Kinderschänder
Von Werner Siegert
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Über dieses E-Book
Wo Franz Schäfer gehofft hatte, Erholung zu finden und vielleicht sogar ein neues Leben zu beginnen, erwartet ihn die Hölle. Es wird ihm sogar ein Mord angehängt.
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Buchvorschau
Kinderschänder - Werner Siegert
Mama Schäfer
Der Bauboom war ein Grund, die wahre Ursache für den Verfall des alten Häuschens war viel schwerwiegender. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde just vor dem Schäfer-Grundstück auf der anderen Straßenseite eine moderne Grundschule erbaut. 1968 musste sie erweitert werden. Gisela Schäfer, seit 1960 mit ihrem Franz verheiratet, sah nun einen jeglichen Tag die kleinen Buben und Mädels in die Schule stapfen und mittags wieder hinausstürmen. Während der Bauarbeiten war der Schulhof eine Wildnis. Zwischen den Baumaschinen durften die Kinder nicht spielen. Daher wichen vor allem die etwas älteren Kinder gern auf die Straße aus und mümmelten dort ihre Pausenbrote.
Gisela bangte stets um sie, dass sie genügend auf den Verkehr aufpassen würden. Oft wurde gehupt, manchmal hörte man Bremsen quietschen. Da kam Gisela auf den Gedanken, den Kindern das Gartentörchen zu öffnen, damit sie sich auf ihrem Rasen tummeln konnten. Dicht gedrängt saßen sie gern auf der Bank unter dem Balkon. Wenn es regnete suchten sie Schutz im Fahrradschuppen. Im Bestreben, „ihren" Kindern etwas Gutes zu tun, schenkte sie ihnen Sprudelwasser ein, auch mal Limonade. Mal hatte sie einen großen Topf Kakao gekocht. Mal hat sie eine kleine Wunde verbunden, mal kleine Händchen mit Seife und Bürste bearbeitet, mal die Zöpfe neu geflochten. Am liebsten hätte sie alle umarmt. Sie wollte ja mal Lehrerin werden und hatte schon ein paar Semester studiert. Aber ihre Noten waren zu dürftig, so dass sie es aufgegeben hatte.
Mit der Zeit kamen die Kinder, hauptsächlich die Mädchen, auch nach der Schule, wenn sie auf den Schulbus oder auf die Abholung durch ihre Eltern warten mussten. Auch gab es Leerstunden. Dann war Gisela in ihrem Element. Sie lud immer mal wieder einige dazu ein, ihre Schularbeiten im Haus zu machen - unter ihrer Hilfe. Es waren meist die sogenannten Schlüsselkinder, auf die zuhause ohnehin niemand wartete.
Es waren „ihre Kinder" - der Ersatz für den sehnsüchtig, aber vergeblich erwarteten eigenen Kindersegen. Deshalb traf es sie hart, als nach Abschluss aller Bauarbeiten, nachdem ein Zaun um die ganze Anlage gezogen war, die Schulleitung ein Verbot erließ, das Schulgelände vor Unterrichtsende zu verlassen. Mit einem Mal blieben die Kinder aus. Nur wenige wagten es, schnell hinüber zu rennen, sobald die Pausenaufsicht mal in die andere Richtung schaute. Natürlich war die Anordnung wohl begründet: Es ging um die Haftung bei Unfällen. Wer konnte etwas dagegen haben?
Gisela aber litt. Es war wie der Entzug einer liebgewonnenen Droge, die die eigene Kinderlosigkeit für ein paar Stunden und Tage vergessen machte. Franz erhob nie Vorwürfe gegen sie. Er wusste nur, dass sie litt und von Tag zu Tag trauriger wurde. Daran konnten auch die drei, vier Mädels und Jungens nichts ändern, die es sich nach Schulende bei „Mama Schäfer" gut gehen ließen. Das war es dann auch, was ihr den nächsten Schock versetzen sollte.
Eine Tages stand eine völlig echauffierte Frau vor ihrer Tür, ließ sie, die kaum Zeit hatte, ihre Schürze abzubinden, überhaupt nicht zu Wort kommen und brüllte:
„Wenn Sie es noch einmal wagen, sich an meiner Tochter zu vergreifen, sie kinderloses G’schwerl, Sie! Schaffen Sie sich doch eigene Kinder an, ehe Sie hier die Supermutter rauskehren! Wenn ich meine Tochter noch einmal von Ihnen reden höre, von der ach so guten ‚M a m m a Schäfer’, dann schicke ich Ihnen den Anwalt auf den Hals wegen Kindesmissbrauch! Lassen Sie gefälligst Ihre Finger von unseren Kindern! Sie ..., was man von Ihnen halten soll, sieht man ja an Ihrer Bruchbude und der Wildnis hier. Das ist ja ein Schandfleck für die ganze Gemeinde! Die Schulleitung wird Ihnen noch ein g’scheites Schreiben ins Haus schicken! Da werden Sie sich aber wundern! Zigeunerpack!"
Gisela brachte vor lauter Entsetzen kein einziges Wort heraus und knallte nur noch die Türe zu, ehe sie im Haus zusammenbrach und auf allen Vieren weinend in die Küche kroch. Dort fand sie der Franz am Abend zusammengekrümmt, frierend, zitternd am ganzen Körper und unfähig, ihm in einigermaßen zusammenhängenden Sätzen zu schildern, was ihr widerfahren war.
Sie konnte noch nicht einmal sagen, wie diese Mutter heißt und wessen Tochter so zuhause von „Mama Schäfer" geschwärmt hatte, dass sich furiose Eifersucht daran entzünden musste.
„Was hat sie alles zu dir gesagt?"
„G’schwerl hat sie uns genannt. Zigeunerpack! Mit dem Anwalt hat sie gedroht! Aber ich weiß ja nicht mal, wer sie war. Und wir bekämen von der Schule noch ein gescheites Schreiben! Wegen Kindesmissbrauch! Dabei haben wir uns doch nur gekümmert ...."
Ein solches Schreiben blieb jedoch aus. Dafür lag an einem der nächsten Tage ein rausgerissenes Heftblatt mit einer zierlichen Mädchenhandschrift im Briefkasten:
„Liebe Mama Schäfer, ich darf sie doch so nenen. Ich bin die Uschi Gschwandtner. Es tut mir leid, dass mit meiner Muter. Ich habe sogar Schläge bekommen u. darf nicht mehr fernsehn wenn ich noch mal von ihnen rede. Und du hättest mich misbracht. Ich weis nicht was das ist, fieleicht weil du mich mal kämt hast und die schöne Spange. Die hat die Mutti in den Mühl geschmissen, aber ich hab sie rausgefunden und nun an meinem Geheimen Plaz. Fiele Grüze!"
Das sollte nochmal ein wichtiges Dokument werden.
Einige wenige Kinder kamen gottlob immer noch zu Gisela. Eine dicke Albanerin mit einem unaussprechlichen Namen und ein sehr hübsche Türkin mit Namen Yasemin, mit langen, fast schwarzen Haaren. Die wäre sonst bis nachmittags allein zuhause gewesen. Ab und zu auch mal zwei Buben, die auf der Straße Fußball gespielt haben. Als deren Ball in Schäfers Garten flog, baten sie sehr schüchtern, sich den Ball holen zu dürfen. Gisela sagte ihnen, sie sollten lieber hier im Garten spielen. Auf der Straße sei es zu gefährlich.
Gisela aber ging es immer schlechter. Immer häufiger fand sie ihr Mann abends zusammengekrümmt unter dem Küchentisch. Sie traute sich nicht mehr, aus dem Fenster zu schauen. G’schwerl und Zigeunerpack - diese Beleidigungen hatten im wahrsten Sinne des Wortes ihr unheilbares Leid zugefügt. Zudem musste sie sich Zügel anlegen; denn all zu sehr war sie versucht, ihre frustrierte Kinderliebe nun noch stärker über die wenigen Kinder auszuschütten. So erschrak sie - und es ging wie ein elektrischer Schlag durch ihren immer ausgezehrteren Körper, dass sie Yasemin aus dem Affekt auf die Stirn geküsst hatte. Dummerweise hatte die albanische Dickmamsell das mitgekriegt - und ihre Eifersucht entzündet. Nicht nur, dass sie zu weinen anfing und aus dem Haus stürzte. Sie plapperte das überall rum. Gottlob blieb das ohne direkte Folgen. Zunächst. Kinder plappern halt. Eine Zeitlang kam das Mädchen nicht mehr wieder. Dann aber doch - und Gisela versuchte, ihr nun die doppelte Liebe zukommen zu lassen.
Eines Tages klingelte sie dann und berichtete, ihre Mama sei schon wieder schwanger, und sie hätte doch schon vier Geschwister. Auf die müsse sie jetzt häufiger aufpassen.
„Schwanger ... !" Das Wort allein hatte auf Gisela eine Wirkung, als hätte man ihr eine lähmende Spritze verpasst. Franz wusste davon nichts. Er konnte seine Frau nicht erheitern, so sehr er alles versuchte - und ihr seit längerem etwas verschwieg: Er hatte seine Arbeitsstelle als Friseur verloren. Schon sein erster Versuch, nach seiner Meisterprüfung einen eigenen Salon zu führen, war schief gegangen. Ihm lag nichts an Werbung. Er glaubte, die Leute müssten von allein zu ihm kommen. Dann hatte er Pech mit zwei angestellten Frisösen. Die hatten so manche Frisur vermasselt, kannten sich mit Dauerwelle nur mittelmäßig aus. Zudem schwätzten sie zuviel und arbeiteten unkonzentriert. Kurzum: Bald musste er Insolvenz anmelden. Eine Schmach, die sie noch zusammen tragen konnten, Gisela und er. Sie hielten zusammen. Geld war ja noch da, so dass er alle Schulden zurückzahlen konnte. Er hatte ja das Ruinengrundstück seiner Eltern an die Stadt verkauft. Einen Friseurstuhl aus seinem Laden lud er schließlich auf einen Kleintransporter und stellte ihn zuhause in die Nebenkammer, die mal ein Kinderzimmer hätte werden sollen.
Dann klapperte er jeden Friseurladen ab, ob sie nicht jemanden bräuchten. Einen Mann? Er musste sich nur umblicken: An fast jedem Stuhl, vor jeder Haube stand eine junge Frau. Jung - für junge Frisuren, für aufgepeppte Schnitte und verwegene Färbungen. Irokesenschnitte, Stufenglatzen, Vokuhila, sowas hatte er nie gelernt, und war auch zu konservativ dafür. Mit Mühe und unter starken Einschränkungen fand er schließlich doch eine Halbtagsstelle. Er - der Meister! Er - der nichts Attraktiveres an Menschen fand als ihren Haarschmuck! Man überließ ihm die Nullachtfünfzehn-Kunden. Zuhause schuf er sich aus seinem Freundeskreis eine kleine Privatkundschaft.
Eines Tages fand er Gisela wie leblos im Flur liegen. Rasch rief er den Arzt, den Notarzt. Der die sofortige Einlieferung in eine Klinik veranlasste. Gisela hatte einen Selbstmordversuch unternommen. Mit Rattengift. Zwar konnte sie gerettet werden, jedoch wurde die Einweisung in eine psychiatrische Heilanstalt verfügt. Die Diagnose lautete auf eine schwere endogene Depression.
Der Kinderschänder
Als Franz mittags von der Arbeit kam, saßen die Kinder schon auf der Treppe. Mehr als sonst. Natürlich wollten sie wissen, wo Frau Schäfer ist. Und ob sie denn auch bleiben dürften, wenn Frau Schäfer nicht zuhause ist. Sie