ihr Kloster fest im Griff hatte.

    Sie streckte Sarah eine schmale, lange Hand entgegen und bot ihr einen Stuhl an.

    Sarah erläuterte noch einmal kurz ihr Anliegen, das sie bereits letzte Woche am Telefon ausführlich mit Schwester Gabriele besprochen hatte: Eine Reportage über das heutige Leben der Klarissen, ein wenig aus der Geschichte des Ordens, Zeremonien, Lebensunterhalt etc. Was man halt so erzählen konnte.

    Schwester Gabriele hörte aufmerksam zu und wandte den Blick nicht eine Sekunde von Sarahs Gesicht.

    »Ich habe leider Ihren Namen vergessen«, sagte sie, als Sarah verstummte. Ihre Stimme war warm und dunkel.

    »Sarah Wenders.«

    »Wie alt sind Sie, Sarah?«

    »Dreiundzwanzig.« Sarah zögerte einen Moment. »Warum möchten Sie das wissen?«

    Schwester Gabriele lächelte. »Es interessiert mich. Obwohl Neugier zu den Untugenden zählt, deren sich eine Klarisse nicht schuldig machen sollte, kann ich meiner Natur nicht immer widerstehen.« Aus ihrem leicht amüsierten Gesichtsausdruck schloss Sarah, dass sie sich selbst ihre Untugenden nicht allzu übelnahm.

    Die Nonne setzte sich in dem geraden Holzstuhl zurück. »Aber jetzt werde ich Sie nicht weiter aufhalten. Bitte, fangen Sie an.«

    Sarah hatte den Faden verloren. Die stolze, schöne Nonne irritierte und verunsicherte sie. Sie strömte eine Atmosphäre von Autorität und Überlegenheit aus, in der sich Sarah klein und dumm fühlte. Was wollte sie noch alles fragen? Sie wusste nichts mehr.

    »Darf ich zuerst ein paar Fotos von Ihnen machen?« fragte sie, um den Blackout in ihrem Kopf zu überwinden.

    »Gern.« Schwester Gabriele nickte und wandte sich völlig unbefangen der Kamera zu, die Sarah wie einen Schutzschild vor ihr Gesicht hielt. Während ihr Auge die Perspektiven abschätzte und der Zeigefinger unablässig den Auslöseknopf drückte, gewann Sarah ihre innere Ruhe wieder zurück. Sie nahm den Platz vor dem Schreibtisch ein, griff zu Kugelschreiber und Notizblock, stellte Fragen und notierte die Antworten.

    »Wie viele Nonnen leben in Ihrem Kloster?«

    »Wir sind jetzt noch zu acht. Vor wenigen Monaten ist unsere älteste Schwester mit 97 Jahren gestorben. Jetzt ist Schwester Hillaria, die sie hereingeführt hat, die älteste. Sie ist 84. Die Jüngste ist Schwester Monika mit 27.«

    Mit Bedauern in der Stimme setzte sie hinzu: »Sie ist auch die letzte, die in unser Kloster eingetreten ist. Und das ist nun auch schon fast sechs Jahre her.«

    Sarah notierte, dass die Klarissen offenbar Nachwuchsprobleme haben und fragte nach dem Lebensunterhalt. Das Kloster unterhielt sich vollständig selbst. Es war ein autarker Orden und keinem größeren Verband angeschlossen. Die Schwestern lebten von einer kleinen Hostienbäckerei, mit der sie den Bedarf der umliegenden Kirchen deckten. Davon kauften sie die Lebensmittel, die sie nicht selbst herstellen konnten und die Kleider, wenn denn einmal Ersatz beschafft werden musste.

    Schwester Gabriele leitete das Kloster seit 17 Jahren. Ihre Vorgängerin war gestorben, und die Schwestern wählten eine Nachfolgerin aus ihren Reihen. Ganz klar, dass sie Gabriele gewählt haben, dachte Sarah.

    »Meine Mitschwestern nennen mich übrigens Mutter, und Sie dürfen das ebenfalls, wenn Sie möchten.« Bei diesen Worten blickte sie Sarah fest in die Augen. Sarah brachte kein Wort über die Lippen und nickte nur.

    »Möchten Sie sich ein wenig im Kloster umsehen?«

    »Gern.« Sarah hängte die Kameratasche über die eine, den Fotoapparat über die andere Schulter und folgte der Nonne.

    »Zuerst zeige ich Ihnen unsere Bäckerei.«

    Mutter Gabriele führte sie über den Flur hinunter in das Erdgeschoss. Neben der Treppe führte eine Tür in die große Küche, hinter der die Hostienbäckerei lag. An einem breiten, hölzernen Arbeitstisch waren drei Schwestern beschäftigt, Teig zu kneten, auszurollen, Hostien zu stechen und die gebackenen Hostien zu verpacken. Sie hoben bei Mutter Gabrieles Eintreten nur kurz den Kopf. Keine sagte ein

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