SPURLOS verschwinden innerhalb weniger Wochen in München und Umgebung vier wohlhabende, betagte Witwen: Kriminal-Groteske
Von Werner Siegert
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Buchvorschau
SPURLOS verschwinden innerhalb weniger Wochen in München und Umgebung vier wohlhabende, betagte Witwen - Werner Siegert
Der erste Fall: Hermine-Adele
Dr. med. Hans-Herbert Hudefarth erschien am 7. August 2007 bei der Polizei, um das rätselhafte Verschwinden seiner betagten Mutter Hermine-Adele Hudefarth, geb. Bergloh, aus deren Villa in Großhesselohe, einem Vorort von München, zu melden.
Dr. Hudefarth war am Tag zuvor in Begleitung seiner zweiten Frau Else-Marie Behn - sie hatte den Namen ihres Mannes nicht angenommen - nach Großhesselohe gefahren, weil sich seine Mutter bereits seit mehreren Tagen nicht mehr telefonisch gemeldet hatte. Sie fanden das große Haus mit seinen 12 Zimmern und Kammern, mit Türmchen, Balkonen und Erkern, umgeben von einem etwas verwilderten Park mit einem vermoosten, allmählich verfallenden Springbrunnen, verwaist, aber sonst in guter Ordnung vor. Es gab keine Einbruchsspuren. Alle Fenster waren verschlossen, auch die im Keller.
Der Sekretär, an dem Hermine ihre „Correspondenzen" zu erledigen pflegte, war geöffnet. Briefpapier lag bereit, so als ob die alte Dame mit ihren 81 Jahren gerade einen Brief schreiben wollte und dabei gestört worden war. Auf dem sogenannten Rauch-Tischchen, Hermine gönnte sich gelegentlich einen Zigarillo oder eine superteure Zigarette von einer Sorte, die sie sich aus London von ihrer Tochter Emely mitbringen ließ, lagen einige Reiseprospekte von Teneriffa und Gran Canaria.
Eine größere Summe Geldes, das sie zwischen Nachtwäsche in einem riesigen Eichenschrank zu verstecken pflegte, fand der Sohn, der darüber eingeweiht war, unangetastet. Das einzige, was zu fehlen schien, aber ganz sicher waren sich weder Hans-Herbert noch Else-Marie, war ihr großer Übersee-Koffer, den sich die alte Dame für ihre Weltreisen angeschafft hatte. Vielleicht aber befand sich der auch in irgendeinem verwinkelten Kämmerchen oder auf dem Dachboden.
Hermine Hudefarth war rüstig, eine begnadete Bridge- und Canasta-Spielerin. Sie lebte allein in dem großen altehrwürdigen Haus. Eine Zeitlang hatte sie ein möbliertes Zimmer an einen Studenten aus bestem Hause vermietet - angeblich alter russischer Adel, ein Romanow! - eine Gefälligkeit gegenüber einer Bridge-Freundin. Als der edle Herr Romanow während einer von Hermines Reisen im ganzen Haus eine wilde Party veranstaltet hatte, bei der einiges zu Bruch ging, der ekelhafte Geruch von Erbrochenem von wertvollen Teppichen kaum zu beseitigen war und es wohl zu sexuellen Ausschweifungen gekommen war, entschloss sie sich, dann doch lieber die „alleinige Schlossherrin" zu bleiben.
Der Kontakt zu ihrem Sohn war spärlicher geworden, nachdem dieser sich von seiner ersten Frau zugunsten seiner 25 Jahre jüngeren Sprechstundenhilfe getrennt hatte. Auch konnte sie sich nie damit anfreunden, dass ihr Sohn sich in dem von ihr finanzierten Medizinstudium ausgerechnet der Gynäkologie zugewandt hatte. Dass seine Privatpraxis sich eines ausgezeichneten Rufes unter der besten Gesellschaft erfreute, vermochte sie nur wenig zu trösten. „Immer nur diese Weiber! pflegte sie zu greinen. „Was er nur davon hat?
Nun war Hermine weg. Ohne ein Sterbenswort zu hinterlassen. Anrufe bei sämtlichen Fluggesellschaften, die Teneriffa oder Gran Canaria bedienen, ob eine Hermine-Adele Hudefarth in den Passagierlisten der letzten 10 Tage zu finden sei, liefen ins Leere. „Vielleicht, so tröstete die Beamtin bei der Polizei die Ratlosen, „ist sie ja mit einer Freundin zu einem Last-Minute-Ziel gereist, so ganz plötzlich, weil vielleicht ein geplanter Mitreisender erkrankt war. Sie kommt bestimmt bald wieder!
Hermine aber kam nicht wieder. Nicht nach einer Woche, nicht nach zwei. Kein Anruf, kein Brief. Ratlosigkeit und Angst auch bei den Bridge-Schwestern. Jetzt übernahm die Kripo die näheren Ermittlungen. Das Haus wurde auf Fingerabdrücke, auf Haare, Hautschuppen minutiös untersucht. Auffällig war nur, dass an manchen Gegenständen sowie an Türgriffen und dem Telefon überhaupt keine Fingerabdrücke zu finden waren. Wer hatte hier und weshalb alles abgeputzt? An der Haustür und am Geländer der Eingangstreppe vor dem Portal fanden sich äußerst spärliche Reste von einem Puder, wie er auch an Latexhandschuhen verwendet wird. Der Garten wurde mit Metallsuchgeräten und solchen Spezialkameras durchsucht, die Unterschiede in der Dichte des Erdreichs hätten erfassen können. Im Geräteschuppen und der alten Garage offenbarten üppige Spinnweben, dass hier seit langer Zeit keinerlei Aktivitäten stattgefunden hatten. Niemand hätte hier einen Spaten, eine Schaufel oder einen Besen entnehmen können, ohne deutliche Spuren zu hinterlassen.
Inzwischen war natürlich auch Hans-Herberts Schwester aus Westcliff-on-Sea angereist, Mrs. Emely-Olga Thompson, zwei Jahre älter als ihr Bruder. Sie war in England „hängengeblieben", schon während ihres Studiums der Anglistik, Literatur des Mittelalters und Geschichte, natürlich in Eton. Adam Thompson hatte der hübschen Deutschen alsbald den Hof gemacht. Sie wurde schwanger, brach das Studium ab, auch weil Mutter Hermine den Geldhahn abdrehte. Sie gebar zwei Töchter, Rosemary und Eliza, inzwischen erwachsen und gut verheiratet. Schon am Telefon, als sie zuerst vom Verschwinden der Mutter erfuhr, riet sie, man müsste den besten Detective engagieren, der zu finden sei. Kurz darauf schon sandte sie ein E-Mail: The Velmonds - a wonderful family in our neighbourhood - told me, the absolut very best detective all over the world would be their son Lothar Velmond, who - by the way - lives in Munich. Mr. Velmond undoubtely will be able to find out where our beloved mother has gone!
Zu Deutsch: Eine Familie Velmond wohne in ihrer Nachbarschaft, und ihr Sohn Lothar Velmond sei der beste Kommissar, den man weltweit finden könne und wohne auch noch in München. Ganz ohne Zweifel würde er unsere geliebte Mutter ausfindig machen.
Die Akte Hermine-Adele Hudefarth, geb. Bergloh, blieb voller Rätsel und offener Fragen. Suchanzeigen an alle Polizeidienststellen im In- und Ausland, Befragungen von Nachbarn, noch überlebenden Schulfreundinnen, natürlich ebenso bei der geschiedenen ersten Ehefrau, erbrachten nicht den geringsten Anhaltspunkt. Dennoch konnten sich die Behörden auch nach einem dreiviertel Jahr noch nicht entschließen, die Verschwundene für tot erklären zu lassen. Nicht einmal zur freien Nutzung wurde die Villa freigegeben. Wollten Hans-Herbert oder Else-Marie im Haus nach dem Rechten schauen, es putzen lassen, die Heizung soweit laufen lassen, dass die Wasserleitungen nicht einfrieren, so musste stets eine Polizistin oder ein Kollege die Aktionen überwachen und kontrollieren, dass nichts Wertvolles entnommen würde. Waren seidene Nacht- und antike Unterwäsche wertvoll? Die vielleicht auch, aber ganz gewiss das darin versteckte Schmuggelgut - Geld oder Schmuck.
Erst mit der Zeit wurden die Auflagen gelockert, schon weil sich kaum Polizistinnen oder Polizisten bereit fanden, sich samstags oder sonntags in der Hudefarth-Villa auf einer Bank zu langweilen, während die Zimmer durchgelüftet, staubgesaugt, die Wasserleitungen durchgespült und wenigstens ein wenig geputzt wurde. Schließlich wollten die potenziellen Erben die wertvolle Immobilie nicht verkommen lassen.
Lothar Velmond, mit dem man sich kurz nach der Anreise von Mrs. Thompson zum Tee im Salon der Villa traf, schien nicht abgeneigt, den Fall zu übernehmen, wenn aus dem Kommissariat in der Münchner Ettstraße dazu Grünes Licht gegeben würde. Rätselhafte Fälle wie einst, als in einer katholischen Kirche während des Gottesdienstes eine skelettierte Leiche von der Decke fiel, faszinierten ihn besonders.
Höchst merkwürdig empfand er, dass es der 30jährige Sohn Philipp aus der ersten Ehe des Dr. Hudefarth mit Edeltraut nicht für angemessen hielt („decent"), am Familientreffen teilzunehmen. Für das Fehlen von Edeltraut hatte man jedoch Verständnis. Zwischen ihr und Else-Marie herrschte bittere Feindschaft.
Zunächst jedoch verlief alles sozusagen im Sande - Stoff für Phantasien von der Art, Hermine sonne sich an einem thailändischen Strand und sei Hals über Kopf mit einem neuen Liebhaber abgehauen, weil sie sich von ihren Kindern verlassen gefühlt habe. Sie schäme sich andererseits über ihr wenig katholisches Verhalten. Auch ein schwarzarbeitender kroatischer Gärtner, niemand wusste den Namen, irgendwas mit i? am Ende, kam in Betracht, die alte Dame nach Split oder Opatja entführt zu haben. Dass es jedoch keinerlei Kontenbewegungen gab, sprach gegen alle noch so schönen Gedankenspiele.
Der zweite Fall: Maria Solemnis Hüttner
Anna Weidner war so aufgeregt, dass sie sich mehrfach verwählte, als sie gegen 17:00 Uhr Maria anrief. Natürlich war Maria da! Maria müsste da sein! Wo sollte sie sonst sein?
Klar - sie hätte sich alles leisten können, Reisen, Theater, Ausstellungen; denn sie hatte nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihren Mann beerbt. Ihre Tochter Judith lebte im Ausland, gut versorgt, wie man sagte. Statt sich jedoch mit ihren über 70 Jahren den schönen Dingen des Lebens hinzugeben, widmete sie sich ausschließlich Werken der Nächstenliebe. Wie die adligen Fräulein im Mittelalter, dachte Anna. Gut für die Nachbarschaft; denn man konnte ihr alle und alles anvertrauen – vom Säugling bis zur pflegebedürftigen Schwiegermutter. Und Anna bräuchte sie jetzt dringend. Sofort! Ihr Sohn hatte einen Sportunfall gehabt und musste abgeholt werden. Wer sollte da auf die kleine Schwester aufpassen? Maria, wer denn sonst?
Irgendwann gab Anna auf. Wahrscheinlich war ihr ein anderer Hilfsbedürftiger zuvor gekommen. Sie packte Klein-Alma ins Auto und fuhr los.
- - - - -
„Wo ist Maria Solemnis? fragte Bruder Gregor und ließ seine kleinen schwarzen Augen mit durchdringendem Blick über die Anwesenden schweifen, ohne jemanden direkt anzuschauen. Die Anwesenheit bei den monatlichen Treffen der „Lebenshilfe-Gruppe
war eines der wichtigsten Gebote.
Hier im Meditationsraum hatten alle ihre festen Plätze - getrennt nach Frauen und Männern. Die Schemel waren in Form eines Dreiecks angeordnet, an dessen offener Seite Gregor stand. So konnten ihn alle Teilnehmer sehen, ohne den anderen ins Gesicht zu blicken.
Es waren ausschließlich Witwen und Witwer, die Bruder Gregor - wie er sich nannte - in dieser von ihm gegründeten „Conquiesto-Lebenshilfe-Gruppe angeworben hatte. Maria Solemnis Hüttner gehörte zu seinen ältesten „Kundinnen
.
„Schwester Klara Imolata, wandte er sich an eine der Teilnehmerinnen, „Sie hatten die Aufgabe, Maria Solemnis um 18:00 Uhr abzuholen.
„Sie war nicht da." rechtfertigte sich die Angesprochene.
„Nicht da? Das klang wie ein schwerer Vorwurf. Klara zuckte zusammen. „Ich habe sicher zehnmal geläutet
.
„Warum haben Sie nicht nachgesehen?"
Die Frage war berechtigt. Jedem Mitglied der Gruppe war eine Hüterin oder ein Hüter an die Seite gestellt. Diesem übergaben sie beim so genannten „Aufnahmeritual" den Wohnungsschlüssel und eine Vollmacht, die sie berechtigte, zu jeder Zeit die Wohnung oder das Haus des Anvertrauten zu betreten.
Klara senkte den Kopf. Sicher würde ihr Bruder Gregor später in einem privaten Gespräch eine verdiente Buße auferlegen.
Gregor entrollte ein Bild. Es stellte ein Labyrinth dar. Dann befahl er allen, diese einprägsame Abbildung konzentriert anzuschauen, sich darin zu vertiefen, um sich der Irrwege ihres eigenen Lebens bewusst zu werden. Damit begann ein Ritual; denn dieser Betrachtung würde ein öffentliches Sündenbekenntnis folgen.
Dazu kam es nicht.
Denn Klara stand auf, stieß ihren Stuhl verärgert zurück und verließ schnellen Schrittes den Raum.
Dieser kolossale Regelverstoß sprengte unvermittelt alle auferlegten Fesseln. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über Marias möglichen Verbleib und Klaras offenkundiges Versäumnis, intensiver nach ihr zu forschen. Gregor vermochte das Aufbegehren nicht mehr zu stoppen. Noch nie war es zu einer solchen Disziplinlosigkeit gekommen.
Alle Rufe nach Klara verhallten ungehört; denn sie hatte sich eilends auf den Weg zu Marias luxuriöser Villa begeben. Zögernd öffnete sie die prächtige Tür. So viel privater Wohlstand war eigentlich den Mitgliedern von Gregors Selbsthilfe-Gemeinde nicht erlaubt. Da sich jedoch Maria äußerst großzügig zeigte, wurde ausnahmsweise darüber hinweg gesehen.
Die Zimmer wirkten so, wie sie jemand für eine längere Abwesenheit herrichtet. Schonbezüge bedeckten die Biedermeier Möbel. Bilder, die zu irgendeiner Tageszeit dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen wären, hatte jemand mit Tüchern verhangen. Staub bedeckte die antiken Tische und Schränke. Es roch ungelüftet und die Luft fühlte sich trotz des relativ warmen Wetters erstaunlich kühl an.
Klara war keine mutige Frau. Nach einem eiligen Rundgang verließ sie fröstelnd das Haus – nicht ohne vorher ein paar Schubladen geöffnet zu haben.
- - - - - -
Nachbarin Anna, die ihre Kinder auch ohne Marias Hilfe längst wieder eingesammelt hatte, erwachte in der Nacht von einem Brandgeruch, der jedoch von draußen zu kommen schien. Sie weckte ihren Mann. Gemeinsam gingen sie zu Marias Haus.
Auf dem Rasen im Garten brannte ein Feuer. Funken, glühende Fetzen segelten in die Nachtschwärze, angesengtes oder schon verbranntes Papier bewegte sich schattenhaft im leichten Wind.
Emil, Annas Mann, verständigte die Polizei.
Der dritte Fall: Anna-Luise Falke
Heinz Baumann war ein geselliger Mensch. Außerdem glaubte er, dass es den Menschen gut täte, Freundschaften bis ins hohe Alter zu pflegen. Also kramte er nach zweijähriger Pause sein Verzeichnis der ehemaligen Schüler und Lehrer der Opel-Realschule in München aus der Schublade und verfasste wohl formulierte Einladungen für ein Ehemaligen-Treffen. Da sein Schulabschluss inzwischen fast 50 Jahre zurück lag, musste er damit rechnen, dass viele Adressen oder Telefonnummern nicht mehr stimmten. Aber noch immer war es ihm gelungen, herauszufinden, wo die Leute hingezogen waren, ob sie überhaupt noch lebten und wann sie wo und woran sie verstorben waren.
Frau Falke musste inzwischen fast 80 sein. So wunderte er sich nicht, dass sie auf das UAwg am Ende seines Briefes nicht reagiert hatte.
Er versuchte es noch einmal per Telefon. Kein Anschluss unter dieser Nummer! ließ eine Automatenstimme vom Amt vernehmen.
Er befragte einige ihrer Kolleginnen, die früher mit ihr befreundet gewesen waren, und erhielt stets dieselbe Antwort: Nein, mit Frau Falke hatten sie schon seit längerem keinen Kontakt mehr. Er wollte sich indes damit nicht zufriedengeben und rief bei verschiedenen Altersresidenzen und Heimen an. Ohne Ergebnis.
Schließlich entschloss er sich, zu der früheren Adresse zu fahren und sich bei den Nachbarn zu erkundigen. Die Kühlmannstraße ist eine kleine Seitengasse in Laim, eine Münchner Stadtviertel. Von der Nummer 7 war nichts zu sehen außer einer zwei Meter hohen Thujenhecke, hinter der das Haus verborgen lag.
Am Gartentor war ein grüner Briefkasten befestigt, so groß wie ein kleiner Schrank und mit einem Nummernschloss gesichert wie ein Tresor. Eine Möglichkeit zu läuten gab es nicht. Nur eine kleine Messingplatte wies auf den fast unleserlich gewordenen Namen hin: Falke.
Heinz Baumann ließ sich nicht so leicht entmutigen. Er ging zurück zu seinem Auto und kam mit einer langen Rohrzange wieder, mit Hilfe derer er den Inhalt des Briefkastens vorsichtig herausziehen konnte: Keine Zeitungen, aber viel Reklame und etliche Briefe, darunter seine Einladung, die er vor vier Wochen abgeschickt hatte. Vorher hatte er sich sorgsam umgesehen, dass es keine Zeugen für seine Indiskretion geben würde.
Sorgfältig stopfte er alles wieder