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Die Bewahrer
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eBook466 Seiten5 Stunden

Die Bewahrer

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Über dieses E-Book

Die Vernichtung des Hexers hat von Tom einen hohen Preis gefordert. Erst nach knapp zwei Jahren kommt sein Leben langsam wieder ins Lot. Neuer Wohnort, neue Schule, neue Freunde - Neubeginn. Aber so leicht lassen sich die Schatten der Vergangenheit nicht vertreiben. Der Fund eines uralten Artefakts stellt Tom und seine neuen Freunde vor Probleme, die sich nur mit Magie lösen lassen. Ein mächtiger Industrie-Boss ist ebenfalls hinter dem Artefakt her, was das Ganze erst recht verkompliziert. Zu allem Überfluss scheint auch die Geschichte des fernen Landes Astánia mit dem Artefakt zusammenzuhängen. Wie sollen Tom und seine Freunde der Machtgier des Industriellen Einhalt gebieten?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Mai 2017
ISBN9783946200093
Die Bewahrer

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    Buchvorschau

    Die Bewahrer - Bernd Munding

    Bewahrer

    Prolog

    Tom setzte sich an seinen Schreibtisch, stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte und ließ sein Gesicht in die Handflächen sinken.

    In Gedanken ließ er die vergangenen Ereignisse noch einmal an sich vorüberziehen. All die Bilder des Schreckens, der Zerstörung - nichts davon berührte ihn mehr. Das Einzige, was davon zählte, war, dass Cindy nicht mehr am Leben war. Das Mädchen, das eine Vampirin gewesen war, das wieder menschlich wurde und - das seine erste Freundin war. Sicher, es gab zuvor schon Mädchen und Frauen, die er toll fand, und es war auch nicht gerade häufig, dass ein Junge mit 16 Jahren noch nie eine feste Freundin hatte, aber so war es nun mal gewesen. Es war, als hätte er immer nur auf sie gewartet. Cindy war alles, was er je erhofft hatte.

    Tom seufzte tief und musste mehrmals blinzeln, als er daran dachte, dass er seine Cindy nie mehr in den Armen halten würde.

    Seine große Liebe...

    Immer wieder fielen ihm Momente ein, wunderbare Momente, die nur er und sie miteinander geteilt hatten - Zärtlichkeiten, Lachen, Weinen, das Gefühl, in den Augen des Anderen zu versinken und sich mit diesem Gefühl wie mit einer warmen Decke einwickeln zu können. All das würde nicht mehr sein, denn Cindy war nicht mehr da.

    »Ihren schweren Verletzungen erlegen« hatte man ihm im Krankenhaus gesagt. Er wusste, das stimmte nur zum Teil. Es waren Kräfte am Werk gewesen, die die meisten Anderen inzwischen erfolgreich verdrängt hatten. Tom selbst hatte den Kampf zwischen Gut und Böse an vorderster Front gefochten und hatte nur knapp überlebt. Der Hexer - Die Ursache des ganzen Übels - war nun hoffentlich für immer vernichtet.

    Hoffentlich - denn eine zweite Konfrontation mit einem Wesen, das so abgrundtief böse war, dass selbst die schrecklichsten Dämonen entweder in Panik geflohen waren oder mit der Nase im Staub darum gebeten hatten, ihm dienen zu dürfen, würde die Welt nicht mehr überstehen.

    Nicht wenige, die das Grauen mitangesehen hatten, befanden sich nun in geschlossenen Anstalten... Tom rätselte oft darüber, warum er nicht schon längst dazugehörte. Wahrscheinlich waren es nur die Erinnerungen an die schöne Zeit mit Cindy, die ihn davor bewahrten.

    Und doch musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass seine Erinnerung zu bröckeln begann. All die Bilder und Momente, von denen er sich geschworen hatte, er würde sie für immer bewahren, begannen nach nun annähernd zwei Jahren zu verblassen und unscharf zu werden. Und je mehr er sich bemühte, dem entgegenzuwirken, desto schlimmer schien es zu werden.

    Tom hob sein Gesicht aus den Handflächen und wischte sich die Tränen von den Wangen.

    »Zwei Jahre«, dachte er, »Cindy, es sind noch nicht mal zwei Jahre... Und obwohl ich dich noch immer liebe, kann ich nicht verhindern, dass ich anfange zu vergessen. Ich will dich nie vergessen, Cindy.«

    Er betrachtete das Bild von Cindy vor sich - ein Schnappschuss von einer Party, überbelichtet, unscharf, verwackelt - aber es war das einzige Bild, das er hatte.

    »Wie dieses Foto ist meine Erinnerung an dich inzwischen« sagte Tom und versprach mit einem gequälten Lächeln: »Aber ich werde nicht aufhören, mich zu bemühen.«

    An seiner Zimmertür klopfte es.

    »Tom, mit wem redest Du?« fragte seine Mutter, als sie das Zimmer betrat.

    »Ach, nichts. Ich rede mit mir selbst« sagte Tom und drehte sich zu ihr um.

    Toms Mutter sah in seine Augen und lächelte nun ebenso gequält wie ihr Sohn kurz zuvor.

    »Geh ins Bett, Tom, Du musst morgen früh raus« sagte sie, drückte ihn kurz an sich und verließ dann das Zimmer.

    »Wieder Schule«, dachte Tom.

    *

    Shenny setzte sich an ihren Schreibtisch, der fast ein Viertel ihres kleinen Zimmers ausfüllte. Das Bett beanspruchte gleich zwei Viertel und das letzte Viertel gehörte ihrem Wandschrank.

    Vor Shenny, an der Wand, hing über dem Schreibtisch ihr großer Spiegel. Entlang der Ränder des Spiegelrahmens steckten mehrere Kinderbilder von ihr, ein paar Zeitungsausschnitte und ein kleiner Strauß getrockneter Blumen. Diese Umrahmung ließ den eigentlich recht großen Spiegel auf eine Größe schrumpfen, die gerade noch ihr Gesicht zu zeigen vermochte.

    Das wichtigste der Bilder war für Shenny das Portrait ihrer Mutter. Es half ihr, sich immer wieder an die schönen Momente zurückzuerinnern, als sie noch eine funktionierende Familie waren - bevor die Diagnose „Krebs, unheilbar" das Leben ihrer Mutter und damit die ganze Familie zerstörte. Eine zeitlang hatte ihr Vater seiner Frau noch Unterstützung geben können, aber als der Druck für ihn zu groß wurde und er sich aus der Realität zum Alkohol flüchtete, war die Familie keine mehr.

    Und seit ihre Mutter tot war, war noch Schlimmeres geschehen. Shenny schauderte bei dem Gedanken.

    »Ab morgen komm' ich wieder hier 'raus« flüsterte Shenny dem Portrait ihrer Mutter zu. »Schule... Dahin muss er mich gehen lassen, wenn er nicht noch mehr Ärger kriegen will, Mutti. Schlaf gut!« sagte sie, gab dem Bild einen Kuss und steckte es wieder an den Spiegelrahmen.

    Shenny stand vom Schreibtisch auf und verschwand, nachdem der Wecker gestellt war, unter ihrer Bettdecke.

    *

    Christine warf ihre große Reisetasche auf das Bett vor ihr. Ihr eigenes Bett. IHR EIGENES Bett. Sie betrachtete die Wand, die grell Orange gestrichen war - und lächelte. Ihr Vater hatte offensichtlich ihren Wunsch erfüllt. Zwar hatte es eine kurze Diskussion gegeben - »Muss es denn ausgerechnet ein so grelles Orange sein?« - aber Christine hatte sich durchgesetzt.

    Sie hatte nach knapp zwei Jahren in der geschlossenen Psychiatrie einfach keine Lust mehr auf glatte weiße Wände. Nie wieder. Glücklicherweise konnten ihre Eltern das nachvollziehen.

    Christine setzte sich auf ihr Bett, schloss die Augen und atmete tief ein. Es roch etwas muffig, leicht nach frischer Farbe, aber definitiv nicht nach Putz- und Desinfektionsmitteln. Nicht nach Krankenhaus. Nicht nach „Anstalt". Es roch ein wenig nach Zuhause. Obwohl sie gar nicht lange in diesem Zimmer gewohnt hatte. Nach dem Umzug hatte es nicht lange gedauert bis sie.. nun ja.. nicht mehr klar kam...

    Wie grelle Pfeile blitzten die Szenen vor ihrem inneren Auge auf:

    Eine lebendig gewordene Holz-Statue im Keller ihres ehemaligen Elternhauses, und eine lebende Leiche, die ihr dort aufgelauert hatte. Beide hatten ihr nach dem Leben getrachtet. Christines Kerze, die sie letztlich vor den beiden Abnormitäten gerettet hatte, war allerdings auch dafür verantwortlich gewesen, dass ihr damaliges Elternhaus niederbrannte... Wahrscheinlich wäre der Brand zu löschen gewesen, aber in dem allgemeinen Chaos zu jener Zeit war die Feuerwehr einfach überfordert gewesen.

    Letztlich konnte Christine zur Polizei flüchten, von wo aus Christines Eltern benachrichtigt wurden. Die wollten sich eigentlich im Urlaub erholen und mussten dann feststellen, dass nicht nur ihr Haus niedergebrannt, sondern auch ihre Tochter schwer traumatisiert war. Wenn nicht auch die Medien darüber berichtet hätten, wäre die Geschichte, die Christine erzählte, völlig unglaublich gewesen... Im gesamten Schwarzwald waren merkwürdige, grauenvolle, unnatürliche Dinge geschehen.

    Mit dem wenigen, was sie und ihre Eltern noch hatten, waren sie in das Haus von Christines Oma mütterlicherseits gezogen. Nach Neuffen. Allerdings kam Christine nicht mehr klar. Nachts plagten sie Alpträume, tagsüber Panikattacken. Sie konnte nicht mal aufs Klo gehen, ohne Herzrasen zu bekommen. Wenn jemand unversehens das Licht ausschaltete, hatte Christine das Gefühl, sie müsste schreiend die Wände hochgehen. »Wir empfehlen eine Therapie in der geschlossenen Psychiatrie« lautete das Fazit der psychologischen Gemeinschaftspraxis.

    Christine öffnete die Augen wieder und lächelte nochmals. Sie hatte das Gefühl, nun alles wieder im Griff zu haben. Zumindest sich selbst. Während der Therapie hatten die Alpträume und Panikattacken abgenommen und ihr Selbstvertrauen zugenommen. Ihr Körper allerdings auch. 18 Kilogramm mehr brachte sie nun auf die Waage. Vor der Therapie war sie relativ schlank gewesen - kein Hungerhaken, eher mit sportlicher Figur. Nun war sie in jeder Hinsicht „runder". Sie stand auf, stellte sich vor den großen Spiegel in ihrem Zimmer und betrachtete sich.

    Eine hübsche, etwas rundliche 19-jährige Blondine blickte aus dem Spiegel zurück. Damit konnte sie gut leben. Dann waren es eben ein paar Rundungen mehr.

    An ihrer Zimmertür klopfte es.

    »Christine?« hörte sie ihre Mutter fragen.

    »Ja, komm' doch rein« antwortete Christine. Ihre Mutter trat ein und sah sie vor dem Spiegel stehen.

    »Alles okay?« fragte ihre Mutter.

    »Ja, ich glaube schon. Auch wenn mir meine alten Hosen wohl nicht mehr passen« sagte Christine und drehte sich ins Profil. »Mit der Model-Karriere wird's eben nix mehr«, spaßte sie, »aber das macht nix. Ich freu' mich jetzt erst mal auf die Schule.«

    »Warte, warte, ich hole Deinen Vater - Du freust Dich auf die Schule?!« rief ihre Mutter und schmunzelte.

    »Das hättest Du früher nie gesagt.«

    »Ach weißt Du, Mami, das ist nach der langen Zeit einfach ein bisschen Normalität. Und deshalb freue ich mich drauf« sagte Christine.

    »Du weißt aber schon, dass Du da die „Klassen-Oma" sein wirst - Du hast ja zwei Jahre quasi pausiert...«

    »Ich werde klarkommen, da bin ich mir ganz sicher« entgegnete Christine selbstbewusst. Christines Mutter legte die Arme um ihre Tochter und drückte sie.

    »Mein tapferes Mädchen. Es ist schön, dass du jetzt wieder da bist« sagte sie, drückte Christine nochmals und verließ dann das Zimmer.

    »Ich freu' mich auf die Schule. Sowas Verrücktes« murmelte Christine und musste schmunzeln, als sie die Aussage in Verbindung mit ihrer aktuellen Situation brachte. Gerade erst zurück aus dem Irrenhaus und schon wieder verrückte Gedanken. Ein echter Brüller.

    *

    Firmenzentrale InterArc, Berlin:

    Antoine Poirot betrat aufgeregt den Fahrstuhl zur Vorstandsetage. Es kam nicht oft vor, dass man die Gelegenheit bekam, gute Neuigkeiten direkt beim obersten Chef abzuliefern. Aeon Winter.

    Vorstandsvorsitzender von InterArc. Um ihn rankten sich firmenintern mehr Sagen als um Bill Gates. Es fiel Poirot schwer, seine Nervosität unter Kontrolle zu halten. Nach über fünf Jahren waren sie endlich fündig geworden... Schließlich hatte der Aufzug die Vorstandsetage erreicht.

    Poirot verließ den Fahrstuhl und begab sich zum Vorstandsbüro. Er wusste, dass die Sekretärin Winters Büro wie ein Zerberus bewachte. Wenn er zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, wie nahe dieser Begriff an der Realität lag, wäre seine Nervosität sicher noch um ein vielfaches höher gewesen. So aber stand er mit breitem Lächeln vor der Sekretärin und erklärte kurzerhand: »Ich habe einen Termin bei Mister Winter.«

    Die Sekretärin schaute im elektronischen Kalender nach.

    »Antoine Poirot?« fragte sie kühl.

    »Genau der« antwortete Poirot.

    »Sie haben um sieben Uhr einen Termin bei Mister Winter« erwiderte die Sekretärin.

    »Ja. Eben« erwiderte Poirot ungeduldig.

    »Herr Poirot, ich weise Sie darauf hin, dass es sechs Uhr fünfundfünfzig ist. Bitte nehmen Sie noch kurz Platz« sagte die Sekretärin bestimmt.

    »Was?! Aber ich...« begann Poirot, aber die Sekretärin warf ihm einen Blick zu, der ihm an einem anderen Tag sicherlich schlaflose Nächte bereitet hätte. Aber an diesem Morgen war er einfach zu aufgeregt, als dass der eisige Blick der Sekretärin ihn hätte bremsen können. Er machte sich bestimmten Schrittes auf den Weg zur Tür des Vorstandsbüros.

    »Ich werde keinesfalls zu spät kommen« sagte er schnippisch, als er an der Sekretärin vorbeiging.

    »Nein. Sie werden keinesfalls dieses Büro zu früh betreten« erklärte die Sekretärin und hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest. Er wollte sich losreißen - ohne Erfolg. Der Griff der Sekretärin glich einem Schraubstock. Er startete noch einen zweiten Versuch sich zu befreien. Keine Chance.

    »Hinsetzen« befahl die Sekretärin in frostigem Tonfall, und irgendwie hatte Poirot das Gefühl, dass bei Zuwiderhandlungen gegen diese ruhig gesprochene Anweisung gebrochene Knochen die Folge sein könnten. Artig ließ er sich von der Sekretärin in die entgegengesetzte Richtung drehen und zu einem der Polstersessel im Wartebereich führen.

    Kaum vier Minuten später setzte die Sekretärin ihr schönstes Lächeln auf:

    »Herr Poirot? Mister Winter erwartet sie jetzt« flötete sie.

    »DANKE« erwiderte Poirot eisig und marschierte flinken Schrittes zur Bürotüre.

    Die Tür des Vorstandsbüros war sehr dick, schallgedämmt und bestand genaugenommen aus zwei Türen, die wie eine Luftschleuse das Vorstandszimmer vom Sekretariat trennten. Poirot schloss die erste Türe hinter sich und öffnete die zweite Tür. Dahinter lag das Vorstandsbüro in fast völliger Dunkelheit. Draußen war es zwar schon hell, aber die Jalousien waren fast vollständig geschlossen. Nur einzelne Lichtstreifen beleuchteten das Büro. Da er aus dem hellen Sekretariat kam, konnte Poirot kaum etwas erkennen. Mit Mühe entdeckte er vor der gegenüberliegenden Wand einen massiven Schreibtisch, vor dem ein einzelner Sessel stand. Hinter dem Schreibtisch stand ein sehr hoher Bürosessel, der von ihm abgewandt war. Er konnte nicht erkennen, ob Mister Winter in dem Sessel saß.

    In Ermangelung einer besseren Idee setzte er sich in den Sessel vor dem Schreibtisch. Er saß kaum, da wurde er auch schon angesprochen.

    »Antoine Poirot.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Irritiert sah Poirot sich um, denn die Stimme schien von überall zugleich zu kommen.

    »Sie haben etwas für mich?« fragte Aeon Winter, und plötzlich schien sich die Quelle der Stimme auf den Chefsessel zu fokussieren.

    »Ja Sir, wir haben...« begann Poirot hastig. Dann besann er sich kurz. Solche ungestüme Hektik war unprofessionell. Nach kurzer Pause setzte er erneut an:

    »Mister Winter, wir haben das dritte Artefakt nun endlich gefunden.«

    »Schön. Und wo?« erwiderte Winter, und diesmal schien seine Stimme vom Fenster zu kommen.

    »S-Sankt Helena, die Insel im Südatlantik« erklärte Poirot verwirrt.

    »Auf die Napoleon 1815 verbannt wurde« ergänzte Winter, diesmal offenbar direkt hinter Poirot. Poirot schüttelte mehrmals den Kopf, um seiner Verwirrung Herr zu werden.

    »Ja, Sir. Im Longwood House Napoleons konnten wir in einer geheimen Kammer Unterlagen sicherstellen. Diese Unterlagen umfassen unter anderem eine Karte zum dritten Artefakt« erläuterte Poirot.

    »Und um welches Artefakt handelt es sich?« fragte Winter, diesmal vom Chefsessel her.

    Das war unheimlich. Oder war Poirot einfach so aufgeregt und übermotiviert? Er zwang sich zur Disziplin.

    »Wasser« antwortete er schließlich.

    »Aha. Und wo genau?« wollte Winter wissen. Er schien jetzt neben dem Schreibtisch zu stehen, aber Poirot sah niemanden.

    »District Longwood, in den Wäldern. Die exakte Position finden Sie in den Unterlagen, die ich Ihnen zukommen ließ« erklärte Poirot.

    »Und das vierte Artefakt?« fragte Winter kühl.

    »Das vierte...?« Poirot stutzte.

    »Ja. das vierte Artefakt. Erde.«

    Winters Stimme kam wieder vom Fenster her.

    »Nun, Sir, da sind wir leider noch nicht weitergekommen.«

    Mit einem gewaltigen Ruck wurde Poirots Sessel neunzig Grad nach links gedreht. Durch die plötzliche Drehung wäre er beinahe aus dem Sessel gefallen.

    »Sie wagen es hier aufzukreuzen ohne vollständige Informationen?!« dröhnte die Stimme Aeon Winters drohend durch das Büro, diesmal von überall zugleich. Poirots Nackenhaare stellten sich auf, und sein Fluchtinstinkt hätte ihn am liebsten aus dem Büro getrieben.

    »Raus hier und zurück an die Arbeit.«

    Leise und drohend kam die Stimme nun wieder vom Chefsessel her. Dass die Stimme plötzlich so leise war, machte sie noch drohender als das Donnerwetter zuvor.

    »Wagen sie es nie wieder, meine Zeit zu vergeuden, Poirot!« drohte Winter in einem Tonfall, der die Sekretärin als überaus liebenswürdiges Wesen erscheinen ließ. Eiseskälte herrschte plötzlich im Büro, und Poirot konnte seinen eigenen Atem sehen.

    »Gehen sie. Sofort.« Winters Stimme war nur mehr ein Flüstern.

    Antoine Poirot sprang aus dem Sessel und hastete in Todesangst durch die Bürotür. Er war heilfroh, als er die zweite Tür hinter sich schloss und weiter zum Aufzug hastete.

    »Einen schönen Tag noch, Herr Poirot« flötete die Sekretärin mit wissendem Lächeln.

    »Sankt Helena. Napoleon wusste es also doch, der alte Gauner« dachte Aeon Winter.

    »Es fehlt also nur noch ein Puzzlestück zur Lösung des Rätsels.«

    *

    Erster Schultag

    Ein rasselnder Wecker riss Tom aus dem Schlaf.

    »Tja, dann wird es wohl Zeit, sich wieder an den Schulalltag zu gewöhnen« dachte Tom. Nach den Sommerferien sollte dieser Tag sein erster im Gymnasium der Stadt Neuffen werden. Mit gemischten Gefühlen stand Tom auf und frühstückte.

    »Fast wie am ersten Schultag« dachte er, denn ähnlich gemischte Gefühle begleiteten ihn, als er auf dem Weg zur Schule war. Was für Leute würden wohl in seiner Klasse sein? Obwohl - eigentlich war ihm das egal, solange er nur seine Ruhe hatte.

    *

    »Hoffentlich findet er ein paar neue Freunde in seiner Klasse, die ihm helfen, über die Vergangenheit hinwegzukommen« sagte Toms Mutter zu ihrem Ehemann. Der sah das ähnlich:

    »Es wird ihm guttun, wieder unter Leute zu kommen. Der Privatunterricht der letzten eineinhalb Jahre mag ja qualitativ nicht schlecht gewesen sein, aber Tom war mit seinem Kummer ganz allein - er hat ja keinen an sich heran gelassen. Na ja, vielleicht ändert sich das ja jetzt.«

    »Das wäre echt dringend nötig« erwiderte Toms Mutter und machte ein vielsagendes Gesicht.

    »Gestern Abend?« fragte ihr Mann. Sie nickte.

    »Tom leidet immer noch sehr.«

    »Da können wir wohl nur auf Besserung hoffen« seufzte Toms Vater. »Ich hab ihn übrigens zu dem Kurs angemeldet - du weißt schon, der Selbstverteidigungskurs aus der Anzeige in der Zeitung.«

    »Weiß er das?« fragte die Mutter.

    »Noch nicht« antwortete ihr Mann.

    »Ich bin mir nicht sicher, ob er das gut findet« befürchtete Toms Mutter.

    »Darauf lass ich es ankommen.«

    *

    Tom empfand die erste Schulstunde als äußerst lästig. Er hasste es, vor die versammelte Klasse hinstehen und das »Also Leute, das ist euer neuer Mitschüler Thomas Stark...«-Gerede des Klassenlehrers über sich ergehen lassen zu müssen. Aber wenigstens war er nicht der einzige, den dieses Schicksal traf - im Gegenteil: Die Klasse hatte ganze vier Neuzugänge zu verzeichnen.

    Tom hatte wenigstens das Glück gehabt, der erste in der Reihe der „Neuen zu sein, so dass er jetzt in aller Ruhe den Rest der „Vorstellung betrachten konnte.

    Gleich nach ihm war ein total abgestürzter Typ namens Tobias Weidenberg der Klasse vorgestellt worden. Und obwohl dieser eine total fleckige Jeans und eine speckige, abgewetzte Tarnjacke trug und auch ein mehr oder weniger vorhandener Drei-Tage-Bart ihn nicht gerade vertrauenerweckender machte, erntete Tobias ziemlich schnell anerkennende Blicke, als er sich - nachdem der Lehrer ihn nach vorne gerufen hatte - lässig auf die Kante des Lehrerpultes niederließ und Kaugummi kauend ein breites »Hi!« in die Klasse warf.

    »Schleimer« dachte Tom. Als er selbst vor der Klasse stand, hatte er jede Menge »Ich-weiß-nicht-recht-was-ist-denn-das-für-einer«-Blicke geerntet. Aber es war ihm eigentlich ziemlich egal, was die anderen von ihm dachten.

    Schließlich hatte sich Tobias der Klasse vorgestellt und setzte sich wieder.

    »Nachdem die neuen Herren an der Reihe waren, kommen nun die neuen Damen zum Zug« erklärte der Klassenlehrer.

    »Christine, machst Du den Anfang?« fragte er nach hinten. Tom drehte sich kurz um. Zwei Reihen hinter ihm erhob sich ein dunkelblondes Mädchen, das nicht ganz schlank war und irgendwie.. älter.. aussah. Sie wirkte sehr weiblich, wobei Tom nicht einordnen konnte, ob es an ihren körperlichen Rundungen lag oder an der reiferen Ausstrahlung, die sie umgab. Ein hübsches Gesicht, keine Model-Figur, aber auf jeden Fall interessant... Tom streifte mit seinem Blick Christines Augen und erstarrte kurz. Dunkelblaue Augen, die aber den Eindruck bei ihm erweckten, dass sie schon zu viel gesehen hatten... Er kannte diesen Ausdruck in den Augen - von all jenen, die vor knapp zwei Jahren die grauenvollen Geschehnisse im Schwarzwald mitangesehen hatten. Wie konnte das sein? Auch Christine hatte seinen Blick bemerkt und kniff ganz kurz und fast unmerklich die Augen zusammen. Dann allerdings lächelte sie. Ein freundliches, offenes Lächeln. Tom merkte, wie er rot wurde und drehte sich wieder nach vorne.

    Tom sah Christine an sich vorbeigehen. Auch von hinten machte Christine keine schlechte Figur - kein Vergleich mit Cindy, aber ganz okay. Schulterlanges, dunkelblondes Haar, das hinten im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurde. Ein T-Shirt in einem hellen Blauton, und eine helle Hose aus Leinenstoff, die Christines Figur nicht unvorteilhaft betonte.

    »Ui, ein Moppelchen!« tönte eine Stimme von ganz hinten. Tobias hatte sich zu dem Kommentar genötigt gefühlt. Ein paar Mädchen hinter Tom fingen an zu kichern. Tom verzog das Gesicht. Das war ja wie im Kindergarten.

    Als Christine am Lehrerpult angekommen war, setzte sie sich genauso cool auf die Kante des Lehrerpultes wie zuvor Tobias. Sie lächelte kurz in die Klasse, dann schreckte sie hoch, sah auf das Lehrerpult, dann auf ihren eigenen Hintern und sagte »Ich glaube ich stehe lieber, nicht dass das Pult zusammenbricht...«, was die Klasse vor Lachen brüllen ließ. Auch Tom schmunzelte. Das war mal wirklich ein kreativer Konter auf Tobias' fiese Bemerkung. Diese Christine war wirklich cool drauf.

    Die Erklärung dafür lieferte der Klassenlehrer, als die Klasse sich wieder einigermaßen beruhigt hatte: Christine war schon über 19, und weil sie aus „gesundheitlichen Gründen" eineinhalb Schuljahre verpasst hatte, war sie nun in Toms Klasse gelandet.

    »Dann ist das ja die Moppel-Oma!« brüllte Tobias, was wieder für etliche Lacher sorgte.

    Nicht bei Tom, der fand die Bemerkung kindisch und total daneben. Allerdings musste Tom feststellen, dass Christine mitlachte.

    »Das hätte mich auch gewundert, wenn der Satz nicht gefallen wäre« sagte sie.

    Wie jemand diese doofe Situation so cool nehmen konnte, nötigte Tom doch einigen Respekt ab.

    Als sich Christine wieder auf ihren Platz begab, lächelte sie Tom im Vorübergehen nochmals an, was ihn prompt wieder erröten ließ.

    »Hoffentlich hat das keiner bemerkt« dachte Tom und ärgerte sich darüber, dass dieses Mädchen bei ihm solche Reaktionen auslöste. Aber anscheinend hatte es keiner bemerkt - nicht auszudenken, wenn Tobias das gesehen hätte...

    »Kommen wir nun zum krönenden Abschluss unserer Vorstellungsrunde« erklärte der Klassenlehrer.

    »Shenny, kommst Du bitte nach vorne?«

    »Schenni?! Was ist denn das bitte für ein Name?!« tuschelten die beiden Mädchen hinter Tom und fingen dann heftig an zu kichern.

    »IQ gleich null« dachte Tom kopfschüttelnd.

    Shenny begab sich zum Lehrerpult. Ziemlich hastig ging sie nach vorn, so dass Tom zunächst nur ihre Rückseite zu Gesicht bekam: Shenny hatte langes schwarzes Haar, das hinten ab etwa der Hälfte der Haarlänge durch ein Lederband zu einer Art Zopf zusammengehalten wurde und ihr fast bis zur Taille reichte. Und sie schien ein Stirnband aus Leder zu tragen. Ansonsten trug sie ein weites weißes T-Shirt und eine ziemlich abgewetzte Jeans-Latzhose, die ihr ein gutes Stück zu groß zu sein schien.

    »Damit versteckt sie bestimmt ihren „Schwimmring!« wurde sogleich hinter Tom kommentiert und ausgiebig gekichert. Tom verdrehte die Augen wegen der blödsinnigen Bemerkung. Denn Shenny war derart schlank - fast schon dürr - dass es garantiert keinen „Schwimmring zu verstecken gab.

    Shenny war inzwischen am Lehrerpult angekommen und drehte sich zur Klasse hin.

    »Eine Ausländertussi!!« rief Tobias fast entsetzt aus. Shenny war ziemlich braungebrannt - ein fast bronzefarbener Hauttyp - und Tom fiel bei ihrem Anblick irgendwie gleich Winnetou von Karl May ein. Dazu trug wahrscheinlich auch das geflochtene Stirnband aus Leder bei, das Shenny trug. Da hätte nur noch eine Feder am Hinterkopf gefehlt, dann wäre die Indianerin perfekt gewesen - na ja, nicht ganz: »Eine Indianerin in Jeans-Latzhose ist nicht ganz stilecht« überlegte Tom.

    Shennys Gesicht war... Tom überlegte. »Interessant« fiel ihm dazu ein. Zumindest kein Gesicht, das man spontan als „schön bezeichnen würde. Unter schmalen, schwarzen Augenbrauen leuchteten blaue Augen, die nicht so ganz zum „indianermäßigen Gesamtbild Shennys passen wollten. Die hohen Wangenknochen und die scharf geschnittene Nase hingegen schon, ebenso die vollen Lippen und das akzentuierte Kinn. Figurmäßig war Shenny der völlige Kontrast zu Christine - weibliche Formen totale Fehlanzeige. Das heißt - eigentlich war es nicht zu beurteilen, denn das weite T-Shirt und die zu große Latzhose ließen diesbezüglich kaum Schlussfolgerungen zu. Allerdings war durch die Art, wie Shennys Hose beim Gehen ihre Beine umspielt hatte, für Tom klar, dass Shenny ziemlich viel Platz in ihren Klamotten hatte.

    Shenny rang mit den Händen, während der Klassenlehrer sie vorstellte.

    »Also Leute, das ist eure neue Mitschülerin Shania Twoyoungmen. Gerufen werden möchte sie „Shenny, und sie stammt ursprünglich aus den USA, lebt aber schon lange in Deutschland und - um deine „Bedenken, Tobias, zu zerstreuen - Shenny ist deutsche Staatsbürgerin.«

    Tom fand es interessant, Shenny, die offensichtlich sehr nervös war, zu beobachten.

    »Tja, der Gentleman schweigt und genießt - mir ist es schließlich vorhin genauso ergangen« dachte Tom, während Shenny, deren Blick unsicher im Klassenzimmer umherwanderte, mit ihren Hosentaschen endlich ein Versteck für ihre Hände gefunden hatte. Direkt hinter Tom wurde natürlich prompt über den - zugegebenermaßen etwas ungewöhnlichen - Nachnamen von Shenny gelästert:

    »Ob die wohl zwei Jungs braucht? Two young men!« Die beiden Mädchen kicherten ausgiebig über ihren eigenen Witz.

    Tom fragte sich zum wiederholten Mal in Gedanken, ob dies denn nun schon die Oberstufe oder aber der Kindergarten war... Zumindest die beiden Mädchen hinter ihm hätte er spontan letzterem zugeordnet. Shenny begab sich inzwischen - sichtlich erleichtert - zurück auf ihren Platz.

    »Sooo, und nachdem jetzt sämtliche Formalitäten erledigt sind, fangen wir doch gleich mit dem Stoff an...« sagte der Lehrer, worauf ein allgemeines Aufstöhnen durch die Klasse ging.

    *

    Christine war froh, wieder auf ihrem Platz zu sitzen.

    »Ich hab mich, glaub' ich, ganz gut geschlagen« dachte sie und war doch ein wenig stolz auf die „Vorstellung", die sie hier abgeliefert hatte. So unsicher wie Shenny gerade eben hatte sie keinesfalls wirken wollen. Aber dem Mädchen schien es ohnehin nicht besonders gut zu gehen, das konnte jeder erkennen, der nicht gerade völlig blind war.

    »Oder der ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie du, Christine« dachte sie bei sich. Ein wenig tat ihr die schlanke Indianerin mit dem seltsamen Nachnamen leid.

    Der Neue namens Tobias musste sich wohl unbedingt in den Vordergrund spielen.

    »Auch eine Möglichkeit, die eigene Unsicherheit zu verstecken« dachte sie. Ganz im Gegensatz zu dem anderen Neuen. Wie war nochmal sein Name gewesen? Ach ja, Thomas. Unbeweglich und unlesbar wie ein Fels war er vorhin vor der Klasse gestanden. Kein Anzeichen dafür, dass ihm diese Situation unangenehm war - oder vielleicht war es ihm einfach egal? Aber so gleichgültig konnte doch keiner sein. Es sei denn... Es sei denn er hätte so große eigene Probleme, dass ihn alles darum herum nicht mehr interessierte... Christine dachte an den Blick, den sie vorhin von Thomas aufgefangen hatte. Ganz kurz nur hatte der Junge etwas sehr Altes in seinem Blick gehabt - Leid, Schmerz, irgendetwas, das der normale Achtzehnjährige noch nicht kennt... Das hatte sie nicht uninteressant gefunden. Und sie fand es süß, dass der Neue, der vor der Klasse vollkommen stoisch gewirkt hatte, aufgrund eines Lächelns von ihr knallrot geworden war... Nett irgendwie. Außerdem hatte er einen ziemlich knackigen Hintern. Vielleicht ergab es sich ja, dass sie diesen Thomas mal etwas näher kennenlernen konnte.

    *

    »Der Neue scheint 'ne ziemliche Pappnase zu sein.«

    »Wie hieß er noch? Thomas STARK? Ist der Bodybuilder oder was?!«

    »Ich hätt' Lust das herauszufinden - er sieht nicht so aus.«

    »He du!« sagte einer der beiden Jungs, die links hinter Tom saßen, zu ihm. Tom beachtete sie gar nicht.

    »Ich glaube, der hört schwer. He du, Langer!!«

    Tom bückte sich und holte den Stundenplan heraus um nachzusehen, was für ein Fach als nächstes dran sein sollte. Schließlich sahen die beiden Jungs hinter Tom ein, dass er nicht aus der Ruhe zu bringen war.

    Tom hatte inzwischen festgestellt, dass als nächstes kein Fach, sondern die große Pause angesagt war. Kurz darauf läutete es zum Stundenende, und der Klassenlehrer verließ den Raum. Tom holte einen Apfel aus seiner Schultasche und begann ihn zu verzehren.

    Shenny stand ein gutes Stück rechts hinter Tom und las die Zettel, die an der Pinnwand hingen.

    »Du weißt hoffentlich, dass du eigentlich nicht hierhergehörst« hörte Shenny eine Stimme hinter sich sagen. Shenny fuhr herum. Vor ihr stand Tobias, und zu ihm gesellten sich zwei Jungs und ein Mädchen, deren Haartracht nicht gerade auf Fremden-Freundlichkeit schließen ließ.

    »Genau. So Zeug wie Du sollte da bleiben, wo es herkommt« sagte einer der Jungs.

    »Macht euch nicht lächerlich. Ich bin genauso deutsch wie ihr« erklärte Shenny den vieren.

    »Du bist... Du willst dich doch wohl nicht mit uns vergleichen!?« fragte Tobias herausfordernd.

    »Na, wenn ich euch so anschaue - lieber nicht« antwortete Shenny und verzog das Gesicht.

    »Für 'ne kleine dumme Rothaut hast du 'n ziemlich loses Mundwerk« knurrte Tobias.

    Allmählich richtete sich die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf die fünf Personen, die vor der Pinnwand standen.

    Auch Tom hatte dem Dialog, der sich hinter seinem Rücken abspielte, mit einem Ohr zugehört. Er schmunzelte innerlich darüber, wie frech sich die Neue gegen Tobias zur Wehr setzte. Ganz so unsicher, wie sie vorhin vor der Klasse gewirkt hatte, schien sie doch nicht zu sein.

    »Lieber 'ne kleine dumme Rothaut als ein Neonazi!« sagte Shenny zu Tobias. Dessen Hand zuckte hoch und patschte geräuschvoll an Shennys linke Wange. Mit drohendem Blick und erhobenem Zeigefinger trat Tobias einen Schritt näher zu Shenny hin.

    »Wehe dir, wenn du mich nochmal so nennst« flüsterte Tobias drohend. Shenny, die allmählich doch Angst bekam, drückte sich rückwärts gegen die Pinnwand.

    Das Klatschen der Ohrfeige hatte Toms Aufmerksamkeit stark genug erregt, dass er sich umdrehte und Shenny von den vier Klassenkameraden umringt sah.

    »Ich bin kein Neonazi. Ich kann nur nicht leiden, wenn unser schönes Land von so Ungeziefer wie dir besetzt wird.« In diesem Moment klatschte Shennys flache Hand an Tobias' Wange, denn sie ließ sich nicht vor der ganzen Klasse beschimpfen. Tobias war erschrocken zurückgezuckt, fing sich aber sofort wieder.

    »So, du suchst Streit! Den kannst Du haben - und glaub bloß nicht, dass es mich stört, dass du ein Mädchen bist!« sagte Tobias ganz ruhig. Im nächsten Moment hatte Shenny das Gefühl, als würde an der rechten Seite ihres Gesichtes etwas explodieren. Schmerz zuckte hoch, Shenny verlor kurz das Gleichgewicht und fand sich einen Augenblick später auf dem Boden des Klassenzimmers sitzend wieder. Tobias hatte mit dem Handrücken seiner rechten Faust zugeschlagen und wollte sich nun bücken, um Shenny am Kragen zu packen.

    Da schoss eine Hand von hinten hervor, packte Tobias' ausgestreckten Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken. Ein Schubs mit der zweiten Hand ließ ihn zur hinteren Wand des Klassenzimmers taumeln. Tobias fuhr herum. Zwei Finger hakten sich an Tobias' Unterkiefer ein und zogen ihn nach oben. Der Schmerz trieb Tobias Tränen in die Augen. Verschwommen erkannte er, wer vor ihm stand.

    »Stark?! Verdammt, was soll das? Das geht dich überhaupt nichts an!«

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