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SunChild: Eine Personenstudie
SunChild: Eine Personenstudie
SunChild: Eine Personenstudie
eBook286 Seiten4 Stunden

SunChild: Eine Personenstudie

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Über dieses E-Book

Der Traum vom ewigen Leben, frei von Krankheit und Leiden, ist nicht ohne Kehrseite: Einer ehrgeizigen Wissenschaftlerin gelingt die Umsetzung dieses Bestrebens, das so alt ist wie die Menschheit selbst. Ihr Erfolg macht sie jedoch nicht nur von einem Tag auf den anderen zur gefragtesten Genetikerin weltweit, er macht sie auch blind für die Folgen ihrer wissenschaftlichen Errungenschaft. Mit der kommerziellen Vermarktung entsprechender Treatments und Produkte, die eine verlängerte Lebenszeit versprechen, beginnt ein Kampf um Leben und Tod. Wem gehört die Zukunft?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Nov. 2018
ISBN9783746997377
SunChild: Eine Personenstudie

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    Buchvorschau

    SunChild - Aliće Weiglein

    Von guten Genen

    München, Mai 2026

    Max war guter Dinge. Er saß auf einem Drehhocker im Labor von dem aus er mit seinen kleinen Füßen noch nicht einmal den Boden berühren konnten und durfte Eis essen. Gerade als er sich nach dem Tischmüll quer über die Laborbank streckte, um den Stiel zu entsorgen, kam seine Mutter gefolgt von einigen Männern zurück. Sie waren etwa in ihrem Alter und trugen dieselben weißen Kittel und beäugten ihn mit demselben kritisch-neugierigen Blick eines Wissenschaftlers. Einer der Männer, der durch seinen imposanten Bart auffiel, beugte sich zu Max herunter und wandte sich dann zu seiner Mutter um. Sie schien alles bereits so erwartet zu haben. Sie war immer bereit. Ihr strenger Blick folgte dem des Mannes aufmerksam und als er das Wort an sie richtete, war es, als hätte sie seine Frage schon im Voraus gewusst und ihre Antwort darauf zurechtgelegt.

    „Dr. Mortens, sagen Sie, hat er denn auch gute Gene?"

    „Die Besten, Dr. Kruskow, die Besten."

    Max wand sich sichtlich unwohl hin und her. Er mochte es nicht, wenn ihm allzu viel Interesse beigemessen wurde. Wenn er wenigstens noch etwas von dem Eis übrighätte.

    „Sagen Sie, ist es wahr? Haben Sie gewisse Optimierungen an ihm vorgenommen?"

    „Das habe ich doch bereits klargestellt. Max ist das Endprodukt meiner langjährigen Forschung. Er ist aus der ersten Generation Mensch, der ein langes, gesundes Leben vorbestimmt ist."

    Die Stimme von Max Mutter war schneidend kalt und sobald sie geendet hatte, kehrte eine unangenehme Stille im Labor ein. Der Stiel des Eises fiel auf den blanken Boden. Bei dem unerwarteten Geräusch zuckten die Wissenschaftler sichtlich zusammen.

    „Ja, meine Herren, fuhr Dr. Mortens unbeirrt fort, „und wir haben die Ehre, den Aufgang dieser überlegenen neuen Generation Mensch zu erleben.

    Dabei berührte ihr durchdringender Blick jeden einzelnen von ihnen, bis er schließlich an Max hängen blieb. Zum ersten Mal seit sie hier waren, lächelte seine Mutter. Dann schob sie die Männer beiseite, hob Max vom Drehhocker und nahm ihn mit festem Griff an der Hand.

    „Dr. Mortens, begann diesmal ein Mann mit Hornbrille. „Sie sollten vorsichtig sein, wenn Sie nächste Woche auf der Konferenz in Rom sprechen. Lassen Sie sich von dem Stolz auf ihre wissenschaftliche Errungenschaft nicht blenden. Sie werden sich damit nicht nur Freunde machen.

    Max sah erwartungsvoll zu seiner Mutter auf. Ihr Lächeln war so plötzlich verschwunden, wie es gekommen war. Wieder reagierte sie, als hätte sie mit genau diesen Worten ihres Gegenübers gerechnet.

    „Dr. Barrons, sagte sie mit auffällig viel Nachsicht in ihrer Stimme, „Ihr Mitgefühl ehrt Sie, ist aber nicht nötig. Ich habe nichts erfunden, was nicht schon da gewesen wäre. Ich habe nur den letzten logischen Schritt getan, zu dem scheinbar noch niemand vor mir bereit war. Es gibt nichts was man mir vorwerfen könnte

    Damit wandte sie den Männern den Rücken zu und zog Max zur Türe.

    Kinder der Sonne

    Frankfurt, Januar 2036

    Robin nahm eine rote Pille aus der Dose, in der er Pillen aller Farben, Formen und Größen mit sich führte. Gegenüber von ihm saß Kristina. Sie hatte sich mit all seinen Angewohnheiten arrangiert. Auch mit den ihr lästigen. Sie hatte gelernt, sie einfach zu übersehen.

    „Wirst du zu mir ziehen?", fragte Kristina zum wiederholten Mal, nachdem er immer noch nicht geantwortet hatte und nur an ihr vorbei in die Ferne starrte.

    „Ich weiß es nicht", sagte er abwesend und nahm einen großen Schluck Rotwein.

    „Warum? Was ist so schwer an der Entscheidung? Wir sind seit vier Jahren zusammen, aber es fühlt sich nicht so an. Wie sollen wir jemals gemeinsam funktionieren, wenn wir es nie ausprobieren?"

    Robin stürzte den Wein hinunter. Sein ausweichendes Verhalten ärgerte Kristina, sie trat fast schon drohend einen Schritt auf ihn zu. Als könnte sie sein Ja erzwingen.

    „Ich funktioniere alleine gut", sagte Robin leise und drehte dabei eine weitere rote Pille zwischen den Fingern. Er nahm selten mehr als eine am Tag. Nur wenn etwas nicht in Ordnung war.

    „Du weißt doch, ein funktionierendes System ändert man nicht."

    „Du willst, dass es so bleibt wie es ist? Aber das kann es nicht ewig… Irgendwann musst du dich entscheiden. Irgendwann bald."

    „Dir ist nicht klar, was du von mir verlangst."

    Sie waren schon so oft an diesem Punkt angelangt und kamen in letzter Zeit immer häufiger dort an. Beide hatten ein merkwürdiges Gefühl dabei, so als rücke der Moment näher, an dem wirklich etwas Wichtiges zu geschehen hatte, weil es sonst nicht mehr weiter ging für sie. Vor diesem Moment hatten sie beide Angst. Heute war etwas anders: Heute war Kristina bereit, die bisherige Schwelle zu überschreiten.

    „Ich möchte ein Kind, Robin."

    Plötzlich blickte Robin ihr direkt in die Augen, etwas, was er sonst oft wohlweißlich vermied. Erschrocken zuckte Kristina zurück. So viel Zorn hatte sie noch nie in seinen Zügen gesehen.

    „Eines von diesen Kindern, die unsterblich sind? Eines von SunChild, ein Kind der Sonne, ein perfektes Kind, das keine Angst mehr vor dem Tod haben muss?"

    Die Schärfe in seiner Stimme machte Kristina Angst. Etwas Lauerndes war in seine dunklen Augen gekrochen, etwas, was sie an ein wildes, unberechenbares Raubtier erinnerte.

    „Es könnte ein ganz gewöhnliches Kind sein. Ohne Veränderungen der Gene, ohne irgendwelche Medikamente. Ganz normal eben…"

    Mit derselben Schärfe in der Stimme fiel er ihr ins Wort: „Dann willst du also ein Kind, das einmal von keiner Krankenkasse aufgenommen werden wird, weil es anfälliger gegen Krankheiten ist? Weil es früher sterben wird als andere und dem System mehr kostet als es nutzt. Das am Ende seines Lebens auch noch schwer krank wird und unnötige Kosten verursacht. Womit sollen wir die Ärzte für so ein Kind bezahlen? Und wenn es älter wird, ja wenn es altert und zusehen muss, wie es selbst nach und nach verfällt, während seine Gleichaltrigen kaum älter werden, wird es dich verfluchen, weil du entschieden hast, es so früh sterben zu lassen. Weil du ihm den Fortschritt vorenthalten hast."

    Unwohl rutschte Kristina auf ihrem Stuhl hin und her.

    „Robin, es gibt noch viele andere, die wie wir denken. Wir könnten eine Community gründen, in der Kinder noch nicht genverändert und unsterblich sind. Unser Kind wäre nicht allein, nicht verschieden von allen anderen…"

    „Sei nicht so naiv, Kristina, entgegnete Robin ohne sie anzusehen. Sein Gesicht lag im Schatten während er sprach. „Du beschreibst ein Leben unter der Sonne, aber sieh nach draußen: es ist dunkel um uns. Wir sollten uns hinlegen und sterben. Überlassen wir der nächsten unsterblichen Generation unsere kalte, dunkle Welt.

    Kristina schwieg betroffen. Robin wartete eine ganze Weile bis er schließlich weiter sprach.

    „Ich frage mich oft, wie lange es die ersten unsterblichen Menschen aushalten, bevor sie ihrem Leben im Wahnsinn selbst ein Ende setzen. Wie lange hält man es auf dieser Welt aus, bis man weiß, dass man um jeden Preis gehen muss? Das frage ich mich oft. Aber das ist eine Frage, auf die die Wissenschaft keine Antwort hat."

    Draußen grölten ein paar Betrunkene. Es war schon spät geworden und ihr Streit hatte noch keinen Ausgang gefunden, der in irgendeiner Weise akzeptabel war, fand Kristina. Bis jetzt waren sie nie auseinander gegangen, bevor sie sich nicht zumindest auf einen Kompromiss geeinigt hatten. Dieser Disput aber war so festgefahren, dass nicht einmal ein Funken einer Lösung zu erwarten war. Kristina wollte um keinen Preis diejenige sein, die das Gespräch beendete. Andererseits wusste sie, wie unsinnig es war, Zeit verstreichen zu lassen und doch kein Wort zu sagen, das etwas an der Lage änderte. Insgeheim erhoffte sie sich ein Entgegenkommen von Robin. Nicht zuletzt deswegen, weil sie sich von ihm mehr als hingehalten fühlte, da er sich nach all den Jahren ihrer Beziehung immer noch erfolgreich dagegen wehrte, ein gemeinsames Leben mit ihr zu beginnen. Manchmal wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie viel zu wenig darüber wusste, was Robin bewegte, welche Meinungen er vertrat, oder was ihn eigentlich ausmachte. Wie sollte sie auch, wenn er sich immer zurückzog? Fast als fürchte er, etwas über sich zu enthüllen, das sie als Schwäche oder Fehler interpretieren könnte. Er machte es, alles in allem, nicht sonderlich leicht für sie.

    Robin schüttelte seine Pillenschachtel, zögerte, steckte sie dann jedoch wieder ein. Er schien ein bisschen durcheinander. Draußen schrie jemand und ein Glas klirrte, dann wurde es wieder still.

    „Wir haben keine Wahl, stellte Robin nüchtern fest. „Entweder dein Kind wird optimiert sein, oder benachteiligt und von der Gesellschaft verachtet. Oder du verzichtest auf dein Kind und überlässt den anderen diesen Kampf.

    „Ich habe nicht heraus gehört, welche Rolle du zu spielen gedenkst", erwiderte Kristina mit einem Kloß im Hals. Robin wählte seine Worte immer mit Bedacht.

    „Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich in diesem Spiel mitzuspielen wünsche, antwortete er wahrheitsgemäß. „Ruf mich nicht an, ich melde mich, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, mit der ich glaube leben zu können.

    „Robin…", bat Kristina, doch er war bereits aufgestanden, hatte mit abwesender Miene seinen Mantel übergeworfen und die Wohnung verlassen.

    Kristina blieb noch eine ganze Weile im Dunklen sitzen. Etwas traf das Fenster, das zur Hauptstraße zeigte, doch die Scheibe hielt stand. Seufzend packte Kristina die nötigsten Sachen zusammen. Am Morgen würde sie zu einer guten Freundin fahren und dort das Wochenende verbringen. Was sie dringend brauchte, war Ruhe und ein aufrichtiger Rat. Dass Robin sich in den nächsten Tagen meldete, war ohnehin unwahrscheinlich. Wenn er eine schwierige Entscheidung zu treffen hatte, ließ er sich gewöhnlich Zeit, um jedes Für und Wider abzuwägen.

    Über Umwege war Robin zu seiner eigenen kleinen Wohnung gelangt. Jeder Schritt fiel im noch schwerer als der vorangegangene, mühsam quälte er sich die Stufen zu seiner Dachwohnung hinauf. Emotionale Auseinandersetzungen machten ihm zu schaffen.

    Obwohl er nichts anderes erwartete, als die beengten, dunklen und ausgekühlten Räumlichkeiten vorzufinden, war er wie so oft enttäuscht. Wie war er je zu dieser mickrigen Bude am Rande des Bahnhofviertels gekommen? Er wusste es nicht mehr. Vielleicht hatte er es auch absichtlich vergessen.

    „Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich heimkommen würdest. Es war sonst nie deine Art, abends lange fort zu bleiben", sagte eine Stimme in der Dunkelheit.

    Robin zuckte zusammen und wich zur Tür zurück. Sekunden verstrichen. Endlich kam er auf den Gedanken, den Lichtschalter zu betätigen. Wenn ihm der Eindringling etwas Böses gewollt hätte, wäre es längst geschehen, versuchte Robin sich zu beruhigen. Auf seinem abgewetzten Drehstuhl saß Mareike. Die Tatsache, dass sie eine Bekannte war und weder ein Einbrecher, Junkie, oder Schlimmeres, beruhigte Robin ungemein. Trotzdem war gerade sie im Grunde die allerletzte Person, die er nach einem Tag wie heute sehen wollte.

    „Robin, ich brauche deinen Rat als Freund und Jurist", fuhr Mareike geschäftsmäßig fort. Sie war eine der Frauen, die immer ihr Ziel erreichte und ohne Umschweife zum Punkt kam. Ihre Zielstrebigkeit und ihr kalter Ehrgeiz waren vermutlich die Grundlagen ihres Erfolges, dachte Robin nicht ohne Bitterkeit.

    „Wie hast du mich hier gefunden? Und wie kommst du in meine Wohnung?", fragte er stockend. Sie hier in seiner beengten, kalten Wohnung zu sehen, erschien ihm wie ein sehr unglaubwürdiger Traum.

    „Ich finde alles, wonach ich suche. Die Türe war nur angelehnt, bekam er zur Antwort. „Ich habe dich um etwas gebeten, fuhr Mareike ungeduldig, fast schon drohend fort.

    „Ja", murmelte Robin. Er hatte ihr gegenüber immer resigniert. Solange bis er geflohen war. Egal was oder wer sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, sie richtete alles zu Grunde, auch wenn sie es meist höchst unabsichtlich tat. Es lag einfach in ihrer Art. Allmählich verstand Robin immer besser, wie sie es geschafft hatte, sich in der umkämpften Welt der Wissenschaft zu halten und sogar über die Maßen erfolgreich zu sein. Blickte man ihr nur in die Augen, sah man Krieg. Auch jetzt lag eine unverhohlene Herausforderung darin.

    „Ich habe ein Angebot von SunChild bekommen. In den letzten Jahren hat der Konzern in Kooperation mit meinem Labor entsprechende Gentherapien entwickelt und in Anwendung gebracht. Wie du sicher weißt, haben sich bereits zahlreiche Eltern für die Erprobung unserer Produkte entschieden und optimierte Kinder zur Welt gebracht. Jetzt möchte mir der Konzern sämtliche Rechte abkaufen. Es geht für mich um sehr viel, wie du dir denken kannst. Das ist der Vertrag, den ich bis Ende nächster Woche unterzeichnen soll. Lies ihn und sag mir, was du davon hältst. Ich traue Johansson zu, dass er versucht mich über den Tisch zu ziehen."

    „Wer ist Johansson?"

    „Der Firmengründer von SunChild."

    Mareike kramte in ihrer Tasche und förderte ein dickes Pamphlet zu Tage.

    Robins Hände hatten begonnen zu zittern und in seinem Körper rumorte der Wein mit den roten Pillen umeinander. Er hätte keine zweite mehr nehmen dürfen. Die Situation erforderte, dass er bei klarem Verstand war. Dabei hatte er sich noch nie schlechter gefühlt.

    „Wie geht es deinem Sohn?", fragte Robin beiläufig, um von sich selbst abzulenken. Er hatte den Jungen nie kennen gelernt und nur beiläufig vor ein paar Jahren davon erfahren, dass Mareike alleinerziehende Mutter war.

    „Er ist ein perfektes Kind", konterte Mareike und ihre Augen funkelten zornig. Sie hasste es, wenn jemand vom Thema abwich.

    Um nicht noch mehr Zorn zu ernten, nahm Robin den Vertrag entgegen, blätterte wahllos darin herum und versuchte die richtigen Worte zu finden, mit denen er Mareike begegnen konnte, ohne sich wie ein geschlagener Hund zu fühlen. Wie damals schon so oft, kam sie ihm jedoch auch diesmal zuvor.

    „Behalte es und arbeite es in Ruhe durch. Wir treffen uns am Sonntag um 15 Uhr im Kaffee Wacker. Zwei Tage sollten dir genügen, schließlich muss ich die Frist von SunChild auch einhalten. Und schlaf dich vorher aus. Du nimmst wieder Pillen, oder? Sie neigte sich leicht vor. „Getrunken hast du auch noch.

    Ihre Miene war missbilligend.

    Es war die erste und einzige persönliche Komponente des Gespräches. Zum Abschied reichte sie ihm geschäftsmäßig die Hand, wie all den unzähligen Wissenschaftlern mit denen sie tagein, tagaus zu tun hatte. Robin war nicht so naiv zu denken, dass er mehr als ein billiges Hilfsmittel auf dem Siegeszug ihres Erfolges war. Ihn hatte sie schon vor vielen Jahren zurückgelassen.

    Weisheiten

    Bamberg, Januar 2036

    Kristina hatte ausgiebig geschlafen. Bei Leonie zu Hause fühlte sie sich bedeutend geborgener als in ihrer eigenen Wohnung in Frankfurt. Hier war es gemütlich und sicher. Das Rauschen des Flusses direkt vor dem Haus hatte sie von jeher als beruhigend empfunden. Unbewegt saß sie vor der Fensterfront des Wohnzimmers und sah dem Hausboot zu, wie das Wasser es sanft auf und ab wiegte.

    „Du solltest uns im Sommer besuchen, wenn Sandkerwa ist."

    Leonie war zu ihr getreten und reichte ihr eine Tasse Tee.

    „Das ist mir zu viel Trubel", wehrte Kristina ab und nahm mit einem schwachen Lächeln den Teller mit Kuchen an, den ihre langjährige Freundin extra für ihren Besuch gebacken hatte.

    „Wo ist Stefan?", fragte sie stattdessen.

    Leonie zögerte kurz, dann erwiderte sie: „Seine Mutter liegt im Krankenhaus und wird von Tag zu Tag schwächer. Seit Stefans Vater tot ist, hat sie keinen Lebenswillen mehr. Auch wenn er sie täglich besucht, es ist vergebens. Sie will sterben und deswegen stirbt sie."

    Beide schwiegen. Kinderstimmen drangen vom Flur herein. Kristina versuchte einen Blick auf Nina zu werfen, die für sie wie die Tochter war, die sie selbst gerne hätte.

    „Warum ist sie nicht…?", fragte Kristina verwundert und dachte daran zurück wie oft sie selbst am Krankenbett ihres Vaters gestanden hatte.

    Es war Leonie sichtlich unwohl darüber zu sprechen. Immer wenn ihr etwas unwohl war, fuhr sie sich ungestüm mit den Händen durch die feinsäuberlich gedrehten Locken.

    „Wir sind übereingekommen, dass unsere Kinder so wenig wie möglich mit dem Tod in Berührung kommen sollen. Da sie… normal sterblich sind wie wir, werden sie früh genug davon erfahren."

    „Das ist unehrlich, fiel Kristina ihr ins Wort. „An der Stelle deiner Kinder würde ich alles wissen wollen.

    „Verstehst du das nicht, Kristina? Ich könnte es nicht ertragen, wenn mich meine eigenen Kinder dafür verantwortlich machen, dass ich mich dafür entschieden habe, dass sie eines Tages sterben müssen wie ihre Großeltern. Obwohl es für sie einen anderen Weg gegeben hätte."

    Kristina nippte an ihrem Tee und versuchte sich zu beruhigen.

    „Du redest schon wie Robin", sagte sie schließlich.

    „Das ist das erste Mal, dass du ihn erwähnst, seitdem du da bist. Was ist mit ihm? Was ist los mit euch beiden?"

    Nina war mit ein paar Mädchen ins Wohnzimmer gekommen und schnitt für sich und die anderen großzügige Stücke vom Kuchen ab, dann verschwanden sie so schnell wie sie erschienen waren.

    „Sind sie auch alle…?", erkundigte sich Kristina und Leonie nickte.

    „Ich lasse sie nur mit Gleichaltrigen spielen, die nicht genetisch optimiert sind. Es gibt immer weniger Eltern, die sich für natürliche Kinder entscheiden, aber noch gibt es sie."

    Kristina stellte die Teetasse ab und seufzte.

    „Genau das ist das Problem mit Robin. Er will sein Kind nicht dem Fortschritt opfern, aber genauso wenig will er die Verantwortung dafür tragen, es von der neusten medizinischen Errungenschaft ausgeschlossen zu haben. Lieber verzichtet er auf ein Kind und auf eine Zukunft mit mir."

    „Dann will er lieber all diesen unsterblichen Kindern die Zukunft überlassen? Was, wenn sie es nicht mal sind: unsterblich? Wir können gar nicht wissen, ob sie es wirklich sind. Es heißt, ihre Lebensspanne sei beträchtlich länger und der Alterungsprozess würde sehr lange aufgehalten werden. Aber das wurde bisher nur am Tiermodell gezeigt. Diese Technik wurde viel zu schnell vermarktet. Ich dachte, da gibt es strenge Auflagen. Stattdessen wurde sie quasi sofort eingesetzt."

    „Ja, es ging alles erstaunlich schnell, pflichtete Kristina ihr nachdenklich bei. „Wahrscheinlich ist der Drang nach einem langen Leben, ohne Krankheiten, ohne Altern, so übermächtig, dass jedes Risiko in Kauf genommen wird.

    „Aber was, wenn sich das Verfahren als fehlerhaft erweist? Wenn es beim Menschen nicht die gewünschte Wirkung zeigt? Dann haben du und Robin alles umsonst aufgegeben."

    Kristina seufzte traurig.

    „Es liegt nicht mehr in meiner Hand. Robin hat sich bereits entschieden. Und ich werde warten müssen, bis er mich seine Entscheidung wissen lässt."

    „Wir könnten ihn immer noch beeinflussen, entgegnete Leonie. „Warum stellst du ihm nicht unsere Familie vor? Wir könnten uns für nächstes Wochenende in deiner Wohnung in Frankfurt zum Abendessen verabreden. Zufällig werden auch unsere Kinder dabei sein und wir werden ganz beiläufig davon erzählen, was sie für ein schönes Leben haben, ohne optimiert zu sein.

    „Es wird nichts nutzen. Ich kenne Robin zu gut."

    „Lass es uns versuchen", beharrte Leonie.

    In dem Moment kamen die Kinder vom Spielen zurück. Während Leonie vollauf beschäftigt war, nutzte Kristina die Gelegenheit, um alleine ein paar Meter durch die Stadt zu gehen. Auf den Straßen war wenig los, die Kneipen dagegen waren zum Bersten voll mit durstigen Gästen. Irgendwann erlag auch Kristina dem kalten Wind und zwängte sich in eine der Kneipen, deren Luft Schweiß- und Rauchbiergeschwängert war. Kristina fand die Bemerkung eines jungen Mannes auf Junggesellenfeier, dass Rauchbier der beste Beweis sei, dass nicht alles, was nach Bacon schmeckt, gut ist, äußerst treffend. Trotzdem bestellte sie ein Schlenkerla. Vielleicht aber auch nur, weil ihr heute alles egal war. Man belächelte Kristina, als sie eine der ausliegenden Zeitungen aufschlug, aber auch das war ihr egal. Sie fühlte sich alt unter all den jungen Leuten. Ihre Stimmung wurde nicht besser, als sie einen Artikel über SunChild fand, in dem die Entwicklung und Vermarktung neuer Produkte angekündigt wurde, sobald die Wissenschaftlerin Dr. Mortens ihr geistiges Eigentum an den Konzern verkauft habe. Und dies sei nur eine Frage der Zeit.

    Wohl eher des Preises, vermutete Kristina und legte die Zeitung wütend weg. Ihr Herz pochte viel zu laut. Mit einem Zug trank sie das übrige Bier aus und ließ sich vom kalten Wind draußen durch die leeren Straßen treiben.

    Vor einem Esoterik-Laden blieb sie erstaunt stehen. Ein Aborigine saß vor dem Schaufenster, eingehüllt in bunte Decken, und malte auf einem Zeichenblock. Kristina war so verwirrt von dem Anblick, dass sie gedankenverloren fragte: „Was tun Sie hier?"

    Der Aborigine blickte auf und runzelte die Stirn, dann fuhr er fort seine Muster zu tupfen.

    „Why are you here?, wiederholte Kristina und erhielt diesmal eine Antwort: „Why, we are all visitors to this time and place. We are just passing through. Our purpose here is to observe, to learn, to grow and to love. Then we return home.

    Er drückte ihr eines seiner fertigen Bilder in die Hand. Reflexartig griff Kristina nach ihrem Geldbeutel und steckte ihm einige Münzen zu. Der Aborigine malte weiter, als wäre sie längst fort.

    Der lange Weg

    Frankfurt, Februar 2036

    „Warum warst du nicht im Café? Wir hatten eine Verabredung."

    Robin kannte diese Tonlage zu gut. Es irritierte Mareike aufs äußerste, wenn Abmachungen mit ihr nicht eingehalten wurden und ihr präzise ausgeklügelter Zeitplan am Ende nicht aufging. Früher hatte er versucht, sich ihren Plänen unterzuordnen, aber irgendwann war ihm dieser Platz zu eng geworden, um

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