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Nächstes Jahr in Bratislava
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eBook273 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Tobi liebt Tara, die dunkelhäutige Adoptivtochter eines Heidelberger Unternehmers, in die sich auch Nik, sein bester Freund und Mitschüler verguckt. Dieser, Sohn eines Dorfpfarrers, schlägt eine Art Blutsbrüderschaft vor: Um ihren Bund zu retten, verzichten sie beide auf die schöne Klassenkameradin. Sie besiegeln ihren Eid mit einem Schluck aus dem Wasserbett, auf dem sie liegen. Es gehört Tobias' großem Bruder, und seine Wände ziert der Satz: Fucking is holy. Wir schreiben das Jahr 1971.
Dreißig Jahre später findet auf einer Dachterrasse in Brooklyn eine Beschneidung statt. Nikolaus wartet auf den Mohel. Aus ihm und Tobi sind ziemlich beste Feinde geworden. Doch keinem der beiden gelingt es, am jeweils anderen Rache zu nehmen. Jenseits des Hudson fliegt ein Flugzeug in ein Hochhaus, und nichts ist mehr so wie es einmal war …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Okt. 2019
ISBN9783748565598
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    Buchvorschau

    Nächstes Jahr in Bratislava - Lydia Costa

    Sur l’eau.

    Sie fragte mich, ob ich Jude sei, und ich nickte ihr zu.

    Dann, nach einer kleinen Pause, schüttelte ich den Kopf.

    Sie lachte und sagte, Willkommen im Club.

    Fragend sah ich sie an, In welchem Club denn?

    Im Club derer, die, wenn man sie fragt, ob sie Jude sind oder nicht, weder klar ja noch eindeutig nein sagen können.

    Oder wollen, gab ich zurück – und was sind Sie?

    Gestylt war sie wie ein russisch-orthodoxer Pope in Frauenkleidern vom Flohmarkt. Irgendwie schien sie es darauf anzulegen, dass ich mehr über sie in Erfahrung brachte. Herausfordernd sah sie mich an: Sie wollen wissen, was ich bin? Nun.

    Sie hob die Brauen und guckte verschmitzt: Was tippen Sie denn?

    Sie wollte es spannend machen. Das war zu spüren. Ich konnte sie unmöglich einordnen. Auf ihrem Tablet hatte sie in der Jerusalem Post geblättert. Sie trug einen mächtigen goldenen Magén David zwischen den eher kleinen Brüsten, die sich hinter Lagen von grau-schwarzer Klöppelware verbargen. Um die Schultern hatte sie eine ziemlich abgewetzte rot-weiße Kufiya geschlungen. Das Ding sah aus, als hätte sie es vor zwanzig Jahren einem libanesischen Falafel-Verkäufer geklaut. Vor dem birnenförmigen Bauch baumelte ein Holzkreuz. Die von braunen Flecken gesprenkelten Hände zierte Schmuck, der das Devotionalienaufkommen so ziemlich sämtlicher Weltreligionen darbot. Das koschere Abendessen, nachdem sie verlangt hatte, war ihr aus logistischen Gründen verweigert worden. Das Putengeschnetzelte mit Sahne allerdings hatte sie anstandslos bis auf das letzte Körnchen Reis verdrückt. Kein bisschen koscher, wenn man mich fragte. Jetzt schlürfte sie ihren Merlot und grinste kokett: Nur Mut. Ihr Tipp. Los. Was denken Sie, was ich bin?

    Keine Ahnung. Ich kenn mich da nicht aus, Also sagen Sie schon – was sind Sie?

    Sie wiegte den Kopf hin und her und trällerte: Just like you, I am a Je …

    Bis hierhin hatten wir Englisch gesprochen. Phonetisch macht es keinen Unterschied, ob sich jemand als Je oder Jew bezeichnet. Daher half mir ihre Antwort nicht weiter. Jetzt wechselte sie ins Spanische und übersetzte unseren soeben geführten Dialog. Locker, wenngleich mit deutschem Akzent, erklärte sie, dass ich mir das W wegdenken müsse. Also nicht Jew sondern Je. Eine nicht zu Ende gebrachte Jüdin sei sie. Das träfe es irgendwie. Sie wechselte ins Deutsche. Weshalb sie davon ausging, dass ich es beherrschte, war mir so wenig klar wie irgendwas an dieser Dame. Kichernd und einigermaßen selbstverliebt erklärte sie, sie habe sich dieses Wortspiel ausgedacht, um dem Hybriden ihres Bekenntnisses gerecht zu werden. Eindeutig uneindeutig, hihi – das gefällt mir, lächelte sie und sah mich durchdringend an. Ich reagierte nicht. Da nahm sie ihr Tablet zur Hand und beantwortete Mails, checkte Text-Nachrichten oder was auch immer.

    Die Boeing hatte ihre Reiseflughöhe schon vor geraumer Zeit erreicht. Der Tinnitus der Maschinen beherrschte alles, was an Bord geschah. Die Passa­giere wühlten sich in ihre Sitze und brachten sich irgendwie in Schlafpo­sition. Auch die Purser und Service-Roboter waren mittlerweile auf Snooze gestellt oder im Standby-Betrieb. Was erstere betraf, dösten sie festgeschnallt auf ihren Jump-Seats und machten die Geräusche, die menschliche Wesen im Schlaf anrührend oder auch Nerv tötend machen, je nachdem wie man die Sache betrachtete.

    Sind Sie beschnitten?

    Ich fuhr herum. Eine viele Jahre zurückliegende Episode schoss mir unerwartet ins Gedächtnis. Auf einem Markt im Dorf meiner Heimat flüsterte der Verkäufer, während er Wechselgeld zählte: Deine Großmutter war eine Hure. Ich sah ihn an. Er lächelte unbefangen. Was haben Sie gerade gesagt? Fragend die Stirn runzelnd wiederholte er die Summe, die mir zustand. Hatte ich mich verhört? Am Abend davor hatte ich in einer Runde Fußballfans ein paar Bier getrunken und zwei, drei Joints geraucht. Die Wahrnehmung spielte mir Streiche. Die Dame zu meiner Linken hatte ihr Tablet in die Tasche hinter der Rückenlehne geschoben. Auch sie sah unschuldig vor sich hin. Dann aber drehte sie sich mir zu und grinste provozierend. Sie spreizte den kleinen Finger von der rechten Faust und vollführte mit dem Zeigefinger ihrer fleckigen Linken ritzende Kreise in der Luft: Ich hab Sie gefragt, ob Sie beschnitten sind. Brit Mila. Schnibbel, schnibbel. Zirkumzision – Sie wissen, was ich meine!

    Äh, ob ich …?

    Ja. Genau. Ob Sie beschnitten sind, will ich wissen. Rede ich undeutlich?

    Alles was recht ist. Nennt mich verklemmt, aber ich finde nicht, dass es eine zufällige Flugzeugbekanntschaft etwas angeht, wie es um meine Vorhaut bestellt ist. Umso weniger, wenn es sich dabei um eine Dame handelt in einem Alter, von dem meine Großmutter, Gott hab sie selig, nur hatte träumen können. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, rollte empört mit den Augen und entließ vorwurfsvoll Luft zwischen den Lippen.

    Warum so schüchtern, Miguel. Sagen Sie schon – sind Sie oder sind Sie nicht? Was mich betrifft – ich bin! Oder doch eher nicht. Na ja, um ehrlich zu sein. Höchstens beschni, wenn Sie verstehen? Ein beschni Ju – das bin ich. Können Sie mir folgen?

    Ja, ja, schon gut. Keine Ahnung, wovon sie redete: Ich weiß, was Sie meinen …

    Ganz BTW: Woher kannte die Schabracke meinen Namen? Mich beschlich das Gefühl, der Flug könnte anders verlaufen, als ich es geplant hatte. Eine dezente Unter­treibung, wie sich herausstellen sollte. Die Alte fing an, in den Archiven ihres Tablets Fotos zu suchen, was so wenig Zeit beanspruchte, dass es schien, als habe sie sich auf unser Gespräch vorbereitet. Warum es allerdings ausgerechnet ich sein musste, den sie mit ihrem Kram belästigte, erschloss sich mir nicht. Ich setzte an zu fragen, woher sie meinen Namen wusste, aber da unterbreitete sie mir eine Reihe von Bildern, die so schockierend waren, dass es mir die Sprache und fast auch den Atem verschlug. Ich erkannte einen Penis. Ein Membrum im Sorbet-Zustand, also halbsteif, dann dasselbe Glied furchtbar entstellt, ganz offensichtlich nach einer Art operativer Vollkatastrophe. Die Leitersprossen einer blutigen Naht um ein Stück aufgedunsener Haut, schließlich, auf einem dritten Foto, das Ganze nochmal, aber dieses Mal war das Membrum beschnitten. Aber nicht ganz. Etwas war von der Vorhaut übriggeblieben, ein dreieckiger Zipfel auf dem Quadranten zwischen 9 Uhr und Mittag, Ein weiteres Foto zeigte die Vergrößerung dieses Rests, verziert mit einem billigen Tattoo, bläuliche Linien bildeten einen Stern, in den etwas gekritzelt war, ein kleiner Asterisk aus sich überschneidenden Linien.

    Heilige Scheiße, entfuhr es mir. Ich stand unter Schock. Wäre meine Sitznachbarin ein Mann gewesen, hätte ich vielleicht zugeschlagen. Solche Bilder will keiner sehen. Nicht vierzigtausend Fuß über der Erde, wenn knapp sechshundert Leute sich nur wenige Räumlichkeiten teilten, in denen sich ungestört kotzen ließ.

    Niemals, das war mir sofort klar, würde ich diesen Horror wieder los. Mein Appetit auf Tinten­fischringe oder irgendetwas anderes, das bleich, rund und von wabbeliger Konsistenz war, hatte sich auf ewig verflüchtigt.

    Etwas in dieser Richtung gab ich der Frau zu verstehen. Sie steckte das Tablet weg. Pikiert wischte sie sich eine Strähne aus der Stirn und murmelte säuerlich: Nun gut. Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. So soll es sein.

    Was um Himmelswillen – WAR das, schnappte ich.

    Mein Schwanz natürlich. Meine Gurke. Mein Penis. Damals. Zu den tristen Zeiten, als er noch dran war. Als er und ich noch im selben Team spielten. Mein Rohr. Gott hab es selig. Erst ohne, dann mit, dann wieder ohne Beschneidung. Mal so mal so. Verstehen Sie, wovon ich rede?

    Oh, ich verstand! Fieberhaft suchte mein Blick nach einer Stewardess um zu fragen, ob sie mich umsetzen könne. Ich griff nach dem Knopf über mir, aber die Chancen, möglichst viele Sitzreihen zwischen mich und diesen Freak zu kriegen, standen denkbar schlecht. Der Flug war fast ausgebucht. Nur in der ersten Klasse gab es noch ein paar wenige freie Plätze. Scheiß drauf. Es wäre die Investition wert gewesen.

    Schlapp erwiderte ich den Druck der mir dargebotenen Hand, Nicole Fischer, sagte das Etwas. Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ja, Miguelito. Ich war mal ein Mann – wie Sie. Oder sagen wir du – jetzt, wo wir so viel voneinander wissen?

    Skeptisch sah ich sie an. Was wusste sie tatsächlich? Sie zeigte auf meinen Schritt, wischte eine Strähne aus der Stirn und gurrte, Mein Penis und ich – wir gehen jetzt getrennte Wege. Er nach da – ich nach dort. Sie zeigte zu Boden, unter dem sich in dreißigtausend Fuß Tiefe der in kosmisches Schwarz getauchte Atlantik ausbreitete, die große Kloake, in der früher oder später landete, was nicht mehr gebraucht wurde. Dann zeigte sie nach oben, wohin wir, glaubt man den Religionen, einziehen, wenn auch wir nicht mehr gebraucht werden. Also, junger Freund, sagte diese, hm, Nicole, die vielleicht mal Jürgen oder Manfred gewesen war – sei gewarnt! Falls du nämlich unbeschnitten bist und vorhast, diesen Schritt zu gehen, wozu ich dir unbedingt rate, dann lass einen Profi ran. Ein Mohel, der sein Handwerk draufhat, verstehst du?

    Sie zeigte auf das Tablet: Das nämlich, Miguelito, kommt raus, wenn zwei verhunzte Beschneidung­en und eine vergeigte Verschiebe-Plastik plus ein grottiges US-Knast-Tattoo an einem Strang ziehen und alles richtig in die Grütze geht. So wird aus einem hübschen kleinen Dödel, der meiner fraglos einmal war, ein optischer Super-GAU. Das nur zu deiner Warnung.

    Danke. Ich merk es mir, log ich schief grinsend.

    Nun ja. Schwamm drüber. Ich bin ihn los, diesen Pimmel, und das ist gut so. Am Ende war er ohnehin nur noch dazu gut, schlecht zu riechen und beim Pissen zu stressen. Prostata – Sie verstehen?

    Na, klar.

    Ich rückte soweit es ging ab von ihr. Sie roch nach Knoblauch und Airline-Merlot.

    So, so, resümierte ich aus Höflichkeit, Interessant. Sie waren also mal ein Kerl und haben sich beschneiden lassen.

    Zweimal, korrigierte sie. Beide Male ist was dazwischengekommen. Money is God in action wissen Sie, und history is where it goes. Jedes Mal, wenn meine Konversion die entscheidende Hürde nehmen sollte, warf Gott mir mit irgendeiner Ins­ze­nierung Knüppel zwischen die Füße. Er hat einen merkwürdigen Humor. Beim ersten Mal, als der Mohel das Messer ansetzte, fiel die Berliner Mauer. Beim zweiten Mal war Nine Eleven und die Zwillingstürme purzelten um. Immer ging irgendwas zu Bruch, wenn ich aufs Ganze gehen wollte. Schließlich nahm ich die Sache persönlich. Gott wollte mich nicht als Clubmitglied. Da gab ich es auf. Die Ereignisse von Rom konnten meine Pläne, eine ordentlich beschnittene Rute zu kriegen, schon nicht mehr durchkreuzen. Als das passierte, war ich längst eine Dame. Ich wollte nicht länger auf klassischem Weg meinen Bund bekräftigen. Ehrlich gesagt waren mir Zweifel gekommen. War es wirklich so, dass ER Männer beschnitten haben wollte? Gingen ihm Menschen nicht generell am Arsch vorbei? Hatte das Thema für IHN irgendeine Relevanz? Als Frau war ich raus aus der Nummer. Es betraf mich nicht mehr. Ich war auf der sicheren Seite. Gottlob gibt es da heute Möglichkeiten, von denen ein Abraham nur träumen konnte. Fortschritt hat eben doch sein Gutes. Ernst fügte sie hinzu: Ja, Rom, nicht wahr? Was für ein Schock! Für uns alle …

    Auch ich schwieg pietätvoll. Die Erinnerung an die Katastrophe ließ mich schaudern. Das Ganze war jetzt drei Jahre her, aber der Anschlag auf die friedlichen Menschen, die auf dem Petersplatz zusammengekommen waren, um zu beten und die fatalen Umstände, wie er geschehen war, das ließ einen auch 2033 noch nicht kalt. Wie waren diese Fanatiker in den Besitz unkonventioneller Waffen gekommen? So viele Unschuldige einfach pulverisiert. Obwohl die Katastrophe von Rom eindrucksvoll belegte, wie ehrgeizig die Menschheit darauf drängte, einen neuen Weltrekord in Grausamkeit und Bestialität aufzustellen, war doch auch klar, dass dieser Anschlag nicht annähernd die Schreckensdimension erreichte, die mit dem Namen Deutschland geschichtlich verbunden war. Was das betraf, hatten die Nazis ganze Arbeit geleistet. Auschwitz war einfach nicht zu toppen. Immerhin, die Hysterie gegenüber Arabern allgemein und Moslems im Besonderen, die seit dem Angriff auf das World Trade Center Jahr für Jahr zugenommen hatte, war in Folge dieses neuen Attentats auf ein nicht für möglich gehaltenes Niveau gestiegen. Ein einziges, winziges Symbol, ein unscheinbares Zeichen islamischer Religiosität wurde inzwischen als Hinweis für eine unmittelbar bevorstehende terroristische Gefährdung gesehen. Aus dem Nichts konnte jederzeit eine Massenpanik entstehen. So wird man mir nachsehen, dass ich, als Nicole aus ihren Miedern eine in Silber und Türkis gearbeitete Fatima-Hand kramte, um sie mir umzuhängen, mit einem Aufschrei reagierte.

    Als Beschnittener, sagte die Transsexuelle, während sie auf das feingliederige, aber mit der Zeit schwarz gewordene Kettchen zeigte, hätte ich auch in diesem Club was werden kön­nen. Hat mich aber nie interessiert. Schon damals als Mann fand ich den Islam dümmlich mit seiner verklemmten Jungfrauenhypostase und den pubertären Paradiesfantasien als Wichsvorlage angehender Märtyrer. Nein, was Monotheismus betrifft, empfinde ich eher wie bei Cola-Getränke – nichts schlägt das Original.

    Ich fummelte mir die Kette vom Hals, um sie zurückzugeben, aber die Alte schüttelte den Kopf: Behalten Sie’s. Steht Ihnen gut. Türkis ist deine Farbe.

    Ein Herr, den mein Schrei geweckt hatte, drehte sich um, und ich beeilte mich, das Machwerk aus Billigsilber unterm Pulli zu verbergen.

    Also, was ist, flüsterte das Wesen, während es die Ostgrenze von Sitz 21 J, den es eigentlich gebucht hatte, gefährlich weit in Richtung 21 K übertrat: Bist du oder bist du nicht? Sag schon. Du weißt, wovon ich rede!

    Es brauchte eine Viertelminute, bis ich kapierte, dass sie erneut das Beschneidungsthema am Wickel hatte beziehungsweise anschnitt, falls der Wortwitz erlaubt war. Sie hob das Kinn, Darf ich raten? Du bist – nicht!

    Und wenn doch, gab ich zurück.

    Wenn doch? Dann – wow! Also – bist du??

    Nochmal: Was ging es diesen Freak an – was eigentlich war die weibliche Form von Freak? Freakin? Freakette – was also ging es ihn an, ob ich meine Vorhaut besaß oder nicht. Ich musste schon bitten. Waren das Themen, über die man sprach, wenn man an einem 12. Oktober den Atlantik überflog, nur weil man zufällig nebeneinandersaß auf Plätzen, die irgendein Algorithmus für einen ausgewählt hatte?

    So höflich es ging, machte ich diesem Was-Auch-Immer klar, dass dem nicht so war. Jedenfalls nicht in meiner Welt.

    Nicole schien nicht zuzuhören. Vermutlich war sie auf Hörgeräte angewiesen, aber zu eitel, welche zu tragen. So groß war ihre Fortschrittsliebe dann doch wieder nicht.

    Komm mit aufs Klo, unterbrach sie meine Gedanken, ich will Beweise.

    Das ging zu weit. Ich erhob mich aus dem Sitz, auf dem ich es keine Sekunde länger aushielt. Kaum hatte ich den Knopf gedrückt, erwachte einer der humanoiden Purser aus dem Standby-Modus und kam auf uns zu. Alexahaft dienstbeflissen lächelte er mich an: Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?

    Bitte, sagte ich, kann ich vielleicht den Platz wechseln? Erste Klasse?

    Entschlossen genug, um auch die letzte soziale Empfindlichkeit über Bord zu werfen, nestelte ich nach Fatimas Hand und legte sie frei: Purser, sagte ich und zeigte auf den Nebensitz, diese Lady hat mir das hier gegeben. Ich wollte es nicht. Das war ihr egal. Ich fühle mich auf diesem Sitz nicht mehr wohl. Ich möchte umbuchen.

    Im Kopf des Roboters arbeitete es. Er scannte mich von oben bis unten. Die silberne Chamsa, die jetzt diskret von meinen fünf Fingern umschlossen wurde, zog den Verdacht erstmal auf mich. Das hätte mir klar sein müssen. Der Humanoid richtete den Blick auf meine Sitznachbarin. Seine Freundlichkeit war naturgemäß die einer Puppe: Ist das Ihre Kette, Ma’am?

    Aber nein! Schauen Sie mich an! Ich bin eine christlich-orthodoxe Lady mit einem nicht zu leugnenden buddhistischen Touch und einem prononcierten Faible für Judaika. Was habe ich mit der al-Batul am Hut? Wenn ich zu einer Jungfrau bete, dann doch zur verfickten Maria, der Islam und seine verflu …

    Ja, ja. Schon gut. Warten Sie einen Moment.

    Der Purser drehte bei und weckte einen menschlichen Vorgesetzten, von dem er sich Anweisungen erhoffte in diesem offenbar sicherheitsrelevanten, aber maschinell nicht zu lösenden Fall. Bevor er in Begleitung eines analogen Stewards zurückkam, der tatsächlich Sitzpläne studierte, ließ Nicole Ihre Knoblauch-Merlot-Fahne ungebremst in meine Nase flattern: Hey, Migg. Das war ein Scherz. Jetzt mach kein Gewese. Ich will deinen Schwanz nicht sehen. Vergiss es. Was soll ich mit einem Kind wie dir auf dem Klo? Bitte. Komm runter. Wenn du einen Skandal machst, kann es für uns beide böse ausgehen.

    Da hatte sie recht. Seit Rom lagen die Nerven blank. Ich lächelte dem Purser-Paar zu, dessen Fleisch-und-Blut-Exemplar mir zunickte: Sie hatten geläutet, Sir? Kann ich was für Sie tun?

    Äh. Ja. Ich … hätte gern, dass …

    … Man uns einen Whiskey bringt. Einen Macallan. Das älteste was Sie haben. Und Gläser dazu, wenn’s recht ist. Hier – meine Karte. Mit diesen Worten zog die Dame eine mitternachtschwarze Amex aus ihrer ferkelfarbenen Luis Vuitton Clutch, und kurze Zeit später standen zwei randvolle Becher flüssiger Bernstein vor uns auf den Klapptischen.

    Salud, sagte ich.

    Le Chaim, meinte die Freakadelle.

    Hör zu, sagte sie, kaum hatte der Schnaps unsere Mundschleimhäute verödet, es ist kein Zufall, dass wir nebeneinandersitzen.

    Aha. Sowas ähnliches hatte ich mittlerweile geahnt. Dem Merlot-Atem war nun eine schärfere Note beigemischt, und seit der Szene mit den Stewards kam es mir vor, als hätte sich der Knoblauchduft mit einem Hauch Angstschweiß vermischt, der ihren Achselhöhlen entstieg. Soweit es ging, rückte ich ab zum Fenster, wohinter die mit stellarem Deckweiß besprenkelte Schwärze gähnte so wie ich hinter vorgehaltener Hand: Hab ich mir fast gedacht. Wie haben Sie es angestellt? Was genau wollen Sie von mir?

    Langsam, mein Freund. Eins nach dem anderen, Miguel. Also. Wie habe ich es geschafft, auf diesen Platz zu kommen? Nun, man hat so seine Beziehungen. Ich wusste, dass du diesen Flug nimmst und bin nach New York gereist, um auf dem Rückflug in derselben Maschine zu sitzen. Ich war Stunden vor dir am Kennedy-Airport und habe alle Register gezogen, um auf diesen Platz zu gelangen. Es war nicht einfach, aber ich bin eine Lady, die nicht so leicht aufgibt. Erst musste ich natürlich rauskriegen, WO du sitzt und wer dein Sitznachbar war, um zu tauschen. Unfassbar, was Menschen für Geld alles tun. Ich selbst habe von Computern übrigens wenig Ahnung. Aber ein guter Bekannter hat sich bei Icelandair eingehackt und die Belegpläne gecheckt. So habe ich es schließlich geschafft.

    Na, schön. Glückwunsch. Und was wollen Sie von mir?

    Zunächst mal, dass du endlich DU sagst. Wie oft soll ich es dir noch anbieten? Es grenzt schon an Unhöflichkeit, mich so zu übergehen. Ich war mal ein Mann, aber meine Empfindsamkeit ist die einer Dame, ich darf deshalb …

    Na, schön. Nicole. Was willst du von mir?

    Sie lächelte. Sie war am Ziel. Das feierte sie damenhaft mit einem kräftigen Schluck Whiskey. Sie stellte den Becher aus recyclingfähigem Kunststoff zurück und verletzte erneut in eklatanter Weise die Lufthoheit über der von mir gebuchten Sitzgrenze.

    Ich weiß, wer du bist, hauchte sie, du bist ein Killer. Ein Sicario. Du stammst aus einem Slum von Bogotá. Deine Mutter ist indigen, eine Taromenane, wie ich vermute. Du bist das Ergebnis eines One-Night-Stands mit einem sephardischen Touristen aus Montreal. Du bist der typische Vaterjude. Allerdings hast du deinen Erzeuger nie gesehen, du …

    Ich gelte als besonnener Mann, aber jetzt war ich soweit. Ich hob die Faust, um eine wildfremde Frau zu schlagen. Eine, die dreimal so alt war wie ich. Niemand nennt mich ungestraft einen Auftragskiller. Dann besann ich mich eines Besseren. Die Faust noch in der Luft, kniff ich ein Auge zu und feixte: Wieder ein Scherz, nicht wahr Nicoletta? Sie oder meinethalben du machst dir den Flug ein wenig angenehm, indem du andere nach Strich und Faden verarschst? Heute bin ich dran – richtig? Mich hat’s erwischt!

    Nicole stieß mir den Ellbogen in die Seite und kicherte: Dich kann keiner verarschen. Du bist viel zu clever. Der Plan ist vielmehr der: Ich möchte, dass du mich tötest. Anschließend löst du mich in Flusssäure auf wie bei Breaking Bad. Du kennst die Serie? Mit meiner Leiche füllst du einen Sack aus Vinyl, den ich in einem Koffer mitführe, der sich unten im Gepäckraum befindet. Es ist die Matratze eines Wasserbetts, auf dem du anschließend Sex haben sollst. Und zwar mit folgender, wie ich finde recht attraktiven Person.

    Sie beugte sich über ihr Tablet, das sie aus der Gepäcktasche hinter ihrem Vordersitz gezogen hatte. Sie schaltete es ein. Bevor sie weitere Fotos oder was auch immer öffnen konnte, stoppte ich sie, indem ich mit der Rechten ihre Hand packte und festhielt. So zwang ich sie, mir in die Augen zu sehen: Nichts dergleichen werde ich tun, kapiert? Vermutlich ist das wieder nur ein Witz. Es ist aber leider so: Wir beide, du und ich, wir haben komplett unterschiedliche Auffassungen von Humor. Danke für den Macallan. Aber es tut mir leid. Ich werde mich jetzt unwiderruflich woanders hinsetzen lassen, falls es geht. Ich streckte die Linke aus nach dem Knopf.

    Okay. Keine Witze mehr, sagte Nicole, Ich habe dein Buch gelesen.

    Ach, daher wehte der Wind!

    Deine Geschichten über Manhattan am Nullpunkt haben mir Spaß gemacht. 23 Episoden von unterschiedlichsten Charakteren, die nur eins gemeinsam haben. Sie spielen am 11. September 2001. Für das, was ich von dir will, wirst du genau diese Fähigkeit brauchen, dich in andere Menschen hineinzuversetzen. Zu fühlen aus ihrer Sicht. Mit ihrem Herzen zu sprechen.

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