Ypsilon: Ein psycho-phänomenaler Roman
Von Werner Siegert
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Ohne sein Zutun spürt er in seltenen Fällen von manchen Mädchen oder Frauen Wärmeströme auf ihn zu fließen, die sich auf der Haut später sogar als messbar erweisen. Ein Neuro-Psychologe, dem er sich einmal anvertraut hatte, bittet ihn, für seine Forschungsarbeiten zur Erlangung eines Doktorgrades diskret zur Verfügung zu stehen. Dabei kann sich Y , unterstützt durch Hypnose, an erste Erlebnisse weit zurück in seiner Kindheit erinnern. Besonders irritiert ist er jedoch durch aktuelle Vorfälle, da er sich nicht sicher sein kann, ob die Mädchen oder Frauen, von denen die Wärme auf ihn zuströmt, auch entsprechende Spiegelerfahrungen machen. Y nimmt das alles mit sehr viel Humor. Es macht ihm sichtlich Spaß, an diesen "erothermischen" Erkundungen teilzunehmen, für die sein "Psycho" sogar elektronische Geräte einsetzt. Dabei ist er auch unvorhergesehenen Abenteuern ausgesetzt, zumal er versucht, die erothermischen Frauen herauszufordern. Er will es nun endlich wissen. Immer ist er peinlichst darauf bedacht, seine Identität zu verschleiern. Umso bestürzter reagiert er, als er einen Tages einen Fan-Brief erhält. Wer ist die Absenderin C.? Ist es die Chiropraktikerin, die seinen Hexenschuss behandelt? Oder ist es jene C.
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Buchvorschau
Ypsilon - Werner Siegert
Das erste Mal
Nein, meinen Namen sage ich Ihnen nicht. Auch nicht später. Dann würde man mich vielleicht in falsche Zusammenhänge bringen. Vielleicht wäre ich dann plötzlich ein Puzzleteil bei einer Rasterfahndung und könnte mich nicht wehren. Ich müsste einen Unschuldsbeweis erbringen, ohne die Schuld zu kennen.
Nein, nennen Sie mich auch nicht X. Das ist ein durchge-ixter Mensch, durchgestrichen, sieht aus wie ein Strichmännchen ohne Kopf. Den Buchstaben Y mochte ich schon als Kind viel lieber. Zum Beispiel hätte ich gern einen Namen mit Y gehabt. In ein Mädchen in meiner Grundschule habe ich mich spontan verliebt, weil sie Sybille hieß. Sie war nicht hübsch oder klug, aber sie hatte ein Y im Namen. Auch in eine Yvonne hätte ich mich verliebt. Aber wann trifft man schon eine? Ich habe alle Bürger von Yverdon in der Schweiz beneidet, weil sie in einer Y-Stadt wohnen dürfen. In Berlin hätte ich gern am Savignyplatz gewohnt, obwohl da später viele Bomben gefallen sind. Heute ist zwar alles wieder aufgebaut, aber so schön, wie es einem Platz gebühren würde, der ein Y im Namen trägt, sicherlich nicht. Wenigstens hält ein Bus dort und es gibt umtriebige Kneipen und Weinlokale.
Aber Y sollten Sie mich eigentlich auch nicht nennen; denn das würde wieder einen falschen Verdacht auf mich lenken. Denn das Ypsilon ist ein sexuelles Symbol. Gleich könnten wieder ein paar neunmalkluge Herausfinder die Rasterfahndung auf mich ansetzen. Und dann - siehe oben.
Mein Psychotherapeut lässt ein Tonband mitlaufen. Er hat vorher gefragt. Es geht in Ordnung. Irgendso eine arme Stenotypistin - oder heißt das jetzt Sonotypistin? oder Audio-Typistin? - muss dann seitenlang alles abschreiben. Angeblich will man aus den vielen Wörtern, Sätzen und Satzzeichen, Absätzen und insbesondere aus den Stellen, an denen ich meinen Redefluss stoppe und hüstele, herausfinden, was mit mir los ist.
Eigentlich ist mit mir gar nichts Besonderes los. Ich gehe auch einem normalen Beruf nach. Die Leute dort sollen aber nicht wissen, dass ich zu einem Psychotherapeuten geschickt worden bin. Die denken dann gleich, der ist blöd, hat ein geistiges Schepperle, einen Ypsilonkomplex oder kann sich von seiner Mutter nicht lösen, und dann ist kein Weiterkommen mehr. Deshalb bitte auch nicht schreiben Der T.
, denn dann gehen die ihre ganze Kartei durch. Auch die amerikanische NSA! Haben wir einen T.
? Einen, der Ypsilons mag? Der sich früher mal in eine Sybille verliebt hat? Ja, und erst, wenn die dann lesen, was mir Fragezeichen aufgibt. Ach, so einer ist das. Der ist möglicherweise, jedenfalls könnte er jetzt oder irgendwann, man weiß ja nie, gefährlich werden. Der fasst dann eine Frau an, am Arm oder schlimmer. Das steht dann in BILD und unsere PR-Abteilung muss Abertausende von Euro aufwenden, um so einen Schmuddelfleck am Firmenimage wieder wegzuwienern. Also das mit dem T.
war natürlich eine falsche Spur. Auch bei L.
oder S.
nichts als Fehlanzeige. Vielleicht müsste der Kollege Ludwig darunter leiden. Der sieht so gerne Aktenzeichen XY - ungelöst!
Aha doch, siehe mal da, ein Ypsilon!
Nein, lasst den Ludwig in Ruhe. Selbst wenn er mit Yvonne verheiratet wäre und schon mal dem herrlichen Wackelpo von unserm neuen Lehrling nachgeschaut hätte - er wäre nicht identisch mit mir.
Sie haben ja ganz schön Geduld, wenn Sie bis hierher gelesen haben. Soll ich mich Ihnen offenbaren? Also ihm, dem Psycho, und Ihnen, der Bandabschreiberin und all jenen, die dazu verdammt werden, ihre schöne Zeit diesem Lesestoff zu widmen und dabei noch klug herumzugrübeln? Vielleicht finden die ja dann noch ein tolles Kürzel für mein Leiden, das aber auch gar kein Leiden ist, sondern eher ein Freuden. PFMS - wissen Sie, was das heißt? Nein? Also es gibt Leute, die im Schlaf oder sonst wann, wenn ihre Füße nicht durch Stiefel oder einen ICE-Sitzplatz gefesselt sind, ständig ihre Füße bewegen. Rechts nach links, links nach rechts, kreisen, gegen den anderen Fuß reiben, sich selber kitzeln. Also das ist PFMS - zu Deutsch: Permanent-Feet-Moving-Syndrom. Patsch, da hat das einen Namen und kann in Psychologie heute
oder in der Neuen Revue
oder in HÖR ZU
thematisiert werden. Was hat so einer für eine Macke abgekriegt? Sexueller Missbrauch als Kind? Frostbeulen? Zu kurze Bettdecke? Oder ist er ein Sportaholic, der auch im Schlaf noch Fitness betreiben will? Erinnert er sich fröhlich-traumatisch an Babyzeiten, in denen die Mama die Füße nach dem Pudern gekitzelt hat. Oder ist das schon Missbrauch? Träumt er, über glühende Kohlen zu gehen oder gehen zu müssen? So was muss man ja heute im Management-Training gemacht haben, sonst keine Karriere. Ist das eine symbolische Vorbereitung für später, wenn man dem Vorstandssprecher auf glühenden Kohlen mitteilen muss, dass seine Entscheidung sich leider sehr, sehr verlustreich ausgewirkt hat? Also denken Sie mal nach, wenn Sie unter PFMS leiden, ob Sie sich nicht mal bei einem Talkmeister, bei Pastor Fliege oder bei Frau Schreinemakers outen sollten.
Vielleicht habe ich meine Geschichte zu flapsig begonnen. Jetzt glauben Sie sicher, ich mache hier nur Witzchen und erzähle, was die Kölner Dönekes nennen. Wie kriege ich Sie jetzt nur von dieser strahlenden Dur-Tonart in das eher geziemende H-moll? Und vom Scherzo (spricht man Skerzo!) zum Adagio? Ich empfinde diese Macke ja auch gar nicht als Macke, sondern als Bereicherung. Als etwas, was ich kann oder mir geschenkt worden ist vom lieben Gott, was andere nicht haben. Oder doch? Schreiben Sie mir? Aber ich will keine Selbsthilfegruppe bilden. Auch keine Facebook-Gruppe! Nein, ganz bestimmt nicht. Nie! Ich will mit dem, mit meinem Syndrom, wie auch immer es irgendwann benannt wird, allein bleiben. Am liebsten würde ich jetzt hier aufstehen, rausgehen und nie mehr wiederkommen. Aber das nennt der Psycho Flucht. Ich glaube, er will mal berühmt werden. Dann tauft er das ein Strakhooven-Syndrom und geht in die Fachliteratur ein und in die HÖR ZU. Hat ein Mensch eigentlich ein Urheberrecht an seiner Macke, wenn er sie nachweislich zum ersten Mal hat, als einziger, der bekannt ist unter dem Firmament? Kann er nicht das Benennungsrecht dafür beanspruchen und das Copyright? Oder begreift sich der Psycho als Schatzgräber? Ich bin der Sand, der Kies, der Lehm - und meine Macke der Schatz? Aber meine Geschichte gehört mir. Nur, wie macht ein Namensloser seine Rechte geltend?
Wann war das zum ersten Mal? Können Sie sich erinnern? fragt der Psycho. Achtung - jetzt wird es ernst und seriös. Wir wechseln von Dur zu Moll. Denn das, was sich da ereignet hat, war geheimnisvoll, rätselhaft und irgendwie sehr schön. Wann zum ersten Mal? Das weiß ich noch. Aber wie alt ich damals war, weiß ich nicht. War mir nicht so wichtig. Ich wusste auch nicht, ob es nur ein einmaliges Ereignis sein würde. Und danach ein NIE MEHR. Es gab ja auch eine lange, lange Pause. Also jedenfalls war ich schon in der Mitte der Jahre. Tatort: S-Bahn, Linie 7, Fahrtrichtung glaube ich Marktoberdorf. Sommer. Morgens. Proppenvoll. Stehplatz schon halb im Gang. Vor welcher Haltestelle? Nein, das sage ich jetzt nicht. Ypsilonsüchtig, witziger Typ, erzählsüchtig, S-Bahn Linie 7, morgens, also Fahrt zum Arbeitsantritt, Richtung Stadtmitte. Fängt nicht mit T oder S an. Auch nicht mit L. Liest Psychologie heute
, eventuell auch die Neue Revue
. Rasterfahndung. Noch ein paar Eitzes (wie schreibt man das, Typistin?) mehr und die haben mich im Fadenkreuz.
Passiert ist eigentlich nichts. Gar nichts. Also ihr nichts. Sozusagen mir was, ihr nichts. Ich stand mit Blickrichtung Nord beziehungsweise. nach einiger Fahrtstrecke schienengebunden Nordost, dann Ost. Normale Kleidung für einen Sommertag. Business-Kleidung, ich. Arm ein wenig angewinkelt, weil ich Halt an einer Stange gesucht habe. Auf einmal wird mir am Oberarm heiß. Angenehm heiß, nein, eher warm. Etwas wärmer als warm. Jetzt weiß ich: wohlig warm. Erst dachte ich, ein Sonnenstrahl sei zwischen den Hochhäusern hindurch über die Straßen und Schuppen hinweg in die S-Bahn geschlüpft und dort direkt auf meinen Oberarm. Eher Ellenbogen. Es ist nicht leicht, sich genau zu erinnern. Aber da war kein Sonnenstrahl. Es war nur diese Wärme, die mich zwang, nach der Ursache zu forschen. Die Ursache war der Arm eines Schulmädchens, vielleicht 12 Jahre alt. Sie trug eine weiße Bluse mit langem Arm. Also kein Hautkontakt. Aber von ihrem Arm wanderte zu meinem eine deutlich spürbare, wohlige Wärme, wie eine Strahlenbehandlung. Aber sie spürte nichts. Sie schaute mich gar nicht an, ließ ihren Arm in dieser Haltung, unterhielt sich mit anderen. Ein hübsches Mädchen mit dunklen, langen, lose geflochtenen Haaren, etwas sonnengebräuntem Teint, und Gottseidank ohne Nasenring und andere Piercings. Die Wärme flackerte, wurde mal mehr, mal weniger und wieder mehr. Dabei waren, weil ich jetzt genauer hinschaute, zwischen ihrem und meinem Arm mindestens zwei oder gar drei Zentimeter Abstand. Und doch diese unbeschreiblich schöne Wärme, die auch noch eine kleine Weile anhielt, als sie schon ausgestiegen war.
Ich taufte sie Monika, ganz spontan, weil mir Monika wie ein herrlich warmer Mädchenname erscheint. Das O darin ist wie eine Sonne. Warum nannte ich sie nicht Mony? Nein, das ist zu nahe an money. Übrigens - ich habe Monika bewusst nie wiedergesehen. An meinem Zielort ging ich gleich auf die Toilette, zog mein Jackett aus, krempelte den rechten Ärmel hoch, um zu schauen, ob da eine Rötung wäre. Irgendetwas Auffälliges. Da war nichts. Leider auch nicht mehr Monikas Wärme. Ach, Monika, wenn dich das doch nur erreichen könnte: Vielen, vielen Dank!
Auf einmal dachte ich, dass Liebe eine unwillkürliche Strahlenwirkung entfalten könne; denn Monika war sehr, sehr liebenswert, vom Aussehen her, von ihrer Mimik, ihren Bewegungen. Ihr Lachen war schon eine Liebe wert. Selbst ihre Schultasche hatte Charme. Aber sie war ein Kind! Schlimm genug. Ahnen Sie jetzt, weshalb ich meinen Namen nicht nenne?
Also, um ehrlich zu sein, ich habe natürlich versucht, das Mädchen noch einmal wiederzusehen. Nein, so wahnwitzig war ich nicht, dass ich glaubte, noch einmal so in ihre Nähe zu gelangen, dass wieder ein Wärmestrom durch ihre Bluse über zwei, drei Zentimeter S-Bahn-Luft und dann durch meinen Sommeranzug hindurch fließen könnte. Wissenschaftler erkennen ja nur dann Entdeckungen an, wenn sie wiederholbar sind. Insofern wäre es schon aufschlussreich gewesen. Nein, ich musste damals öfter zur gleichen Zeit die gleiche Strecke fahren, stieg