Die Frau ohne Handtasche: Novelle Erotique
Von Werner Siegert
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Rezensionen für Die Frau ohne Handtasche
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Buchvorschau
Die Frau ohne Handtasche - Werner Siegert
Ohne Handtasche?
Sein Blick war an der Frau haften geblieben. Er musste sie immer wieder über den Rand seiner Zeitung anschauen, wie sie da saß, in der S-Bahn, an ihrem Fensterplatz, mit ihrer grausilbernen, etwas schütteren Bubikopf-Frisur mit den Fransen über der Stirn. Ein Gesicht ohne Make-up. Blass. Leicht gealtert. Sie mochte 50 sein. Oder älter? Alles war grau an ihr, der wollene Mantel, der grob gestrickte Pullover, der Rock, die Strümpfe, bequeme Schuhe. Eine Gürtelschnalle war ihm aufgefallen - in der Erinnerung war sie mit leichtem Grün und Magenta getönt. Eine ausgeprägte Nase. Klare Augen. Sie schaute einfach geradeaus, nur manchmal nach draußen auf die vorüberhuschenden schneegepuderten Bäume und Dächer. Diese Frau war so gar nichts Besonderes. Und dennoch konnte Gregor seine Augen nicht von ihr lassen. Heimlich natürlich, über den Rand seiner Zeitung. Und immer mal dann, wenn man „wie zufällig" guckt. Nur mal so.
Aber Gregor spürte längst, dass er die Frau nicht mehr „nur mal so" anschauen konnte. Irgendetwas faszinierte ihn an ihr. War etwas Erotisches im Spiel? Warum, fragte er sich. Warum? Was konnte es sein? Da lockten weder Brüste, noch flirtende Augen, auch keine lustvollen Lippen. Die Frisur könnte die einer evangelischen Pastorin sein. Oder einer Therapeutin. Auch einer Künstlerin. Diese Stille, die von ihr ausging. War es eine meditative Stille? Oder innere Konzentration?
Später fiel ihm ein, dass er überhaupt keine Erinnerung an ihre Hände hatte. Keine Erinnerung an einen Ring, an Schmuck. Eine Armbanduhr lugte aus dem Pulloverärmel hervor, etwas kleiner als eine Männeruhr, matt-silbrig. Von Tschibo? Dass er sich nicht für die Hände interessiert hatte?
Das lag einfach daran, dass diese Begegnung überaus beiläufig, normal, interesselos geschah. Nichts Besonderes. Erst nach mehreren Stationen fiel der Schleier des Beiläufigen herab. Steigerten sich Neugier und Spannung. Formten sich in ihm Sätze wie „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?" Obwohl er genau wusste, dass er es nie wagen würde, eine solche Einladung auszusprechen.
Irgendwann spürte auch sie etwas. Oder hatte es zumindest den Anschein. Gregor hatte die Zeitung zusammengefaltet. Er hoffte inständig, die Frau würde dort aussteigen, wo auch er aussteigen müsste. Aber dazu kam es nicht. Ganz plötzlich stand sie auf, verließ abrupt ihren Platz, wartete an der Tür und schaute sich nicht noch einmal um. Jetzt wirkte sie kleiner. Etwa einssechzig. Er verfolgte sie noch durch die beschlagene Scheibe – und stellte fest, dass sie nicht einmal eine Handtasche dabei hatte. Völlig ungewöhnlich für eine Frau. Keine Handtasche! Keinen kleinen Rucksack? Nicht mal ein kleines Täschchen. Wie das?
Gregor versuchte, seinen Geschäften nachzugehen wie immer. Das aber funktionierte nicht. Er musste immer wieder an die graue Frau denken. Ihr Gesicht tauchte vor ihm auf. Die silbergrauen Fransen über der Stirn, die klaren Augen, die leicht geschwungenen Lippen, als ob sie jederzeit zu einem dezenten Lächeln ansetzen wollten. Hatte auch sie ihn heimlich ins Auge gefasst? Seine Gedanken zu erraten versucht?
Viele sagen: Zufälle gibt es nicht. Aber in einer Großstadt sich zweimal begegnen – ist das nicht ein zu großer Zufall? Die Chance wie eins zu zehn Millionen? Gregor wollte sich, um ein zeitraubendes Mittagessen zu sparen, ein Schoko-Croissant kaufen. Er musste sich in einer Schlange anstellen. Da glaubte er zu spüren, dass sein Rücken heiß wurde. Wie ein Hitzeschauer. Er drehte sich um – und schaute in das Gesicht der Silberhaarigen. Es überlief ihn wie ein Zittern. Er vergaß nachzurücken, weil er viel, viel länger, als es ziemlich gewesen wäre, die Frau ansah. Die nun auch lächelte.
Gregor trat aus der Reihe der Kuchenkäufer heraus, fasste sich den Mut, den er in der S-Bahn als total jenseits jeglicher Konvenienz verbannt hatte, und fragte sie einfach so „Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?"
Ein verschmitztes Lächeln huschte über das blasse Gesicht.
„Wenn es Ihre Zeit erlaubt?"
Manchmal erlaubt es einem die Zeit, obwohl sie es noch vor Sekunden keinesfalls erlaubt hätte. Er war in Eile. Oder? Nein, plötzlich ließ sich alles arrangieren.
„Es wäre mir ein Vergnügen. Ist doch viel angenehmer, so ein Kuchenstückchen oben im Café zu genießen, mit einem Cappuccino oder Kännchen Kaffee."
Fast willenlos, überraschend bereitwillig ließ sie sich die Treppe hinauf geleiten, als seien sie ein Paar, das sich seit langem kennt. In einer stillen Ecke half er ihr aus dem grauen Jäckchen. Aus einer angenähten Tasche angelte sie ein winziges Portemonnaie. Und lächelte. Sie lächelte scheu, wie ein schüchterner Backfisch, der zum ersten Mal ausgeführt wird. Ließ die Augen nicht von Gregor. Und er nicht von ihr.
„Übrigens, ich heiße Gregor!"
„Ich bin die Susanna!"
Sie reichten sich die Hände. Die blieben etwas länger als normal in einander liegen. Ein Austausch von Wärme, von unausgesprochenen Empfindungen?
„Eine schöne Stadt, in der Sie leben!" Susanna schaute hinaus auf den Platz vor dem Rathaus, mit der Mariensäule und den vielen geschäftigen Leuten.
„Sie sind fremd hier?"
„Nicht ganz, aber seit einiger Zeit nur sehr selten in München. Viel zu selten, ohne Hast, ohne Pflichten, nur so! Und noch nie von jemandem zu einem Kaffee eingeladen worden. Von einem fremden Mann schon mal gar nicht. In meinem Alter! Natürlich frage ich mich – warum tun Sie das?"
„Weil Sie mich vorhin in der Bahn in irgendeiner Weise fasziniert haben!"
Susanna lachte hell auf. „Fasziniert? Von mir? Von mir alten Schachtel? Sie belieben zu scherzen!"
„Ihr Gesicht, ihre Augen, alles an Ihnen gaben mir Rätsel auf! Jetzt weiß ich es. Jetzt kann ich es besser beschreiben, aber ich scheue mich, Sie könnten das als Anmache empfinden. Ihre Lippen, Ihr Mund – da war ein Lächeln, ein rätselhaftes Lächeln, wie Sie so in die Landschaft geschaut haben. Als ob Sie über etwas gelächelt haben, tief in Ihnen drin!"
„Herr Gregor, Sie müssen mich aber sehr genau beobachtet haben. Ich dachte, Sie hätten Zeitung gelesen. Dabei haben Sie in meinen Gesichtszügen gelesen. Sind Sie doch ein Schlimmer?"
„Ja, ich bin wirklich sehr schlimm. Vielleicht sollten Sie doch besser fliehen. Sie müssen wissen, Susanna, ich sammle Menschen. Ich studiere die Menschen um mich herum. Viele, die meisten, sind unergiebig für mich. Aber von manchen macht mein Gehirn sogar ein Foto. Sie prägen sich mir ein. Von manchen geht ein Magnetismus aus. Oder auch ein Strom von Wärme. Eben, als Sie sich hinter mir angestellt hatten, wusste ich ja nicht, dass Sie es waren. Aber da spürte ich diese Wärme und habe mich umgedreht!"
„Ach das sagen Sie doch nur so! Was sind Sie von Beruf?"
„Ich möchte Sie zu einem Spiel einladen: Sie machen sich