Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Alienna
Alienna
Alienna
eBook429 Seiten6 Stunden

Alienna

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Für die junge Melanie verliert das Leben in der kalten Moderne zunehmend seinen Wert. Auf der verzweifelten Suche nach Glück, Akzeptanz und Liebe stürzt sie sich in ein neues Leben in einer Scheinwelt. Doch auch hier liegen Gut und Böse, Richtig und Falsch nah beieinander und sie beginnt sich auf diesem dünnen Grad immer weiter an die Spitze der Macht zu bewegen - in der Hoffnung, die Antwort auf die wichtigste aller Fragen zu finden: Wer ist sie selbst?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Dez. 2017
ISBN9783746900940
Alienna

Ähnlich wie Alienna

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Alienna

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Alienna - Aliće Weiglein

    Entscheidungen

    Sie sagten mir an der Pforte, dass ich es in Eldoron nicht leicht haben werde.

    „Warum?", fragte ich mit schmerzhaft schlagendem Herzen und wurde ausgelacht. Hätten sie mir die einzige und ehrliche Antwort darauf gegeben, die ich erst viel zu spät begriff, wäre ich noch umgekehrt, bevor mein Fuß die Schwelle betreten hätte. Aber etwas lockte mich. Bunte Werbeslogans auf Luftballons tanzten rund um mich auf und ab, vor meinen Augen drehte sich schon alles.

    Und Sie? Wollen Sie nicht auch einmal Herr über Leben und Tod sein?

    Hier! Wer im Leben arm, kann hier reich sein.

    Wählen Sie! Wer wollten Sie schon immer einmal sein – Seien Sie es hier jeden Tag!

    Lassen Sie los, lassen sie alle Mühen und Sorgen hinter sich… alle Bürden sind Ihnen genommen…

    Seien Sie noch heute frei…

    Frei. Frei war ich nie gewesen. Zumindest nicht frei, wie ich mir vorstellte, dass man sich dem Klang dieses Wortes nach, und allem wofür es zu stehen vorgab, fühlen musste. Meine Vorstellung von Freiheit war zwar durchaus zweifelhaft und ungenau, trotzdem nahm ich an, dass sie um jeden Preis erstrebenswert sei. Frei sein bedeutete in meinen Augen Antworten auf alle Fragen, ein Stillen des Durstes, der immer zurückblieb, ganz gleich wie man ihn zu lindern versuchte. Von der Pforte aus lächelte man gleichgültig zu mir herüber.

    „Nur noch einen Schritt, meine Liebe", sagte einer der Wächter mit melodischer Stimme, die aber von derselben Gleichgültigkeit durchdrungen war wie sein nicht nachlassendes Lächeln. Für den Moment sah ich mich nicht veranlasst, weiterzugehen, auch wenn die Torflügel bereits einladend offen standen. Ich wusste nichts anzufangen, als weiter da zustehen und mich umzuschauen.

    „Ihr Zögern verrät Sie, meine Liebe, mischte sich nun die schwer bewaffnete eindrucksvoll vor mir aufragende Wächterin zu meiner Linken ein. Energisch stieß sie ihre Lanze in den Boden. „Wenn Sie nicht umkehren, haben Sie sich längst entschieden. Kommen Sie zu mir, es ist leicht. Einen Schritt noch.

    Abschätzend sah ich in ihre katzenhaft schmalen grünen Augen. Mochte es wahr sein was sie sagte, oder auch nicht. Ich traute ihr nicht, so wie ich niemandem traute. Beharrlich trat ich einen Schritt zurück, ohne jedoch der Pforte den Rücken zuzukehren. Mit meiner trotzigen Reaktion erntete ich nichts weiter als ein Lächeln. Ihre Gleichgültigkeit machte mich allmählich zornig, fasst wünschte ich mir, sie würden mich entweder mit Gewalt über die Schwelle des Tores ziehen, oder mich verächtlich von der Grenze ihrer Welt fortscheuchen. Nichts geschah. Mit jedem vergeudeten Atemzug hasste ich ihr Spiel mehr. Meine Gedanken rasten, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen.

    Dann sah ich in dem Ausschnitt der Welt, der sich mir durch die weit geöffneten Tore bot, ein junges Mädchen. Schon von der Enfernung aus hörte ich es lachen, klangvoll und freudig. Als es den Kopf schließlich in meine Richtung wandte, sodass die blonden Haare im Wind flogen, konnte ich seine strahlenden Augen sehen. Für einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke.

    Frei. Es war als könnte mein Herz die Bedeutung des Wortes spüren. Jetzt und hier.

    Schon war ich unbewusst über die Schwelle getreten.

    „Belehrung über Rechte und Pflichten…", hörte ich die Wächter mir nachrufen, doch ich war schon längst weiter. An einem kleinen Häuschen, das ich merkwürdiger Weise bisher nicht bemerkt hatte, erwartete mich ein gebeugter Greis, der mir seinen Gehstock entgegen reckte.

    „Sie da! Nicht so hastig. Ein neues Leben will wohl überlegt sein. Was man braucht ist ein kühler Kopf. So. Hier lang. Ja, immer mir nach. Folgen Sie mir, wie unzählige vor Ihnen es getan haben und alle nach Ihnen es auch tun werden."

    Meine anfängliche Befangenheit kehrte zurück, dennoch eilte ich dem Alten nach und schwieg. Inmitten der Hütte, die deutlich geräumiger war, als sie von außen zunächst gewirkt hatte, machte er Halt. Eine der langen Wandseiten hing voller Bilder von Frauen, die gegenüber voller Männerbilder, die kurzen Wandseiten waren nakt und auch die Mitte des Raumes war schlicht und ergreifend leer. Ich wusste nicht recht, wie der Alte hier anständig wohnen sollte…

    „So, lassen Sie mich Sie ansehen… Sicher wollen Sie groß sein und schlank. Blond? Nein, vermutlich eher schwarzhaarig. Die Frisur? Naja, die können Sie ja selbst jederzeit verändern. Dann werden Sie fürs erste einmal lange Haare haben. Abschneiden können Sie nach Bedarf selbst." Er lachte kehlig über mein Stirnrunzeln.

    Sicheren Schritts trat er vor eines der Bilder, das genau auf die Umschreibung seines Vorschlags zutraf. Und exakt auf meine eigene Vorstellung von einem perfekten Äußeren. Als hätte er all meine Wünsche in meinen Augen gelesen, bevor sie sich mir selbst offenbart hatten.

    „Wie haben Sie das wissen können?", fragte ich beeindruckt und erschrocken zugleich, obwohl ich nicht genau verstand, was hier geschah.

    „Ach… es ist immer gleich, murmelte er fast schon gelangweilt. „Jeder will das, was er nicht hat. Ich liege nie falsch. Aber kommen Sie jetzt. Sie müssen sich noch eine Grundausrüstung erhalten. Viel gibt es nicht, das sage ich Ihnen gleich. Aber Sie sind ja auch erst am Anfang, alles andere müssen Sie sich erst verdienen. Das Leben ist nirgendwo leicht.

    Letzteres sagte er mit einer sonderbaren Härte im Gesicht, die mir Angst machte. Umso weniger wagte ich danach zu fragen. Ich murmelte überflüssigerweise meine Zustimmung, die Entscheidungen über meine Ausrüstung hatte der Greis bereits für mich getroffen. Unschlüssig wog ich einen langen Dolch in Händen und schob ihn dann unbeholfen in die Lederscheide an meinem Gürtel. In den Gürteltaschen befanden sich Vorräte, die ich als trockenes Brot und Gemüse identifiziren konnte. Meine Kleidung war noch ein bisschen steif, aber das Leder wirkte zumindest gut verarbeitet und stabil. In einer kleineren Gürteltasche waren kleine runde Kugeln. Mit einem Schulterzucken schloss ich die Tasche wieder. Als ich vor die Tür der Hütte trat, war ich alleine. Vermutlich war der Alte in seiner sonderbaren Hütte zurückgeblieben. Was war das für ein merkwürdiger Beruf, die Wünsche von Fremden zu erraten, dachte ich kurz und schob den Gedanken sofort beiseite.

    Frei. Ich war die, die ich immer hatte sein wollen. Doch als ich mich gerade bedanken wollte, war die Tür bereits geschlossen und der Alte nirgends zu sehen. Wieder huschte das Kind vorüber, näher als vorhin. Wieder blickte ich in seine Augen. Es lachte aus vollem Hals, doch ich sah, dass das Lachen seine Augen nicht erreichte. Als ich den Blick tiefer sinken ließ, erkannte ich blutverkrustete Schnitte quer über die Arme des Mädchens. Die Clownsschminke, die es vorher so fröhlich hatte wirken lassen, war um die Augen- und Mundpartie völlig verwischt, als hätte es viel geweint. Es wirkte deutlich älter, kaum mehr wie ein Kind – im Grunde war ich mir nicht mehr sicher, was ich überhaupt gesehen hatte. Ich wollte noch einmal genauer hinsehen, doch als ich blinzelte, war es aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich war gerade erst in Eldoron angekommen und schon versuchte ich zu vergessen.

    „Alienna, hörte ich ein Rufen und wandte mich um. „Alienna, Sie müssen mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache sein, wenn der Täter seine Darstellung beginnt. Es wird einen Moment geben, in dem er einen schwerwiegenden Fehler begeht und den dürfen wir nicht verpassen. Verständnislos starrte ich ins Nichts, bis sich vor mir die Konturen und schließlich die Farben meines Anwalts manifestierten.

    „Verzeihen Sie", bat ich teilnahmslos.

    „Alienna, ich muss nicht betonen, dass hier Ihre Angelegenheit verhandelt wird. Zeigen Sie dem Gericht ihren Respekt und konzentrieren Sie sich. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Gegner. Er wird versuchen, Ihnen durch seine Worte zu schaden."

    Stumm zwang ich den Blick nach vorne in das Sprechrund. Dass er mir schaden wollte, konnte ich nicht glauben. Dass er es aber gezwungenermaßen nicht doch tun würde, war nicht ausgeschlossen. Alle versammelten Weltenrichter, der Richtkönig und die selbst ernannten Zeugen, die ich heute zum ersten Mal sah, lächelten gleichgültig vor sich hin. Eine Art von Lächeln, die mich zu Beginn meines Lebens in Eldoron so fasziniert hatte und mich nun nur noch verstörte. Diese sture, unerschütterte Freundlichkeit, wobei man nicht zeigte, was man im Herzen wirklich empfand. Ein Gefühl von allgegenwärtiger Leere ergriff mich und durchdrang mein ganzes Sein mit aller Gewalt. Jetzt, da es um meine Person ging und mir nichts als Teilnahmslosigkeit und geschäftliches Interesse entgegen drang, wurde mir erst bewusst, wie kalt diese Welt mit all ihren vergeblich suchenden Bewohnern war. Wie kalt mein eigenes Leben in eben dieser Welt geworden war.

    Dann stand der Angeklagte auf, maßvoll und grazil, sich aufmerksam umblickend, bei meinem Anblick gab es ein kurzes Aufblitzen in seinen klugen Augen, dann blickte er weg.

    „Alteri semper ignoscito, nihil tibi", sagte er, nur um sich sofort wieder zu setzen. Es herrschte absolute Stille im Saal. Zugegebenermaßen, ich war verwirrt. Warum diese Wahl der Worte? Warum sagte er mir, dass man stets den anderen vergeben sollte, nie aber sich selbst? Es schien als warteten alle wie auch ich auf ein Zeichen, dass der Angeklagte weitersprechen würde. Bald kam Unruhe auf, die langen üppig verzierten Gewänder des Richtkönigs raschelten ärgerlich.

    „Dracero", ergriff nun endlich der Richtkönig das Wort, bevor die Geräusche verursacht durch die ungeduldigen Anwesenden, noch weiter anschwollen.

    „Ich darf Sie daran erinnern, zu welchem Zweck Sie in der Runde der Weltenrichter vorgeladen wurden. Ihre weisen Reden sind redundant. Erklären Sie sich genauer, sonst bleibt mir nichts anderes übrig, als die geforderte Strafe über Sie zu verhängen."

    Wieder Schweigen. Erschrocken wollte ich auffahren, um den Richtkönig um Einhalt zu bitten, doch mein Anwalt hatte mich beschwichtigend am Arm ergriffen und zog mich näher zu ihm hin.

    „Sie sind nicht hier um diesem Mann einen Gefallen zu tun, Lady Alienna. Konzentrieren Sie sich."

    Allmählich wurde ich ungeduldig und fahrig in meinen Bewegungen. Er dort, er, den sie alle anstarrten, er hatte sich an mir schuldig gemacht, ohne dass er eine Schuld begangen hatte. Trotzdem stand seine Bestrafung kurz bevor. Wir wussten es beide - und doch… Was dachte Dracero in diesem Moment, wovon ging er aus? Dass ich für oder wider ihn aussagen würde? Oder war er sich sicher, dass ich schwieg? Die wichtigste Frage jedoch war, wovon ging ich aus? Wie würde ich mich verhalten? Bei allem Nachsinnen stellte ich unwillkürlich fest, dass mir schlecht war. Es mochte daran liegen, dass ich seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte, dass ich am Abend vorher zwei Flaschen Wein geleert, und aufgrund der Tatsache noch immer unglaublich ungesund fühlte. Womöglich war auch die stickige Luft im Verhandlungsrund der Weltenrichter schuld an meinem üblen Befinden… Oder aber ich konnte Draceros Anblick nicht ertragen. Warum? Brachte ich es nicht über mich, zu sehen wie er gerichtet wurde? Glaubte ich an seine Schuldlosigkeit, auch wenn ich es besser wusste? War es überhaupt Schuld? Diesen Begriff hätte ich selbst nie im Zusammenhang mit seinen Taten gewählt. Unser beider Leben war so eng miteinander verflochten gewesen, dass es unweigerlich zu Eingriffen des einen in das Leben des anderen hatte kommen müssen. Was, so ging es mir schon seit unserer ersten Begegnung durch den Kopf, verband uns, was empfanden wir füreinander? Seine Augen waren nicht wie die der anderen Bewohner von Eldoron, nicht gleichgültig höflich drein blickend, sie waren mal hart und kalt, unerbittlich und voll Zorn, aber auch mild und tief.

    Ein zweites Mal erhob sich der Angeklagte. Ich dachte in dem Moment an so vieles. Zum Beispiel daran, wie mein Leben in Eldoron begonnen und mein eigentliches Leben mit jedem Tag schwächer geworden war und um einen Hauch beinahe erloschen wäre. Dann wiederum versuchte ich mir alle Erinnerungen die mit Dracero in Verbindung standen zurück ins Gedächtnis zu rufen. Eine Aufgabe, an der ich scheitern musste. Was wir Gemeinsames teilten, war ein ganzes Leben. Mir schwindelte, ich rang um Beherrschung, atmete schneller die stickige Luft ein und starrte unverwandt auf die Lippen meines einstigen Geliebten.

    „Verehrter Richtkönig. Ich weiß, ich bin der Schuldige, ich gestehe alles, ich nehme jede Strafe, die mir auferlegt wird, an. Verehrte Lady Alienna, vergeben Sie mir nichts, denn auch ich selbst kann mir nicht vergeben. Nur bitte lassen Sie mich Ihre Stimme hören. Nur noch einmal. Sagen Sie irgendetwas. Sagen Sie wenigstens, dass Sie mich hassen."

    Es wurde dunkel um mich.

    Ehrlos

    Jedes Leben beginnt auf dieselbe Weise. Jeder fängt mit nichts an als dem bloßen Dasein und den wenigen Dingen, die er in der Hütte nahe der Pforte mitbekommen hatte. Fast wie ein Neugeborenes, das schutzlos ins kalte Leben gestoßen und gleichzeitig schon von der Mutter verbannt war. Aber obschon es mir unangenehm war, fand ich, dass es eine vernünftige Sache mit der Gleichheit aller war. Zusätzlich zu der spärlichen Grundausstattung erhielt jeder genau 21 Freuden. Wertgegenstände in Form kleiner durchschimmernder Perlen, die im Wert mit Gold oder Diamanten vergleichbar waren, in ihrem ideellen Wert beinahe noch kostbarer. Etwas dass so wertvoll war, so bedeutsam zugleich, als wäre es ein Teil der eigenen Persönlichkeit. Man gab sie nur dann aus, wenn man keine andere Wahl mehr hatte. Denn einmal eingetauscht, war es so gut wie unmöglich sie wieder zu erlangen. Schnell lernte ich, dass man niemals fragen durfte, wie viele Freuden jemand noch hatte. Die Freuden waren ein Thema, über das man im Allgemeinen nicht sprach. Ich lernte auch, dass man meist nur zu Beginn seines neuen Lebens seine Freuden ausgab. Gerade so lange, bis man andere Güter zum Tauschen hatte, oder Dienstleistungen für Güter anbot. Seine verbliebenen Freuden hütete man von da an wie einen unermesslich wertvollen Schatz. Derjenige jedoch, von dem man wusste, dass er keine Freuden mehr besaß, galt als verloren und wurde auch so behandelt. Die Freuden schienen der Inbegriff von Wohlstand und Glück zu sein. Abschätzend wog ich sie in der Hand. Noch immer unschlüssig, was sie mir selbst wert waren, steckte ich sie wieder weg.

    Ich war eine von denen, die mit der allumfassenden Einsicht hierhergekommen war, nichts mehr zu verlieren zu haben. So gleichgültig wie ich mich mit meinem bisherigen Leben abgeschlossen hatte, begann ich auch meine Chance auf ein neues Leben. Dennoch sah ich in all meiner Unbesonnenheit doch ein, dass ich achtsam sein musste mit dem Ausgeben meiner Freuden.

    Ziellos irrte ich durch mein neues Leben, durch eine Welt voller Wunder und dennoch so vieler bekannter Dinge. Für mein Befinden hätte es ruhig noch etwas absurder sein können. Denn auch wenn ich bis jetzt noch nicht mit Regeln, Gesetzen oder Pflichten konfrontiert worden war, beobachtete ich doch eine nicht zu verleugnende Ordnung und Regelmäßigkeit im Leben der Bewohner von Eldoron. Ein jeder von ihnen schien einer Art von Arbeit oder Tätigkeit nach zu gehen, um Tauschgegenstände herzustellen oder seine Dienste anzubieten. Im Grunde wehrte sich alles in mir dagegen, ebenfalls daran teilhaben zu müssen, aber ich sah schnell ein, dass ich etwas von Wert zum eintauschen haben musste, wenn ich nicht meine Freuden einlösen wollte. Zu lange hatte ich nichts Richtiges außer ein paar unterwegs gepflückten Früchten gegessen und viel zu wenig getrunken, sodass ich immer langsamer vorwärts kam und oft rasten musste. Manchmal schien mein Körper sogar zu zittern, mein Blick verschwamm und mir schwindelte. Müde kämpfte ich mich vorwärts. Die Schwäche des menschlichen Körpers, ich hatte nicht geahnt, dass sie mich auch hier einholen würde.

    „Melanie", hörte ich jemanden rufen, doch nicht hier. So weit weg schon, diese Stimme…

    Wenigstens wurde ich nicht als Fremde behandelt, bei deren Anblick man entweder weg sah und tuschelte, oder die man mit offenkundiger Abneigung betrachtete. Das offene Lächeln all derer denen ich in kleinen Gehöften, in den Wäldern oder auch in der nächst gelegenen Stadt begegnete, ermutigte mich und gab mir das Gefühl hierher zu gehören. Zu ihnen allen. Zu denen, die doch einmal Glück gehabt hatten und nun ein zufriedenes selbstbestimmtes Leben führen durften.

    „Was haben Sie anzubieten?", wurde ich öfter gefragt, wandte mich aber mit einem schüchternen Kopfschütteln ab. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits drei Freuden für Nahrunsmittel und ein paar wärmere Kleidungsstücke eingetauscht. Es war kein gutes Gefühl, die wenigen Wertgegenstände herzugeben, die man besaß.

    „Sie brauchen Schutz, Lady. Seit einiger Zeit sehe ich Sie alleine umherwandern. Vermutlich sind Sie erst angekommen und wissen wenig über die Gefahren, denen Sie hier ausgesetzt sind. Ich kann Ihnen helfen. Wenn Sie wollen."

    Erschrocken drehte ich mich der hoch aufragenden schlanken Frau zu, die mich angesprochen hatte. Sie war auf sonderbare weise hübsch, obwohl sie eher maskuline Tarnkleidung trug. Wollte sie mir helfen, oder wollte sie mir etwas Böses? Ich wusste es nicht. Unentschlossen hielt ich inne, während sie mich umrundete und abschätzend begutachtete.

    „Erstaunlich, murmelte diese mit einem leichten Nicken und ließ die Hände sinken. „Sie sind geeignet dafür. Wenige sind das vom ersten Moment an. Es ist einige Zeit her, dass ich eine so verzweifelte junge Frau wie Sie gefunden habe. Viele müssen erst noch geformt werden. Bei den einen geht es schnell, aber andere scheitern an sich. Ob Sie jedoch wirklich bereit sind, müssen Sie mir selbst sagen. Wenn Sie es denn bereits wissen können.

    Sollte ich etwas erwidern? Die Erwartungen meines Gegenübers an mich, schienen nicht gering zu sein und ich hatte Angst, meine möglichen Chancen durch ein falsches Wort zu verspielen.

    „Warum soll ich nicht wissen können, ob ich für etwas bereit bin – vorausgesetzt ich wüsste für was?", konnte ich mich nicht zurückhalten zu fragen, obwohl ich die Frage bereute, sobald ich sie ausgesprochen hatte. Gerade hatte die Frau mir meinen Dolch aus der Scheide am Gürtel gezogen und prüfte die Waffe mit zusammen gekniffenen Augen.

    „Sie haben gut gewählt. Vielleicht haben Sie Ahnung von Waffen, vielleicht aber auch nur ein gutes Gefühl. Dann würde ich es Glück nennen. Wie Sie auch heißen mögen, Ihr Name ist mir egal, alle Namen hier sind eine Lüge. Sie scheinen intelligent zu sein, außergewöhnlich und doch gleichzeitig so naiv. Wie geht das zusammen... nun… Haben Sie Angst, meine Liebe?"

    Meine Sicht verschleierte sich, an den Rändern meines Gesichtsfeldes war es zu dunkel geworden um etwas zu erkennen und ich verspürte heftigen Kopfschmerz. Unwillkürlich fasste ich mir an die Stirn.

    „Sie glauben Migräne zu haben, meine Liebe, aber seien Sie sich sicher, Sie haben keine. Zumindest nicht hier. Und das ist doch alles was zählt, nicht wahr?" Bei dieser Bemerkung wurde das Gesicht der Frau hart und für einen Augenblick bildete ich mir ein, einen Schimmer von schmerzlichem Verlust über ihr Gesicht ziehen zu sehen. Doch der Moment war zu schnell vorbei und ich musste mich auf mein Gleichgewicht konzentrieren. Nicht hier. Nicht hier. Nicht hier. Hier gab es keine Migräne.

    „Ich habe Menschen kennen gelernt, die sich über alles geliebt haben. Menschen, die bedingungslos für einander da waren, die den Partner bis zum Ende ihres Lebens gefunden zu haben glaubten, die alles für einander getan hätten und gemeinsam bis in den Tod gegangen wären. Und ich habe gesehen, wie ungerecht auch diese Menschen zueinander sein können, wie falsch, wie selbstsüchtig, wie verletzend. Wie sie sich gegenseitig bis auf das Letzte zerstören können. Wie sie einander töten können. Mit Worten oder mit Waffen".

    Nachdenklich umrundete mich die Frau, die ich für eine Art Kriegerin hielt, und sagte hinter meinem Rücken: „Sie haben Angst vor Gefühlen. Das ist eine gefährliche Angst. Eine Angst, an der Sie leicht zerbrechen können. Aber auch eine Angst, die Sie schützen kann. Sie wird Ihnen womöglich von Vorteil in El-doron sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nie fallen werden."

    „Melanie, Melanie…" Warum riefen sie mich so? Ich wollte nichts hören. Was hatte die Kriegerfrau mit ihrer Antwort angedeutet? Mir war, als wäre ich so nah an der allumfassenden Lösung. Der Antwort auf mich selbst. Zum greifen nahe und dann fiel ich, fiel ich, fiel ich… und als ich langsam wieder zu Besinnung kam, war ich der Erkenntnis so fern, als wäre ich nie annähernd in ihrer Nähe gewesen…

    „Melanie, leg dich hin, du bist furchtbar blass..."

    Warum war ich hier? Umgeben von all umfassender Schwärze, hilflos und allein. Warum fiel ich, warum war ich nicht stark genug, um die Schatten zu verdrängen, die sich über mir zusammenzogen? Panik überkam mich, ich musste zurück, musste erfahren, was die fremde Frau über mich zu wissen schien. Unsere Begegnung war nur ein Augenblick gewesen, eine kurze Momentaufnahme in meinem Leben – und dieser eine Blick, den die Unbekannte auf mich hatte erhaschen können, schien ausgereicht zu haben, um mein Wesen zu begreifen. Alles in mir drängte nach der Rückkehr. Minutenlang rang ich mit meiner Angst. Warum sollte ich nicht genug Selbstvertrauen haben, um die wenigen Schritte zu tun, die mich von Eldoron trennten? War es morgens, war es abends, oder war die Nacht bereits angebrochen? Jedes Zeitgefühl war mir abhanden gekommen, ich wusste nicht, wie lang ich durch das düstere Nirgendwo gedämmert war, bevor ich wieder das Bewusstsein erlangt hatte. Die Vorhänge waren zugezogen, doch um sie aufzuziehen fehlte mir die Kraft und mir war ohnehin alles viel zu gleichgültig um nachzusehen, ob es noch hell draußen war.

    „Alienna!", mahnte mein Anwalt erneut. Er hatte warnend eine Hand erhoben. Unter dem Murren des Richtrates war Dracero aufgestanden und war bis auf wenige Meter an die Tribüne der Verteidigerseite heran getreten.

    „Hier knie ich nun vor Ihnen, Alienna und die ganze Welt mag erfahren, dass Sie recht hatten. Sie allein sind meine Richterin, Ihnen zu Füßen ist der Platz der mir gebührt. Verlangen Sie alles von mir, nehmen Sie alles von mir was mir geblieben ist, um Gnade werden Sie mich nicht bitten hören, denn darum darf ich nicht verlangen. Zu schwer wiegt meine Schuld."

    Ich wollte mich zu Dracero hinab beugen, stattdessen sah ich über seinen Kopf hinweg aus dem Fenster. Mein Angeklagter zog mit aller Macht an mir, doch ich war aufgesprungen und bis an den Rand der Tribüne getreten.

    „Angeklagter…, brachte ich kaum hörbar über die Lippen, „man sagt Ihnen eine Schuld nach. Eine Schuld, die Sie wissentlich an mir begangen haben. Die Sie auf sich genommen haben, um mich aus einer Gefahr zu retten, in die ich mich selbst brachte. Ich habe Ihnen Ihre Schuld hiermit vergeben. Ein Raunen ging durch den Saal wie ein böses Lachen.

    „Niemals, rief mein Verteidiger zornig, obwohl er sein Lächeln nicht eine Sekunde ablegte, „Wer vor dem Richtrat steht ist schuldig. Sie können ihn nicht freisprechen.

    Verzweifelt blickte ich von Gesicht zu Gesicht der versammelten Richter. Sie lächelten alle freundlich, doch ihr Herz schien aus Stein zu sein. Sie mussten erkannt haben, dass ich die Wahrheit sprach und Dracreos Bruch der Regeln Eldorons mein Leben gerettet hatte. Wenn jemand schuldig war, dann ich. Doch er war der Angeklagte und er würde verurteilt werden. Langsam, wie erstarrt sank ich auf meinen Platz zurück.

    Als ich mich erneut dem Tor zu Eldoron näherte, nickten mir die Wächter bereits zu, als ich noch einige Meter entfernt war. Sie lächelten ihr stummes Lächeln, als sie mich passieren ließen. Ihr Blick schien zu sagen:

    Wir wussten, dass Sie schon so bald wieder kehren würden, Lady Alienna. Wer einmal hier angekommen ist, der braucht nichts anderes mehr um glücklich zu sein... der muss hier sein, um glücklich sein zu können. Willkommen zurück. Dies ist Ihr zu Hause.

    Ihr übrheblicher, wissender Blick ärgerte mich. Entschlossen ignorierte ich sie und trat über die Schwelle. Es fiel mir wesentlich leichter als beim letzten Mal. Jetzt war ich bereit den letzten Schritt zu tun. Erleichtert atmete ich auf. Eldoron. Und ich war wieder Ich. Mit dem Namen, den ich mir gegeben hatte: Alienna. Ich fühlte mich gut, erholt und… Es fiehl mir nicht ein, bis ich feststellte, wo ich war. Neben mir stand die Kriegerfrau, sah mich prüfend an und ließ dann mein Handgelenk los. Wir standen vor einem Fenster, das den Blick auf eine idyllische hügelige Graslandschaft freigab. Als die fremde Frau sich vom Fenster abwandte, folgte ich ihrem Beispiel. Der Raum in dem wir uns befanden war so weitläufig wie eine Halle. Alles war reich, nein, vielmehr überreich verziert. Der üppige Prunk faszinierte mich, doch je länger ich hinsah und mich hierhin und dorthin wandte, desto drückender wirkte die Räumlichkeit.

    „Sie wundern sich, wo Sie sind, stellte mein Gegenüber fest, ohne eine Bestätigung zu erwarten. „Gefällt Ihnen dieser Ort?, fragte die Frau nüchtern und blickte mir gleichgültig, aber zumindest offen und direkt in die Augen. Unsicher verlagerte ich mein Gewicht. Was erwartete sie von mir zu hören?

    „Sie suchen nach der Antwort, die ich erwarten könnte, bemerkte die Kriegerfrau ohne ihren durchdringenden Blick nur eine Sekunde von mir zu nehmen. „Sagen Sie mir einfach, was sie fühlen.

    Irritiert ließ ich noch einaml den Blick schweifen. Möglicherweise lag es an der Weite der Halle, dass ich plötzlich zu frieren begonnen hatte.

    „Ich habe das Gefühl, betrogen worden zu sein. Als wäre alles schön, aber nicht echt", gab ich nach einer Weile zurück. Die Kriegerin nickte, fasste mich erneut am Handgelenk und führte mich auf einen langen Gang, an dessen Ende wir linker Hand in ein kleines Zimmer abbogen. Bis auf einen Schreibtisch, ein schmales Bett und eine Kommode war es leer und schmucklos. Nur ein Handspiegel mit einem schlicht gearbeiteten Goldrahmen lag auf dem Tisch.

    „Willkommen in meinem Reich, lud die fremde Frau mit einer ausladenden Geste ein. „Fast jeder der die große Halle sieht, fühlt sich mächtig und erhaben. Es sind diejenigen, die in diese Welt gekommen sind, weil sie sich nach diesen Gefühlen sehnen. Aber sie sehen nicht, dass diese Gefühle auch hier in Eldoron nur eine Lüge sind. Ich hatte einstmals ein reich ausgestattetes volles Zimmer. Angehäuft mit Fundsachen, mit Dingen die ich mir eintauscht hatte und mir wertvoll oder auf irgendeine Weise besonders erschienen waren. Irgendwann gab ich alles weg. Zu lange bin auch ich dem schönen Schein gefolgt und wurde von Tag zu Tag unglücklicher, obwohl ich mehr und mehr hatte. Ich blickte oft in diesen Spielel dort, aber eines Tages erkannte ich mich darin nicht mehr. Das war der Tag, an dem ich wusste, dass ich etwas ändern muss: mich selbst Sehen Sie ruhig in den Spiegel, vielleicht erkennen auch Sie darin wer Sie sind, nicht wer Sie sein wollen.

    Panisch wich ich zurück. Ich war fast schon überzeugt, aus dem Augenwinkel, ein lachendes Clownsgesicht darin gesehen zu haben. Einen mich auslachenden Clown. Doch obwohl ich wusste, dass diese Täuschung keinen Anspruch auf Wahrheit hatte, zögerte. Als ich meine unbegründete Furcht schließlich mit genügend Argumenten der Logik niedergerungen hatte, wagte ich einen erneuten Blick. Ich sah nichts weiter als eine hübsche Frau, die mir mit fragendem Blick und weit aufgerissenen Augen aus dem matten Glas entgegen starrte. Beinahe hatte ich vergessen zu atmen, so gebannt wartete ich auf eine widernatürliche Veränderung meines Spiegelbildes.

    „Was sehen Sie?, fragte die Kriegerfrau mit merklicher Neugier in der Stimme. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Die Kriegerfrau lehnte sich wieder zurück, ihre Miene zeigte unverhohlene Enttäuschung. „Sie sind noch nicht bereit, meine Liebe. Gehen Sie, sehen Sie sich um, erleben Sie etwas. Kehren Sie nicht eher wieder, als bis Sie wissen, wer Sie sind.

    Aber, wollte ich protestieren, doch die Kriegerfrau hatte mich unsanft am Arm gefasst und führte mich ohne nach meinem Willen zu fragen nach draußen. Gehen Sie nicht fort!, war ich drauf und dran zu rufen, denn kaum hatte sie mir den Rücken zugekehrt fühlte ich mich verlassen und der Verzweiflung nahe. Ich war alleine in der Fremde. Nahe einer Stadt, die mir fremd war, in einer Welt, die ich noch nicht verstand. Unschlüssig wartete ich vor dem hohen, reich verzierten Portal, bis ich eingesehen hatte, dass niemand kommen würde, um mir das Leben zu erklären.

    Wie dem auch sei, dachte ich, umrundete die Stadtmauer und betrat dann die Stadt durch ein offenes Tor. Unschlüssig wandte mich umständlich mal nach links und mal nach rechts. Ich war umgeben von hohen Prunkbauten. Häuser die viel zu groß und prunkvoll wirkten, um zu rechtfertigen, dass nur eine einfache Familie in ihnen wohne. Müßig zog ich durch die Gassen, konnte jedoch keinen Blick ins Innere der prächtigen Gebäude erhaschen, da alle Scheiben bunt getönt waren und die Türen verschlossen. Warum wollte man nicht gesehen werden, fragte ich mich und machte schließlich an einem leeren Brunnen halt.

    „Sie brauchen hier nicht auf frisches Wasser zu hoffen, Fremde", hörte ich eine Stimme hinter mir sagen. Ein Mann mittleren Alters, mit markanten Narben im Gesicht, war neben mich getreten. Mit verschränkten Armen sah er mich abwägend an.

    „Warum? Was ist mit dem Wasser?", beeilte ich mich zu fragen, bevor ich wieder alleine war.

    „Jeder muss sich sein Wasser selbst verdienen. Als ob es so einfach wäre...! Alle kommen sie in die Stadt und wir müssen zusehen, wie unsere Quellen erschöpfen. Wir haben hier nicht genug für jedermanns Durst. Wenn Sie wegen des Wassers gekommen sind, sollten Sie sich lieber beeilen fortzukommen", fügte er mit unverhohlener Feindseligkeit hinzu. Erstaunt musterte ich den Mann genauer. Auch er war wie ein Krieger gekleidet und von muskulöser Statur.

    „Gegen wen müssen Sie kämpfen?", fragte ich, um vom Streitpunkt Trinkwasser abzulenken. Der Mann lachte bitter und kam mir unangenehm nahe.

    „Dies, junge Frau, ist ein Land in dem man nur an seinen Aufgaben wachsen kann. Sie sind unerfahren und schlecht ausgerüstet, also müssen Sie neu hier sein. Das ist jeder einmal. Eines rate ich Ihnen, wenn Sie hier jemand sein wollen: Sie müssen schnell lernen. Wenn Sie geschickt und klug sind, können Sie es hier weit bringen. Wenn Sie jedoch Angst haben, werden Sie hier als Niemand sterben."

    Eingeschüchtert lehnte ich mich zurück. Der stattliche Krieger füllte fast mein gesamtes Gesichtsfeld aus und zusätzlich mit dem Brunnen in meinem Rücken fühlte ich mich durchaus bedroht. Unmerklich tastete meine Hand nach der Waffe an meiner Seite. Doch dem Krieger schien die unauffällige Bewegung nicht entgangen zu sein. Eine starke Hand legte sich auf meine. „Alles und jeder kann eine Bedrohung sein. Vertrauen Sie nicht leichtfertig."

    Dann entspannte der Mann sich wieder ohne jedoch einen Millimeter von mir zurück zu treten. „Ich biete Ihnen Schutz an, fremde Frau, solange bis Sie gelernt haben hier zu leben. Sie können in meinem Steinkeller wohnen, Sie werden von mir mit Quellwasser und mit ausreichend Nahrung versorgt werde. Als Gegenleistung werden Sie alles tun, was ich von Ihnen verlange."

    Wieder diese Panik in mir, alles drehte sich. Nicht... nein... nicht jetzt diese Schwäche... sie überfiel mich ohne dass ich eine Chance hätte dagegen anzukommen. Mein Blickfeld verengte sich. Was sollte ich antworten? Er wollte Gegenleistungen, körperliche Dienste eingeschlossen, vermutete ich. Was hatte ich erwartet? Elektrizität, fließendes Wasser und Menschen, die keine Bedürfnisse hatten? Eigentlich hatte ich nicht so weit gedacht, mir überhaupt vorzustellen, auf welche Zivilisation ich hier stoßen würde. Es spielte auch keine Rolle, wenn ich ein Teil von ihr werden durfte und frei war.

    Ich könnte weit kommen... wenn ich lernte zu leben. Wie lebte man? Ja, wie lebte man, wie, wie, wie...

    Vom Siegen und Verlieren

    Das Urteil war so hart ausgefallen, wie es nur hätte ausfallen können. Auch wenn noch kein Urteil ausgesprochen worden war, so stand die Strafe des Angeklagten doch längst schon fest. Jeder Strafe hatte er im Vorfeld zugestimmt und so würde er auch die schwerste Strafe auferlegt bekommen, dessen war ich mir sicher. Eigentlich hätte ich genauso zufrieden sein sollen wie mein Anwalt, der mir seine große Hand jubilierend auf die Schulter gelegt hatte. Stattdessen fühlte ich mich, als wäre ich anstelle des Angeklagten von der Strafe getroffen worden. Bis jetzt hatte ich tatenlos dem ganzen Treiben zugesehen und alles über mich ergehen lassen, ohne teilhaben zu wollen. Hatte ich wirklich angenommen, aus alldem unbeschadet hervorzugehen? In Wahrheit musste ich mir eingestehen, nie ernsthaft über diese Frage nachgedacht zu haben, denn wer sollte in einer Welt ohne Gesetze fürchten, gerichtet zu werden? Und doch: es gab eine einzige Regel in dieser Welt, in der sich niemand darum scherte, wer starb, wer einfach niedergeschossen wurde, wer die Herrschaft an sich riss. Man durfte niemals den wahren Namen eines anderen laut nennen. Ganz gleich ob mit oder ohne dessen Erlaubnis. Ausgerechnet diese eine Regel war gebrochen worden. Dracero. Er hatte mich bei meinem wahren Namen genannt.

    Alle erwarteten von mir als Anklägerin, dass ich sprach. Auch wenn ich versuchte mich normal zu verhalten, schien man mir meine Schwäche anzumerken. Die Luft in der Versammlungshalle der

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1