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Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten
Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten
Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten
eBook861 Seiten10 Stunden

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten

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Über dieses E-Book

Berkamp wird mit zwei rätselhaften Todesfällen konfrontiert. Herr Marx, ein Mitbewohner, stürzt aus dem achten Stockwerk in den Tod. Wenige Tage später, telefonisch vermittelt durch ihre frühere Studienfreundin Claudia, Berkamps Tochter, bittet eine Frau Dr. Aschauer aus dem Nachbarort Berkamp um Hilfe; wegen dessen Verbindung mit dem K 11 im Polizeipräsi-dium Frankfurt. Denn die Aschauer hat ihre Lebenspartnerin Petra Wernecke weitgehend un-bekleidet, von Unbekannt auf ein Bett gefesselt, tot aufgefunden. In einem für Sex-Spiele aus-gestatteten Kellerraum ihres Wohnhauses. Berkamp und Oberkommissarin Conrad, zwischen denen sich in den vergangenen Monaten eine kollegiale Freundschaft entwickelt hat, beschlie-ßen, dem erkennbar unnatürlichen Tod der Frau nachzugehen; obwohl Hinweise auf äußere Gewalt gegen das Opfer fehlen. Die erste Annahme, dass gehobene Prostitution den Hinter-grund der Tat liefert, erweist sich schnell als falsch.

Zufällig in den Tagen begegnet Berkamp vor seinem Haus der gerade vierzehnjährigen Janina Hoffer. Sie will Herrn Marx besuchen, der ihr regelmäßig Nachhilfeunterricht gibt. Und, so zeigt sich bald, ein besonderes Interesse an Janina hatte. Die Nachricht vom Tod des Lehrers trifft das Mädchen unerwartet hart. Janina verhält sich widersprüchlich; mal leichtsinnig, mal kess, fasst aber Vertrauen zu Berkamp. Er und Vera Conrad entdecken, dass Janina die junge Schwester der toten Petra Wernecke ist. Von daheim war Janina der Umgang mit ihrer unmo-ralischen älteren Schwester strikt untersagt worden. Und Frau Dr. Aschauer hält es für ange-bracht, die junge Schwester der Polizei gegenüber unerwähnt zu lassen. Vera Conrads und Berkamps Nachforschungen führen schließlich fast dreißig Jahre zurück nach Weimar in die Zeit der deutschen Wiedervereinigung.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. März 2018
ISBN9783742746955
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    Buchvorschau

    Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten - Günter Billy Hollenbach

    Samstag, 20. Juli

    Ihre Freundin Sabine hat Mona zu sich nach Frankfurt eingeladen.

    Zeit nur für mich. Eine knappe Stunde Hantelbank in ruhiger Konzentration, anschließend Duschen, ein Pott grüner Tee, dazu Jogurt, Banane und ein knackiger Proteinriegel. Ich mag diese Form der Freizeitgestaltung aus Körperbelastung, Tagträumen und anschließender Belohnung.

    *

    Gießen hat Mona als überwiegend enttäuschend beschrieben.

    Das Studienangebot sagt ihr zwar zu. Doch die Stadt fand sie dröge. Ich dachte, die hätten wenigstens eine historische Altstadt, die etwas hermacht, mit richtig vielen Fachwerkhäusern in winkligen Gassen, hat sie donnerstags beim Abendessen gemuffelt.

    Noch weniger angetan war Mona von den Gegebenheiten in Sachen Wohnen. Eine Stecknadel im Heuhaufen ließe sich leichter finden als eine kleine Wohnung in vertretbarer Nähe zur Universität, von den Wuchermieten gar nicht zu reden. Dafür könnte sie gleich ins Hotel gehen, befindet sie. Das Zimmerangebot in Wohngemeinschaften dürfte sich zwar günstiger gestalten. Aber mit Leuten zusammenleben, die nächtelange Party feiern und sich den Rest der Zeit um das Kloputzen und die Müllbeseitigung streiten?

    „Tut mir leid, dafür bin ich zu alt und zu ordentlich," eröffnet sie mir.

    Wäre ich nicht drauf gekommen.

    Später am Abend tut Mona das Erwartete.

    Sie kommt, bereits bettfein, ins Schlafzimmer. Ich verstaue gerade meine zwei frisch geputzten Pistolen in den Kleintresor. Mona hockt artig auf der Bettkante, bis ich vom Händewaschen zurück bin. Schließlich erkundigt sie sich mit mädchenhaftem Klang in der Stimme. Wenn sie mich ganz lieb bittet, ob ich mich an die Vorstellung gewöhnen könnte, dass sie für einige Semester bei Mahina und mir wohnt. Falls ihre Entscheidung auf ein Studium in Frankfurt fallen sollte. Es ist aber noch alles offen, ehrlich, Berkamp?!

    Ich beiße mir, wie man so sagt, auf die Zunge, um nicht loszulachen.

    Bekräftigung durch Infragestellen zum Schein, obwohl die Sache längst beschlossen ist. Die Verhandlungskünste meines Mona-Herzchens in Aktion. Erwartungsgemäß verziehe ich den Mund, gebe den Nachdenklichen. Mit der gebotenen Verzögerung knie ich nieder, lege die Handflächen zusammen, flehe hörbar unernst:

    „Hochgeborene, zutiefst verehrte Mona, bitte erweise mir die Ehre deiner Anwesenheit für die nächsten hundert Jahre."

    Worauf sie die Nase rümpft, erhobenen Hauptes von der Bettkante aufsteht und über die Schulter erklärt:

    „Sehr wohl! Etwas Anderes habe ich nicht erwartet, Johann!"

    Als ich wieder stehe, fällt sie mir strahlend um die Hals und sagt ein schlichtes „Danke dir, Bear."

    „Endgültig entscheiden wir das, wenn Mahina zurück ist, okay?"

    „Nöh, kommt nicht in Frage," hält Mona selbstsicher dagegen.

    „Sie hat bereits vor ihrer Abreise zugestimmt."

    Phantastisch. Meine Frauen.

    Doch dann schnappt Mona meine Hände, schaut zu Boden und sagt halblaut:

    „Und, Bear, wenn ich wie bisher neben dir schlafe, das hat mit der Entscheidung nichts zu tun, verstanden. Auch wenn es zwischen uns so bleibt, wie es ist. Was den Sex betrifft."

    Sie ist und bleibt ein Schatz, meine Mona.

    *

    Samstags ist Tochter Claudia in Santa Fe besser erreichbar als während der Woche. Beim Spülen meines Teepotts beschließe ich, sie anzurufen. Dank des Zeitunterschieds von acht Stunden ist es in Neu-Mexiko erst kurz nach neun vormittags. Das wenig benutzte Satelliten-Telefon liegt in meinem Schreibtisch.

    Auf dem Weg dorthin klingelt das Festnetztelefon in der Diele. Im Sichtfeld erscheint die für mich nichtssagende Nummer eines Mobiltelefons.

    „Ja, bitte."

    In Erwartung lästiger Telefonwerbung habe ich mir angewöhnt, mich ohne Namensnennung zu melden.

    „Herr Berkamp?! Robert Berkamp?!"

    Eine vor Erregung hell flatternde Frauenstimme.

    „Ja, der bin ich. Mit wem spreche ich? Worum geht ’s?"

    „Bitte! Sie müssen sofort kommen!"

    „Ich muss?, unterbreche ich. „Wer sind Sie?

    „Ja, nein. Es ist etwas Schreckliches passiert. Bitte ...!"

    Mona, hoffentlich ist nichts mit Mona! Wie heute steht mir augenblicklich das Bild ihrer offenen Halsschlagader unter meinen blutnassen Fingern vor Augen. Zugleich pulst mein Herz spürbar stärker. Zudem durchfährt mich ein Funke Zorn auf die Anruferin und ihre Art, mich in Aufruhr zu versetzen.

    Ich unterbreche sie schroff.

    „Halt! Wer sind Sie? Was ist passiert?"

    Die Frau schnüffelt, kämpft wahrscheinlich gegen Tränen, braucht eine halbe Ewigkeit, bis sie antwortet.

    „Sandra, hier ist Sandra. Wir kennen uns ..."

    Ein Glück, nicht Sabine, deren Stimme ich vielleicht nicht sofort erkannt habe. Auch kein Personal einer Polizei- oder Unfallstation.

    „Augenblick, ich fürchte, nein; Sandra wer?"

    Der Name sagt mir im ersten Anlauf nichts.

    „Sandra Aschauer, Doktor Aschauer, Claudias Freundin seit ..."

    „Ist etwas mit Claudia?"

    „Wie? ... Claudia? Nein, wieso? Es ist hier. Bitte, ich flehe Sie an, bitte kommen Sie her, ich weiß mir keinen Rat! Es ist etwas Schlimmes passiert. Ich brauche dringend Hilfe. Und vertraue Ihnen."

    Ich Blödmann hätte das Telefon klingeln lassen sollen.

    „Gut, ich höre."

    Was man eben so sagt.

    Nichts ist gut.

    „Claudia hat mir Mut gemacht, ... Sie zu fragen. Weil ... weil Sie sich mit so etwas auskennen und ..."

    Sie schnieft laut Rotze durch die Nase.

    „Entschuldigung, ich bin ganz durcheinander. ... und weil Sie Verbindungen zur Polizei haben."

    Vor Erleichterung gönne ich mir zwei tiefe Atemzüge, spreche bewusst langsam weiter, um die Frau zu beruhigen. Und als kleine Vergeltung für den Schrecken, den sie mir im Auftakt bereitet hat.

    „Jetzt mal langsam. Ist jemand verletzt, Frau ...?"

    „Aschauer. Schlimmer."

    Oh. Da ist ein Mensch ums Leben gekommen.

    Was sonst bedeutet ihre Antwort.

    „Ein Unfall? Oder sprechen Sie von einer Gewalttat."

    „Ja."

    Ich hole erneut tief Luft. Das „Ja" gilt wohl einer Gewalttat. Damit ruft die Frau ausgerechnet mich an, Claudias Freundin hin oder her. Samstag Nachmittag gegen fünf. Muss ich mir das antun? Dazu eine Autofahrt, wer weiß wie lange? Dann ist der Abend für mich gelaufen.

    „Bitte, Herr Berkamp!"

    „Wo sind Sie?"

    „Ganz in der Nähe, ,Schöne Aussicht’ in Niederhöchstadt, praktisch ihre Nachbarschaft."

    Na ja, das geht. Und Claudias Freundin.

    „Kenne ich, nette Wohngegend. Auf eine Minute mehr oder weniger kommt es jetzt nicht an; sehe ich das richtig, Frau Aschauer?"

    Sie schluckt beinahe grunzend.

    „So gesehen, ja. Bitte, es ist dringend, ehrlich."

    „Also gut. Wenn Sie mir versprechen, niemanden hereinzulassen, nichts anzufassen und mit keinem zu sprechen, komme ich. Wir beraten, was zu tun ist. Sie wissen, ich bin keine Polizei."

    „Eben deshalb brauche ich Sie, bitte Sie zu kommen."

    „Okay, geben Sie mir zehn Minuten. Hausnummer? Also, beruhigen Sie sich. Und unbedingt alles unverändert lassen. Versprochen?"

    „Ich verspreche es. Vielen Dank, wirklich."

    11

    Was halte ich denn davon?

    Eine wildfremde Frau, in höchster Not, ruft mich an.

    Am geruhsamen Samstag Nachmittag. Immerhin überzeugend genug, dass ich „Ja" sage. Das Gespräch kaum beendet, hole ich das Satelliten-Telefon, trete auf den Balkon, drücke Claudias gespeicherte Rufnummer. Nach dem vertrauten, sanften Klack, gefolgt von summendem Rauschen, ertönt das Rufsignal. Als hätte sie darauf gewartet, nimmt Claudia beim zweiten Klingeln ab.

    „Daddy! Schön, Du bist da! Das ist gut. Hat Sandra dich angerufen?"

    „Langsam, Schatz. Erst einmal ,Hallo’; bei dir ist jetzt Vormittag."

    „Lass das, Daddy; es ist dringend und wichtig. Hat sie angerufen?"

    „Eine Frau Aschauer? Ja, eben gerade. Sie meint, ich kenne sie ..."

    „Klar kennt ihr euch, fällt mein „Töchterchen mir ins Wort.

    „Im Studium war Sandra meine beste Freundin, zumindest bis zum Physikum. Dann hat sie umgesattelt auf Psychologie. Sie ist knapp ein Jahr älter als ich, sechsunddreißig. Erinnerst Du dich, bei meiner Hochzeit, wo sie ,Oh Happy Day’ gesungen hat, nicht mehr ganz nüchtern?"

    „Die ist das?! Klar erinnere ich mich daran. Eine hübsche Frau, etwas überdreht, damals."

    „Am Schluss waren wir das alle. Du musst Sandra heute mal sehen, traumhaft attraktiv und total cool. Die waren voriges Jahr hier bei uns zu Besuch. Geh hin, dann siehst Du sie."

    Zu Claudias Hochzeit trug die Frau ein eng anliegendes, hellbeigefarbiges Kleid und führte eine etwas schrille, gleichwohl laut bejubelte Abwandlung von Marilyn Monroes Geburtstagslied für den amerikanischen Präsidenten Kennedy im Madison Square Garden auf.

    „Hat sie dir gesagt, was passiert ist?"

    „Nein, wollte ich auch nicht wissen. Klang jedenfalls nicht gut. Wenn es nicht wichtig wäre, hätte sie mich nicht ..."

    „Ist gut, Claudia-Mädchen. Ich fahre zu ihr."

    „Danke, Du bist ein Schatz. Sieh zu, vielleicht kannst Du ihr helfen. Ich mag Sandra. Aber pass auf dich auf, ... auf dein Herz."

    „Mein Herz?! Wieso das denn?"

    „Sandra ist nicht nur weiblich. Sie ist sehr weiblich."

    „Oh nein! Was meinst Du damit? Hysterisch?"

    „Unsinn, Daddy. Sandra ist in Ordnung. Den Rest kannst Du selbst rausfinden. Wozu hast Du denn deine Spürnase. Viel Spaß wünsche ich dir vorsichtshalber nicht. Also, mach ’s gut, Vater-Herz."

    „Danke, ich tue mein Bestes. Grüß die Kinder und Brandon."

    „Mache ich. Take care. Love you."

    Von wegen. Nichts ist in Ordnung.

    Es wird ein Trip an die Tür zur seelischen Hölle.

    *

    Mich unbedacht an Orte oder in Verabredungen zu begeben, die mir vorab ein ungutes Gefühl erzeugen, vermeide ich wenn immer möglich. Genau so ergeht es mir jetzt mit deutlichem Kribbeln hinter der Stirn und leichtem Druck im Magen. Gewöhnlich begebe ich mich daraufhin in meinem Meditationssitz, atme in Ruhe und frage meine Intuition um Rat. Sie heißt, wie erwähnt, Cassandra, und hat nichts mit dem landläufigen Bauchgefühl zu tun.

    Das Universum scheint davon auszugehen, dass ich diesen Beistand nötig habe. Eines Nachts während der Pubertät erschien sie mir, dichter und eindringlicher als ein Traum. Seither begleitet sie mich mit Rat und Schutz. Sie spricht nur Englisch, was ich mir mit meinem amerikanischen Vater erkläre. Der kam wenige Jahre vor Cassandras erstmaligem Erscheinen über Vietnam zu Tode. Wenn ich sie anrufe, zeigt sie sich meist als zwei strahlend dunkelblaue Augen gut zehn Zentimeter vor meiner Stirn.

    Sie verlangt von mir einfache, klare Fragen und festes Vertrauen. Ihre Antworten erklingen unverzüglich und deutlich in mir, obwohl ich dabei ihre Stimme mehr fühle als höre.

    Klingt verrückt.

    Deswegen spreche ich selten darüber und erwarte nicht, auf gläubige Zustimmung zu stoßen. Selbst wenn Cassandra mich ab und zu auslacht, helfen mir ihre Antworten regelmäßig weiter. Ihre Ankündigungen erweisen sich stets als im Kern zutreffend. So zuverlässig, dass mir auch nach jahrelangem Erleben gelegentlich noch der Atem stockt. Warnungen vor Gefahren teilt sie mir zusätzlich als Bildzeichen mit, die wie in einer unsichtbaren Energiewolke rechts neben meinem Kopf erscheinen. Wenn die Wolke hell leuchtet, wird der nächste Tag erfreulich und wichtige Vorhaben verlaufen erfolgreich. Vor Autofahrten bin ich auf diese Weise wiederholt auf Unfallgefahren, sogar Radarfallen der Polizei hingewiesen worden.

    Corinna hat mich wegen dieser „Gabe" mitunter scherzhaft als durchgeknallt, zumindest beängstigend eigensinnig bezeichnet. Ich dagegen finde mich völlig normal und pflegeleicht. Mahina erklärt mir mindestens einmal pro Woche, welch einen ungeheueren Schatz ich in Cassandra besitze und ermahnt mich, ihn oft und liebevoll in Anspruch zu nehmen.

    Frau Dr. Aschauer will ich nicht lange warten lassen. Also begnüge ich mich mit einer Kurzform der intuitiven Beratung. Ich setze mich an den Schreibtisch, schließe die Augen und atme durch.

    „Cassandra, I need your help."

    Sofort erstrahlen ihre Augen.

    „What do you want?"

    „Is it okay to got to Ms. Aschauer?"

    „Move! You are good to go. It will be tough. Take a gun."

    Sogleich erscheint eine dunkelrote Lichtwolke über meiner rechten Schulter und darin ein großes, schwarzes X. Ein sehr ungewöhnlicher Hinweis, die Bedeutung des schwarzen X unverständlich. Da ich weder vermehrtes Herzklopfen noch Angstgefühle spüre, folgt für mich: Es dürfte hart werden, und sinnvoll sein, eine Kanone mitzunehmen. Doch wirklich Gefährliches steht mir nicht bevor. Kaum überraschend, da die Aschauer von einer toten Person geredet hat.

    Zur Sicherheit frage ich nach.

    „Cassandra, will I stay safe?"

    Ihre Augen nicken ermutigend.

    „Just go, you are good to go." 

    „Thank you, my dear."

    *

    Dank des intuitiven Hinweises ist meine „kriminalistische Grundausstattung" angesagt. Obwohl sie eigentlich zu warm ist bei dem Sommerwetter, hole ich meine schussfeste Bomberjacke aus dem Schrank und lege mein Schulterhalfter an. Entscheide ich mich für die Walther P 99. Aus Kalifornien habe ich zusätzlich eine Heckler-und-Koch USP mitgebracht; beide Waffen amtlich gemeldet. Corinna und ich üben regelmäßig Schießen, nach unserer Trennung sogar häufiger als vorher. Hin und wieder auch mit Mona.

    Was Mütter und Töchter eben gemeinsam tun.

    Die beiden halbautomatischen Pistolen machen jeweils bis zu fünfzehn hässliche, sogar tödliche Neunmillimeter-Löcher. Ganz sicher bin ich kein Waffennarr, schätze inzwischen aber – nicht zuletzt dank professioneller Trainer in San Francisco – den Wert eines guten Umgangs mit diesem Handwerkszeug. Angeregt durch unschöne Lerngelegenheiten, die mir eher unfreiwillig widerfuhren. Mit der P 99 habe ich zwei Menschen „nur" ernsthaft verletzt, beide Male aus der Not des Augenblicks heraus. Mit der USP habe ich einen Selbstmord verübt; planmäßig, muss man wohl sagen. Gemäß amtlicher Feststellung der Polizei. Vor mehreren Wochen.

    Nach mühsamer Suche war es mir gelungen, in einem Haus am Ortsrand von Wächtersbach die vierzigjährige „Rache-Hexe" aufzuspüren, die Mona lebensgefährlich am Hals verletzt hatte.

    Statt aufzugeben erwartete die Frau mich.

    Vor meinen Augen erschoss sie einen wehrlosen Verletzten in seinem Bett. Zufällig sah ich es durch ein Fenster, wurde dabei von ihr entdeckt. Keine halbe Minute später trat sie mir neben dem Haus mit der Pistole in der Hand gegenüber, hob den Arm, erklärte, sie werde auch mich erschießen, begann ruhig bis Drei zu zählen ... und fiel tot um. Bei Eins habe ich abgedrückt. Und es nie bereut. Obwohl sich wenig später herausstellte: Die Frau hatte die auf mich gerichtete Waffe kurz zuvor absichtlich entladen.

    In diesen Dingen bin ich eigen. Jede der beiden Pistolen trägt diese einmalige Erlebnisenergie in sich. Wenn Sie das für einen sonderbaren Aberglauben halten – Ihre Sache. Wie sagen Sie dazu: Meine hellsichtige „Mond-Göttin" hat die beiden Waffen nacheinander in die linke Hand genommen, die Augen geschlossen, und unverzüglich mit bestürzender Genauigkeit in Einzelheiten die Personen und Umstände beschrieben, als damit geschossen wurde. Obwohl sie nicht dabei war und ich mit Mahina über diese Ereignisse nie ausführlich gesprochen habe.

    Also, los. Geld, Waffenschein, Ausweis, Taschenkamera, Satelliten-Telefon und, ... ja, richtig, vier Latex-Handschuhe.

    Unbestreitbar Corinnas gute Erziehung.

    „Wenn Du mir schon ins Handwerk pfuscht, hat sie mir eingeschärft, „dann gefälligst so, dass Du keinen Schaden anrichtest.

    Als ich ein paar Minuten später zum Wagen gehe, weiß ich, wozu die Ausstattung gut ist. Ich fühle mich anders. Besser gerüstet für unerfreuliche Begegnungen, wacher für mögliche Gefährdungen, vorsichtiger beim Betreten ungeschützter Räume. Und umsichtiger in der Annäherung an Orte, an denen Blut geflossen ist.

    12

    Die „Schöne Aussicht". Gärten mit hübschen Ein- und Zweifamilienhäusern säumen die sanft geschwungene, ruhige Straße. Weiter hinten Häuser, die man als Villen bezeichnen kann. Ungefähr seit den 1960-er Jahren bebaut, prägt sattes Grün die Gegend. Links und rechts der schmalen Gehwege stehen hohe Hecken, dichtes Gebüsch und stattliche Bäume, hinter denen viele der Häuser wie versteckt liegen. Auf der Straße und vor den Garagen übertrifft die Zahl der parkenden Geländesportwagen und Oberklasselimousinen die der gewöhnlichen Autos.

    Die Frau, die mich am Straßenrand vor der Einfahrt eines Gartengrundstücks erwartet, muss Dr. Aschauer sein. Ich biege langsam in die fast zwei Meter zurückgesetzte Einfahrt ein, parke halb auf dem Gehweg.

    Mein erster Eindruck von Sandra Aschauer: Verheult.

    Ihre Augenränder sind gerötet, die Wangen wirken eingefallen. Mit der jungen Frau in meiner Erinnerung an Claudias Hochzeit vor etwa zehn Jahren passt das Gesicht nur schwer zusammen.

    Ich nehme mir Zeit beim Aussteigen, betrachte die Örtlichkeit vor mir, während ich um den Vorderwagen gehe. Die hohen Birken und dichten Büsche rechts des Einfahrtsbereichs dürften über die wahre Größe des Grundstücks hinwegtäuschen. Ein gutes Stück zurückgesetzt liegt ein weißes, eingeschossiges Haus, das mir trotz eines flachen, gleichwinkligen Schrägdachs wie ein Bungalow erscheint. An der rechten Seite ragt ein breiter Steinkamin über das mit grauem Schiefer gedeckte Dach hinaus.

    Links und rechts vor der Schnauze meines BMW hocken Hüft hohe Pfosten aus Grünstein; dazwischen versperrt ein verzinktes Gittertor die Zufahrt zu einer zurückgesetzten Garage. Die Eisentür neben dem rechten Torpfosten steht offen. Ein mit Steinplatten ausgelegter Weg führt zu dem breiten Eingang in der Mitte der Vorderseite des Hauses. Den Eingangsbereich bilden drei große, weiße Tür- und Fensterflächen, in jeweils acht kleinere Scheiben geteilt und bis kurz an das Betonfundament hinabreichend. Sie geben dem Gebäude ein klares, harmonisch gestaltetes Aussehen. Der dicht bewachsene Garten und das Haus machen einen gepflegten, wohlhabenden Eindruck.

    *

    Frau Dr. Sandra Aschauer. Trotz ihres verheulten Gesichts steht eine gefällige Erscheinung mit einer selbstbewusste Ausstrahlung vor mir. Ihre Haare, von goldblond bis hellbraun und seitlich links lose gescheitelt, schwingen in sanften Wellen bis hinab auf die Schultern.

    Stimmt, im Näherkommen, wenn du sie dir ausgeruht und zurechtgemacht vorstellst, ist ihr Gesicht sehr hübsch. Eine maßvoll hohe, glatte Stirn, ebenmäßige, braune Augen und Augenbrauen und eine nette, gerade Nase. Beim Sprechen blitzen beneidenswert strahlende und makellose Zähne zwischen ihren Lippen auf. Um den Mund spielt ein entschlossener, fast harten Zug; oft am Ende eines Satzes, wie sich bald zeigt.

    Es gibt weibliche Gesichtsformen, die mir spontan gefallen, mich sozusagen blind anziehen, gleichgültig, welche Persönlichkeit dahinter steckt. Frau Aschauers Gesicht gehört dazu. Sie könnte gut eine ältere Schwester der Sängerin Shakira sein, finde ich. Frisch, offen, patent, das Gegenteil von selbstzufrieden oder behäbig.

    Super weiblich erscheint mir die Frau nicht. Kein wonniger Schmollmund, kein üppiger Busen, keine Hüften, die den Blick auf sich ziehen. Was mir nach Claudias Vorwarnung in meinen dummen Kopf gekommen ist.

    In ihrem kurzärmeligen, schwarzen Pulli und dem mittelbraunen Rock sieht die Aschauer unaufdringlich gut aus. Oder ein wenig besser; auch dank des Rockes. Stimmt, stramme, wohlgeformte Wanden hat sie. Die zweifach um den Hals geschlungene, weiße Perlenkette, die bis in den kurzen V-Ausschnitt ihres anschmiegsamen Pullis reicht, gibt ihrem Auftreten eine Note selbstverständlicher Eleganz. Blickfangend und etwas ungewöhnlich finde ich die große Rolex-Armbanduhr in typisch männlichem Edelstahl an ihrem linken Handgelenk. 

    Ein kurzer, angenehmer Händedruck.

    „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Herr Berkamp. Sie haben sich wenig verändert. Erinnern Sie sich? Claudias Hochzeit?"

    „Offen gestanden, Sie sehen jetzt anders aus, wesentlich besser als damals, falsch, als in meiner Erinnerung."

    Die kleine Schmeichelei kann nicht schaden.

    Frau Aschauer lacht kurz und etwas abwertend.

    „Das finde ich auch. Damals hatte ich einen Bubikopf und hab nicht sorgsam genug auf meine Ernährung geachtet."

    „Stimmt; was eine veränderte Frisur ausmacht. Gut, zur Sache. Frau Aschauer, weshalb ..."

    Sie unterbricht mich mit einem unsicherem Lächeln.

    „Sie dürfen ruhig Sandra zu mir sagen, als Claudias Freundin ..."

    „Danke, lassen Sie uns das am Ende des Tages entscheiden. Damit wir uns gleich richtig verstehen: Ich bin nicht die Polizei, kenne mich aber etwas aus mit kriminalistischer Denkweise. Wie auch immer es jetzt weitergeht, Frau Aschauer; Sie beantworten meine Fragen und tun, was ich sage. Wenn ich das Gefühl habe, dass Sie mir wichtige Dinge verschweigen oder die Unwahrheit sagen, steige ich augenblicklich in mein Auto und fahre weg. Einverstanden?"

    Ganz zufällig spiele ich dabei am linken Bund meiner Lederjacke herum. Das öffnet die Vorderseite weit genug, um ein Stück der schwarzen Pistole in dem dunkelgrauen Halfter unter meinem linken Arm zu zeigen. Der Anblick macht den meisten Leute unaufdringlich klar, dass mit mir nicht zu spaßen ist.

    „Ja, selbstverständlich, einverstanden, Herr Berkamp. Bitte, ich habe nur eine Bedingung; ich erwarte strikte Vertraulichkeit ihrerseits. Das müssen Sie mir versprechen."

    „Was halten Sie davon? Ich betrachte Sie als Coaching-Kundin und versichere Sie meiner Verschwiegenheit. Keine Angst, ich schicke Ihnen keine Honorarrechnung. Erste Frage: Wo waren Sie während der vergangenen drei bis vier Stunden?"

    Sie reißt erschrocken die Augen auf.

    „Was soll das? Denken Sie, dass ich ...?"

    „Eine einfache Frage mit der Bitte um wahrheitsgemäße Antwort."

    Um von Anfang an klarzustellen, wer hier das Sagen hat.

    Sie schüttelt kurz den Kopf, atmet entrüstet aus.

    „Sie sind nicht gerade rücksichtsvoll, befindet sie. „Ich war in Frankfurt Höchst, wenn Sie das beruhigt.

    Ich schaue sie nur ungerührt an.

    „Bei der Firma Habicht, mein BMW-Händler, schiebt sie nach. „Genaugenommen war ich in einem BMW X-1 auf der Autobahn in Richtung Wiesbaden. Ich suche einen neuen Wagen, und wir haben eine ausgedehnte Probefahrt gemacht, der Verkäufer und ich. Bis zum Rastplatz Bad Camberg.

    Frau Aschauers Mimik und Tonfall wirken unerfreut, aber stimmig. Ich halte ihre Antwort für glaubwürdig. Nach einem der ersten Lehrsätze in jedem Kriminalistenhandbuch ist die Person, die ein Gewaltopfer meldet – oder findet –, zum engeren Kreis der Tatverdächtigen zu rechnen. Häufiger als man ahnt, verständigen planvoll handelnde Täter selbst die Polizei in der Hoffnung, betroffen und unverdächtig zu erscheinen. 

    Wir stehen, ein paar Schritte ins Grundstück hinein, neben den Birken. Ich mache keine Anstalten, ins Haus zu gehen.

    „Wohnen Sie in diesem Haus?"

    „Nein, gegenüber; ich wohne in dem Haus da. Sie müssen wissen, ... das alles dürfte für Sie etwas ungewöhnlich erscheinen, aber ..."

    „Sie besitzen einen Schlüssel zu dem Haus hier?"

    „Ja, natürlich. Verstehen Sie, ich muss Ihnen das erklären ..."

    Ich unterbreche sie erneut. Was auch immer mich gleich erwartet, hat Frau Aschauer heftig erschüttert. Das klang in ihrem Anruf vorhin glaubwürdig durch. Doch seitdem ist genug Zeit vergangen, um sich Erklärungen zurechtzulegen. Aussagen, die sie in ein gutes Licht rücken. Oder von ihr ablenken könnten. Falls die Frau in das Geschehen verwickelt ist. Oder falls die Ermittlungen Dinge zutage fördern, die sie in ein schlechtes Licht rücken, auch wenn sie selbst nichts mit dem erschütternden Ereignis zu tun hat.

    Ich will mich eigenen ersten Eindrücken überlassen, unvorbereitete Antworten hören. Zudem soll mein Drittes Auge Gelegenheit haben, sich auf die Person einzuschwingen und krasse Lügen zu spüren. In dem Fall empfinde ich ein kreisendes Kribbeln etwas oberhalb der Mitte meiner Augenbrauen. Ein weitgehend zuverlässiges Signal, dass mir gelegentlich allerdings erst einige Sekunden später bewusst wird, wenn ich in Gedanken woanders bin.

    „Wer sonst noch besitzt einen Schlüssel zu dem Haus?"

    „Frau Kermaz. Das ist unsere Pflegehilfe, auf Deutsch Putzfrau. Sie kommt aber nur montags und donnerstags Vormittag für zwei, drei Stunden. Seit Jahren und ganz sicher zuverlässig. Wollen wir nicht  hinein ...?"

    „Gleich. Wie viele Personen leben in dem Haus?"

    Frau Aschauer schüttelt sich wie einem Schreck getroffen, schluckt gegen aufkommende Tränen an, holt ruckartig Luft.

    „Leben? Eine Person. Petra Wernecke, sechsunddreißig Jahre alt."

    „Dann gehen wir jetzt rein."

    Ohne Schlüssel ist die Tür nicht zu öffnen. Als Frau Aschauer einen von mehreren Schlüsseln an ihrem Schlüsselbund in das Türschloss unter einem breiten Knauf steckt, zittern ihre Hände.

    „Wir müssen die Treppe runter, ... in den Keller, ... das Zimmer unten gleich gegenüber."

    „Okay, Frau Aschauer. Bitte bleiben Sie hinter mir und sagen nichts zu dem, was geschehen ist."

    *

    Im Haus ist es kühl, verglichen mit der warmen Außentemperatur. In dem breiten Eingangsraum riecht es ... sauber, allenfalls eine Spur nach Steinfußboden und Reinigungsmittel aus dem breiten flauschigen, dunkelrot und dunkelblau geblümten Teppich. Durch eine breite Windfangtür zwischen zwei seitlichen Feldern, ebenfalls mit eingelegten, kleineren Glasscheiben, betreten wir den eigentlichen Flur; Marmorfußboden, weitgehend mit Teppichen bedeckt. Links hinter einer Zimmertür führt eine breite, offene Marmortreppe nach unten, ein Stück weiter nach oben. Durch ein schmales, senkrechtes Band aus Glassteinen fällt gedämpftes Licht auf die Stufen.

    „Da, die Treppe runter."

    Im Vorraum am Fuß der Kellertreppe zögert Frau Aschauer. 

    „Warten Sie, ich schalte das Licht ein. Was jetzt kommt ... Sie sollten sich ... das wird Ihnen ungewöhnlich erscheinen, aber ...," erklärt sie mit belegter Stimme.

    Ich streife die Latex-Handschuhe über.

    „Schon gut. Also, machen Sie Licht."

    Ich lasse ihr den Vortritt, atme einmal kräftig durch. Okay, nur wahrnehmen, nicht sprechen, was auch kommt. Und nichts anfassen.

    Frau Aschauer öffnet die Tür gegenüber der Treppe einen Spalt breit, greift halb zur Seite gedreht und mit dem Blick auf mich gerichtet nach einem Lichtschalter rechts hinter der Tür und tritt sogleich zurück in den Vorraum.

    „Ich mag sie nicht noch einmal so sehen," bekennt sie mit feuchten Augen und zitterndem Kinn und macht einen Schritt zur Seite.

    13

    Der Schauer trifft mich, bevor ich etwas sehe. Deutlich spürbar. Noch ehe ich die Tür langsam halb geöffnet habe. Mir ist, als höre ich einen stummen Schrei. Eindringlich flehend. Zugleich berührt etwas Unsichtbares mein Gesicht und meine Brust. Wie ein schmaler Windhauch, ein fühlbarer Druck in der Luft, der mich zu umschließen scheint und an hellgrauen, durchscheinenden Nebel erinnert. Für einen Augenblick lässt mich die Berührungsempfindung an meinen Sinnen zweifeln. Ein Luftzug der stillstehenden Tür kann es nicht gewesen sein. Zugleich fährt mir ein kaltes Zittern in die Knochen.

    Ich weiche unbewusst einen halben Schritt zurück, schließe kurz die Augen, atme tief durch, spanne die Schultern an. Mit dem Jackenärmel drücke ich die Tür vorsichtig ganz auf.

    Ungewöhnlich, hat die Aschauer gewarnt?

    Mir fallen sicher treffendere Wörter ein, wenn ich den Sinn hätte, danach zu suchen. Ich fürchte, ich blinzele mehrmals, um mir des Anblicks bewusst zu werden. Dann fällt es mir schwer, den Blick von ihr zu nehmen.

    Die Frau liegt auf einem etwa Knie hohen, fast quadratischen, mit schwarzem Samt oder Wildleder bezogenen Bett. Ihr schlanker Oberkörper ist verzogenen. Ihre weit ausgespreizten Arme und Beine sind mit festen, schwarzen Lederschlaufen an breiten, dunkelgrauen Nylongurten nahe den Bettkanten gefesselt. Ihre Brüste quellen ungleich aus einem glänzenden, schwarzen Halbschalen-BH. Ansonsten ist die Frau völlig nackt, ihre Schamgegend und das weite Dreieck ihrer Oberschenkel wie dargeboten für jeden, der den Raum betritt.

    In ihrem verzerrten Mund steckt eine tischtennisballgroße, schwarze Gummikugel an einem schmalen Ledergurt, der um den Kopf läuft. Ein Knebel, wie ich ihn im Schaufenster eines Erotik-Ladens in San Francisco gesehen habe.

    Ich muss mehrere Male Luft holen, bevor ich das Zimmer weiter betreten kann. Wie auf Zehenspitzen, bis ich mich innerlich einigermaßen gesammelt habe. Die Raumluft ist warm genug, um sich wenig bekleidet darin aufzuhalten. Dennoch fühle ich mich frösteln. Der Anblick aus kurzer Entfernung vertreibt den Funken erotischer Regung, der mich für einen winzigen Augenblick gepiekst hat.

    Die Augen der Frau, stumpf matthellgrau im mäßigen Schein aus zwei senkrechten Lichtleisten an der Wand links und rechts des Bettes, starren ins Leere. Das Augen-Make-up ist verschmiert, eine schwarze Langhaarperücke seitlich verrutscht. Mehrere Strähnen haben sich schräg über Stirn und linker Wange festgesetzt.

    Als ich neben ihr stehe, zuckt es in meiner linken Hand. Gedankenlos will ich der Frau am Hals den Puls fühlen. Statt dessen lege ich die Rückseite des linken Mittelfingers sacht auf ihren nackten Oberarm. Geringfügig kühler. Bei normaler Raumtemperatur verliert der Körper nach Todeseintritt ungefähr zwei bis drei Grad Wärme innerhalb der ersten zwei Stunden; danach zunehmend mehr. Steht sinngemäß im FBI-Lehrbuch „Death Investigations"; mein erlesenes Fachwissen.

    Sie hat noch gelebt, denke ich, vor vielleicht zwei Stunden.

    Ich spüre ein Welle von Schamgefühl in mir aufsteigen, trete wieder einen Schritt zurück. Welches Recht habe ich, diese fremde Person in ihrer entwürdigenden Aufmachung und Lage zu berühren, zu betrachten wie einen seltsamen Fundgegenstand?!  Eine annehmbare Antwort will mir nicht einfallen. Zu gehen und die Frau einfach so liegen zu lassen schaffe ich ebenfalls nicht.

    Draußen sitzt diese Frau Aschauer.

    Was denkt die eigentlich, was ich tun kann, was sie selbst nicht auch machen könnte? Um Hilfe hat sie mich gebeten. Wo es nichts mehr zu helfen gibt.

    Was außer verlegene Trostworte ...?

    Anteilnahme, wenigstens die zu zeigen kann ich versuchen. Verständnislose Anteilnahme für eine von Claudias Freundinnen, mit der ich seit Jahren nichts zu tun hatte. Zumal der nichts zugestoßen ist, sondern der Toten auf dem Bett vor mir.

    Eine Eingebung löst mich aus meiner Gedankenstarre.

    Ja, das tue ich!

    Hoffnungslos; auch wenn Frau Aschauer ihn genannt hat – der Name der Toten will mir nicht einfallen.

    Bitte gestatten Sie meine Anwesenheit, flüstere ich kaum hörbar in ihre Richtung. Was auch immer Ihnen geschehen ist, es tut mir leid.

    Die nächste Eingebung folgt wie zwangsläufig.

    Ich will in Ihrer Nähe bleiben, fremde Frau, wenn in Kürze die unweigerlich notwendigen Amtshandlungen über Sie hereinbrechen, verspreche ich in Gedanken. Ich werde dazu beitragen, dass Ihnen, fremde Frau, gegen den verstörenden Anblick, ein Rest von Achtung und Würde bleibt. Und Gerechtigkeit zuteil wird, falls das noch geht.

    Als hätte ich ihn zu lange angehalten, muss ich tief Atem holen. Erleichtert fühle ich mich nicht, empfinde aber eine Art Einverständnis, anwesend zu sein.

    Die verrutsche Perücke verlangt danach, ordentlich hingerückt zu werden. Die ungleich entblößten Brüste fordern geradezu, anstandsgemäß bedeckt zu werden. Der Knebel in ihrem Mund lässt Ekel in mir aufsteigen. Als ich mich zu innerem Abstand zwinge, spüre ich, wie viel Zurückhaltung es mich kostet, die Tote unverändert zu lassen und mich auf des Hinsehen zu beschränken. Als könnte mir die Erklärung für ihren Zustand ins Auge springen.

    Soweit es ihre verspannte Lage erkennen lässt, ist die Frau ziemlich hübsch und körperlich gut gebaut. Welch ein absonderlicher Gedanke, für den ich mich zu schämen beginne. Nichts dergleichen zählt mehr in ihrer Welt. Was ist sie nun? Ein Mensch, eine Frau?

    Ein Körper, der daliegt. Still, völlig reglos, unwiderruflich leblos, äußeren und inneren Abstand fordernd.

    Welch eine Schande, dieser Frau das Leben zu nehmen, fährt mir durch den Kopf. Mit leichtem Erschrecken der nächste Gedanke:

    Ich kenne mich etwas aus mit kriminalistischer Denkweise.

    Habe ich vor einigen Minuten im Garten getönt.

    Wirklich?

    Etliche englischsprachige Fachbücher voll Kriminalitätstheorie sowie über Vorgehensweisen bei der Tatortuntersuchung besitze ich, habe fast alle aufmerksam gelesen. „Meine" Hauptkommissarin hat mir einige Grundsätze aus ihrer praktischen Arbeit beigebracht. Drei Menschen habe ich – in erwiesener Notwehr – lebensgefährliche Verletzungen zugefügt. Sogar den Anblick von Toten musste ich schon verkraften. Vor Jahren ein fremdes Verkehrsopfer am Straßenrand. Neulich einen Lehrer, der vom achten Stockwerk auf die Wiese neben unserem Wohnhaus fiel.

    Im vergangenen Oktober in der Rechtsmedizin von San Francisco, ein dreißigjähriger Mann. Zufällig war ich mit ihm in eine gewaltsame Auseinandersetzung um ein kleines Mädchen geraten. In der darauffolgenden Woche zu sehen, was vom Gesicht des Chinesen übrig geblieben war, hat mir eine Spur Genugtuung verschafft. Er war beauftragt worden, mich umzubringen. Während er mir dem Hotel gegenüber auflauerte, hat ein hilfreicher Freund ihn überrascht und kopfüber vom Hausdach fünf Stockwerke abwärts auf den Gehwegbeton geschickt. Und sein Gewehr mit Zielfernrohr anschließend im Pazifik versenkt.

    Schließlich, vor Monaten, die „Rache-Hexe", die Monas Halsader aufschlitzte. Tage später – ein hässliches Loch zwischen Augen und Nase, das war es für sie. Für mich vor allem eine sehr große Erleichterung, ohne eine Sekunde des Bedauerns. Die Frau hatte gewollt und bekommen, worauf sie es angelegt hatte.

    Aber jetzt, eine fremde Frau?

    Unwillkürlich verstehe ich den Unterschied zwischen beteiligt und betroffen. Bei den Ereignissen, an denen ich – fast immer weitgehend unfreiwillig – beteiligt war, nahm ich die Gewalt und ihre Folgen eher bruchstückhaft wahr, habe sie anschließend unerwartet gut weggesteckt. Jedenfalls kommt es mir so vor, im Nachhinein.

    Selbst Monas offen blutende Halsschlagader und ihre fahler werdenden Augen – dicht vor mir in minutenlanger Panik – habe ich weitgehend sicher in eine tiefe Ecke meiner Erinnerung verbannt.

    Gewöhnst du dich dran? Wirst gleichgültiger? Keine Spur.

    Und jetzt, hier? Betroffen, und zwar voll! Vielleicht, weil du unbeteiligt warst; bis eben, und keine Erklärung hast für das, was du jetzt siehst.

    So nah, unter derart fremdartigen Umständen? Du denkst, aus Fernsehkrimis ist dir ein solcher Anblick vertraut. Schwachkopf. Dein Zuschauerwissen sieht immer mit; selbst wenn das Opfer noch so grauslich ins Bild gesetzt wird. Vergiss es! Das hier ist Wirklichkeit, nicht die Zauberwand eines Bildschirms.

    Das hier ist die harte Tatsache des endgültigen Widerrufs des Lebens. So unmittelbar, dass du es nicht wahrhaben willst, dich zutiefst dagegen sträubst. Ich schüttele mich zurück in die Gegenwart, zwinge mich zum gefassten Hinsehen. Fühle mich in einer schwer zu erklärenden Weise herausgefordert. Weil ich eben ein Versprechen gegeben habe? Verträgt sich kriminalistisches Denken mit der Würde der toten Frau? Oder erweist sich erst in meinem weiteren Verhalten, wie weit mein Versprechen trägt?

    14

    Stumm dastehen, vor mich hin sinnieren – bin ich dafür hierher gekommen?!  Also, tun wir mal so, als wüsste ich, was ich tue.

    Mit der linken Hand ziehe ich meine Kamera aus der Jackentasche. Zugleich betrachte ich den nackten Körper sozusagen schrittweise von oben bis unten und von der Seite, soweit es von meinem Platz aus möglich ist. Auffälliges finde ich nicht, keine Verletzungen oder dunklen Flecken, nirgendwo einen Tropfen Blut. Lediglich um die Arm- und Beinfesseln herum sind bläuliche Druckringe und blassrosa Hautschürfungen sichtbar. Spuren des vergeblichen Versuchs, sich zu befreien. Die dichten, hellbraunen Schamhaare sehen oberflächlich trocken aus. Genauer hinzuschauen vermeide ich rücksichtsvoll.

    Die Frau scheint sich nur mäßig der Sonne ausgesetzt zu haben. Sie hat eine beneidenswert glatte, makellose Haut, die zum Streicheln einlädt. Bis auf ... ich muss um das Bett herumgehen, um die leichten Unreinheiten wie helle Fischgräten nebeneinander in der Haut des linken Unterarms deutlicher sehen zu können. Sieben oder acht dünne Narbenlinien, etwa so lang wie ein halber Zeigefinger, längst

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