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Elise-Trilogie / Elise und die Summe der Tage: Bd.1-3 / Band 3 der Trilogie
Elise-Trilogie / Elise und die Summe der Tage: Bd.1-3 / Band 3 der Trilogie
Elise-Trilogie / Elise und die Summe der Tage: Bd.1-3 / Band 3 der Trilogie
eBook541 Seiten7 Stunden

Elise-Trilogie / Elise und die Summe der Tage: Bd.1-3 / Band 3 der Trilogie

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Über dieses E-Book

Der Abschluss der Elise-Trilogie führt in die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges und die erste Zeit danach. Mit dem Kriegsende ist das Böse nicht aus der Welt. Das kollektive Schweigen über die Ereignisse spricht deutlicher, als es Worte tun würden. Doch zahlreiche kleine Episoden – das Anbohren von Alkoholtanks oder Schwarzschlachten in den turbulenten Nachkriegsmonaten – bereiten den Leserinnen und Lesern im besten Sinne ein nachdenkliches Lesevergnügen.
Den Überlebenden stellen sich Fragen, die bis heute aktuell sind: Warum habe ausgerechnet ich überlebt? Wie kann das Böse eine solche Macht über die Menschen erringen?
Wolfgang Bellmer gelingt es, diese philosophischen Überlegungen mit den spannenden Erlebnissen seiner Protagonisten Elise und ihrem ersten Sohn Conrad zu verknüpfen: Elise muss ihr Leben im Holzminden der Nachkriegszeit neu organisieren und Conrad überlebt seinen Einsatz als Wehrmachtssoldat in Italien nur mit sehr viel Glück.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. März 2018
ISBN9783959540759
Elise-Trilogie / Elise und die Summe der Tage: Bd.1-3 / Band 3 der Trilogie
Autor

Wolfgang Bellmer

Wolfgang Bellmer, Jahrgang 1940, ist in Holzminden geboren. Der frühere Rechtsanwalt und Notar arbeitet als Schriftsteller und Maler. Bellmer lebt in Holzminden, Berlin und Rerik. Er ist geschäftsführender Gesellschafter einer Immobiliengruppe mit Schwerpunkt auf Wohnanlagen in Berlin und Nord- bzw Ost-Deutschland.

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    Buchvorschau

    Elise-Trilogie / Elise und die Summe der Tage - Wolfgang Bellmer

    Wolfgang Bellmer

    Elise

    und die Summe der Tage

    Band 3 der Elise-Trilogie

    Verlag Jörg Mitzkat

    Holzminden 2019

    Besonderen Dank möchte ich Gabriele de’ Medici sagen, der mich mit seiner Familie während meiner Italien-Recherchen so freundlich in Villa di Ingnano, wo ein guter Teil der Handlung spielt, aufgenommen und mich sachkundig, auch mit Blick auf die große Geschichte seiner Familie, unterstützt hat.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-95954-075-9

    © Wolfgang Bellmer

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    www.mitzkat.de

    Editorischer Hinweis:

    Die Handlung dieses Buches ist nicht ganz frei erfunden und die Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen ist nicht immer zufällig. Allerdings wurden alle Namen verändert und vieles durch die Fantasie des Autors ergänzt. Der Autor bezieht sich in seinem Roman auf tatsächliche historische Ereignisse, allerdings wurden diese Geschehnisse der schriftstellerischen Absicht untergeordnet. Das hat historische Ungenauigkeiten zur Folge, für die Autor und Verlag um Nachsicht bitten.

    1

    ELISE

    Holzminden, 6. April 1945

    Elise Beckmann drückte die beiden armlangen Hebel in die Waagerechte und schloss die Eisentür, die in den Luftschutzkeller führte. Hier hatten sie und ihr kleiner Sohn Wolfgang die vergangene Nacht verbracht, zusammen mit den Nachbarn, die sich keinen Luftschutzkeller leisten konnten.

    Elise seufzte bei dem Gedanken an ihren Jungen. Die ganze Nacht hatte er angstgekrümmt in ihren Armen gelegen und gewimmert, wenn die schweren Bomber über das Haus hinweggedröhnt waren. Gott sei Dank war es seitdem ruhig geblieben, aber was bedeutete das schon. Das Luftwarnsystem funktionierte sowieso nicht mehr, und die Sirenen heulten erst, wenn die Flieger schon längst über ihnen waren.

    Und nun hatte sie Wolfgang vor einer halben Stunde mit Elfriede, dem Hausmädchen, nach Altendorf zu den Bollwinkels auf das einsame Gehöft in der Feldmark geschickt, wo er bleiben konnte, bis sie zurück sein würde. Das war besser, als womöglich hier im Haus verschüttet zu werden – ein so schrecklicher Gedanke, dass sie ihn nicht zu Ende denken mochte.

    Sie hatte sich endlich dazu entschlossen, nach Boffzen zu fahren und ihren Mann aus den Klauen des Volkssturms zu befreien – koste es, was es wolle. In ein paar Stunden würde sie wieder zurück sein. Wenn sie ihren Mann überhaupt noch retten konnte. Wenn diese Durchhaltefanatiker im Volkssturm ihn nicht längst für das sterbende Vaterland geopfert hatten. Wenn er noch lebte ...

    Wenn, wenn, wenn.

    Aber wenn alles gut ging, würde sie ihre Familie wieder zusammen haben. Bis auf Conrad natürlich, aber der war weit weg, als Soldat, als viel zu junger Soldat, irgendwo in Italien ...

    Die Garage war leer. Der schöne glänzende schwarze Mercedes W 21, den August und sie sich 1937 gekauft hatten, war schon kurz nach dem Kriegsausbruch konfisziert worden. Ebenso das Göricke-Herrenfahrrad, das nun in irgendeiner Fahrradschwadron Dienst tat.

    Die Hühner, die hinter dem geöffneten Kellerfenster in ihrem Verschlag saßen, den August, ungeschickt wie er war, mehr recht als schlecht angebaut hatte, gackerten aufgeregt und blickten neugierig durch den Maschendraht zu ihr ­herunter. Es stank nach Hühnermist. Es war schon wieder Zeit, gegen diese schrecklichen Milben zu spritzen. Aber was tat man nicht alles für ein paar Eier ... Wenn es überhaupt welche gab, bei all diesen Bomben. Auch Hühner waren schließlich lebendige Wesen, die ihren Frieden wollten.

    Elise nahm das Viktoria-Damenfahrrad, das man ihnen gelassen hatte. Ein stabiles Rad. Vorkriegsware. Dicke Ballonreifen und Spiralen als Federung unter dem Ledersattel.

    Auf der Sollingstaße war es ruhig. Totenstill.

    Totenstill. Eigenartig, wie ein Wort, das man früher eher gedankenlos in den Mund genommen hatte, an schrecklicher Bedeutung gewonnen hatte!

    In der Ferne hörte Elise das Wummern von Geschützen. Sehr viel lauter als gestern. Die Amis mussten Polle bereits erreicht haben. Sie würden inzwischen wissen, dass die braunen Idioten die Holzmindener Brücke gesprengt hatten. Als ob dadurch noch irgendetwas gerettet werden konnte!

    Acht Stunden höchstens, dann würden sie da sein.

    Sie musste sich beeilen, wenn sie ihren Mann noch rechtzeitig zurückholen wollte.

    Elise raffte ihren Rock, schwang sich in den Sattel, trat kräftig in die Pedalen und rollte bergab der Innenstadt entgegen.

    Als sie unter der Bahnbrücke hindurchfuhr, roch sie die Rauchwolken, die mit jedem Meter beißender wurden. Sie blickte zur Seite und sah erleichtert, dass ihr Geburtshaus noch stand, so unberührt, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Und auch nicht das ganze Unglück mit der Bank und mit Wolf. Nachdem Elise die Villa verkauft hatte, um die Schulden der HARNACK-BANK abzuzahlen, war die Reichswehr dort eingezogen und hatte sie zehn Jahre lang als Offizierskasino genutzt. Aber auch damit würde es nun bald vorbei sein, und Elise fragte sich, was das Schicksal mit dem so vertrauten Gebäude, in dem sich die Erinnerungen stauten, im Schilde führen mochte. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß, und für einen Augenblick genoss Elise ihr Selbstmitleid. Dann aber kam die zerbombte Bauschule in Sicht, und die Gegenwart hatte sie wieder.

    Das Denkmal des Bauschulgründers, ihres Urgroßvaters, stand seltsam unversehrt neben den rauchenden Trümmern der Schule, die seit der letzten Bombardierung noch mehr in sich zusammengefallen waren. Segnend hielt Elises Vorfahr seine Hand zur Stadt hin, aber das Unheil, das die feindlichen Bomber brachten, hatte auch er nicht aufhalten können.

    Angefangen hatte es damit, dass ein gedankenloser Offizier seine beiden Lastwagen, die bis oben hin mit Panzerfäusten beladen waren, unter den Bäumen neben der Schule halten ließ – unbelaubten Bäumen, die keinen Sichtschutz boten, weshalb die Tiefflieger ihre Beute leicht ausmachen konnten und in Brand schossen. Die Panzerfäuste explodierten, und bald brannte das ganze Schulgebäude lichterloh.

    Am Nachmittag kreisten dann erneut Bomber über der Stadt. Sie kamen von Westen, wie das Gewitter, das die Stadt einhüllte und den Piloten die Sicht nahm. Ein Großteil der Bomben – die ausgereicht hätten, ganz Holzminden auszulöschen – landete in unbebautem Gelände am Stadtpark beim Thingplatz, den sich die neuen Machthaber gebaut hatten, damit sie ihren Hakenkreuzen zujubeln konnten.

    Die übrigen Bomben verwüsteten große Teile der Innenstadt. Mehr als 200 Tote. Unzählige Verletzte. Das burg­ähnliche Gebäude in der Bahnhofstraße, in dem die NSDAP-

    Kreisleitung residierte, brannte bis auf die Grundmauern nieder, während Fremdarbeiter unter scharfer Bewachung Kisten aus den Kellern auf Lastwagen schleppten, die eilig davonfuhren. Wohin, wusste niemand.

    Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, und mein Mann soll den Kopf für sie hinhalten, dachte Elise erbost.

    Nicht mit mir!

    Sie streckte den Arm aus und bog in die verlassen daliegende Fürstenbergerstraße ein, die nach Süden führte. Unwillkürlich musste sie lächeln. Die Welt zerfiel in Trümmer, und wenn man der BBC glauben konnte, verhandelte Großadmiral Jodl gerade irgendwo im Norden Frankreichs über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands – und sie, Elise Beckmann, verwitwete Harnack, geborene Rennefeld, Mutter zweier Söhne, streckte immer noch brav den Arm aus, wenn sie abbiegen wollte. Ordnung musste eben sein, selbst wenn es nichts mehr zu ordnen gab. Aber vielleicht hatte selbst das einen tieferen Sinn.

    Dort, wo noch vor wenigen Monaten die rot-weißen Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz vor den Häusern im Winde geweht hatten, hingen nun schlaff und regungslos weiße Bettlaken in der fahlen Frühlingssonne. In jedem Fenster eins, man konnte nicht vorsichtig genug sein.

    Was ihr Mann, was August wohl machte? Ob er schon wusste, dass die letzten Stunden des Regimes angebrochen waren? Erst vor fünf Monaten hatten sie ihn doch noch zum Volkssturm eingezogen. Das letzte Aufgebot. Und jetzt war er mit vier Kriegsinvaliden eingeteilt worden, den Steinkrug zu verteidigen, eine Ausflugsgaststätte, die, zwischen Lüchtringen und Boffzen hoch oben auf einem Felsen hockend, das Wesertal überblickte. An dieser strategisch herausragenden Stelle, so hatte man den Männern erklärt, seien sie genau an dem Ort, an dem die „anglo-amerikanischen Mordbrenner" noch aufgehalten werden könnten. Elise war sich nicht sicher, ob die Kerle das nicht vielleicht sogar glaubten. Männer!

    Zur Erfüllung ihres Auftrages hatte man ihnen die einzige Panzerfaust, die die Explosionen an der Bauschule überstanden hatte, mitgegeben. Und ein MG 42, dem der Verschlusspuffer fehlte. Elise wusste zwar nicht, was ein Verschlusspuffer war, ahnte aber, dass ohne ihn das Maschinengewehr nicht würde schießen können. Dies beruhigte sie zunächst. Vielleicht konnte der hastig eingerichtete Adlerhorst sogar unentdeckt bleiben, wenn niemand einen Schuss abgab. Aber gerade darauf mochte sie nicht vertrauen. Männer und Waffen. Da konnte die Welt schon längst untergehen, irgendwer würde doch noch kämpfen und ein Held werden wollen. Warum waren Männer so leichtgläubig und taten auch jetzt noch, was man ihnen befahl?

    Die amerikanische Artillerie samt Tieffliegern würde jedenfalls kurzen Prozess mit den späten Helden machen.

    Wenn sie denn entdeckt würden.

    Aber das, so hoffte Elise inständig und trat noch heftiger in die Pedalen, würde sie vielleicht noch verhindern können.

    Einen Kilometer weiter, beim Sägewerk, rauchende Trümmer rechts und links der Straße. Leiterwagen, die vollgepackt wurden mit dem, was übriggeblieben war. Menschen liefen wie in Zeitlupe ratlos zwischen Schutt, zerborstenen Fensterrahmen, Kleiderschränken, Kinderbetten, Stühlen und Krimskrams herum, das innerhalb einer Minute seinen Sinn verloren hatte. Und immer wieder der Blick zum Himmel, weil die Tiefflieger jederzeit wieder auftauchen konnten. Nichts wie weg hier.

    Die Straße führte nun unterhalb des Stadtparks entlang. Dort oben, am alten Bismarckturm, hatte die Stadt ihre jährlichen Schulfeste gefeiert. Elise konnte sich noch gut daran erinnern. Immer an einem Spätsommertag waren die Kinder der Holzmindener Volkschulen, sonntäglich gekleidet, hinter einer Blaskapelle her zum Stadtpark gezogen. Verwaltungen und Betriebe schlossen ihre Pforten. Alt und Jung strömten hinaus in die Natur, um mit den Kindern zu feiern. Auf der Wiese unterhalb des Turmes, im Schatten der Bäume, lagen die Frauen auf Decken und aßen selbst gebackenen Kuchen und sahen ihren Kindern beim Spielen zu, während die Männer, die flachen Strohhüte ins Genick geschoben, an provisorischen Theken dem frisch gezapften Bier zusprachen. Wenn das Fest im vollen Gange war, sah man hier und dort leicht schwankende Väter auf der Suche nach einem einsamen Plätzchen durch das Gelände wanken. Die Musik spielte, und Luftballons standen in der Sommerluft.

    Welch eine Idylle!

    Und wie schnell war die schöne Zeit vorbei gewesen. Für Elise noch ein bisschen schneller. Nach Rüdiger Siekmanns Avancen war sie Hals über Kopf in die Höhere Töchterschule nach Wolfenbüttel verbannt worden. Ein unschuldiger Kuss – von welcher Wichtigkeit war das damals gewesen ...

    Rüdiger Siekmann.

    Der war inzwischen verheiratet und hatte zwei erwachsene Söhne. Clever wie er war, hatte er all die Jahre heimlich BBC gehört und lange vor den anderen gewusst, dass alles zusammenkrachen würde, dass alles zusammenkrachen musste. Und dass die Deutschen längst über ihre Kapitulation verhandelten. Und dass, wenn sie in Holzminden Glück hatten, die Tommys oder die Amis früher da sein würden als die Russen.

    Glück.

    Glück hatte er auch persönlich gehabt. Hatte zwei Weltkriege überlebt. Als im Zweiten die Bomben fielen, hatte eine ihn verschüttet, und die nächste hatte ihn wieder freigesprengt. Elise gönnte es ihm von Herzen, nicht nur wegen der Liebelei, die sie immer miteinander verbinden würde. Er hatte ihre Haut gerettet, mehrmals, zuletzt als er ihr seinen schüchternen Cousin August Beckmann schickte, der sie vor dem Landgericht freigekämpft hatte. Mit List und Tücke. Und mit Liebe.

    Liebe?

    Was war Liebe?

    Liebe vor zehn Jahren. Liebe heute. Kann sich Liebe ändern, die Farbe wechseln wie ein Chamäleon, sich dem Hintergrund anpassen?

    Liebe kann Kinder bekommen.

    Wolfgang.

    Ihr kleiner Sohn. Ihr Sonnenschein.

    Ja, es war wohl Liebe. Loyalität und Freundschaft. Manchmal fragte sie sich, wie ihr Leben verlaufen wäre mit diesem charmanten Franzosen, diesem Fliegerhelden. Pierre Vernin. Einmal richtig verliebt sein, einmal den Rausch der Liebe leben. Amour fou. Romantik und Leidenschaft.

    Es hatte nicht sein sollen. Stattdessen: Loyalität und Treue. Was hatte sie dafür bekommen? Wärme?

    Geborgenheit, Vertrauen.

    Ich darf nicht mehr darüber nachdenken. Das hatte sie sich schon so oft gesagt. Wenn ich darüber nachdenke, werde ich nie glücklich werden. Ich muss zufrieden sein. Ich muss darum kämpfen, zufrieden zu sein. Deshalb bin ich ja auch gerade hier. Wieder mal ein Kampf – sollte das ewig so weitergehen?

    Elise tauchte aus ihren Gedanken auf und blickte sich um. Der Ort lag hinter ihr. Die Straße stieg an und verlief nun am Hang entlang, folgte dem Tal, das der Fluss tief unter ihr in die Landschaft gegraben hatte.

    Die noch braunen Felder und die schon hellgrünen Wiesen lagen im Dunst. Dichter silbriger Nebel umlagerte die Bäume. Wind kam auf und trieb die Schwaden vor sich her. Die Weser wand sich schwarz glänzend durch die Ebene, staute sich vor der gesprengten, in sich versunkenen Weserbrücke und floss dann weiter dem Kiekenstein zu, von dem sie wusste, dass er auch in diesem schrecklichen Jahr am ersten Mai wieder grün sein würde wie all die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte zuvor. Das hatte auch eine Diktatur nicht ändern können.

    Und trotzdem, nachdem die Briten die Edertalsperre bombardiert hatten, sah es aus, als ob mit dem Wasser der Weser auch das Leben langsam fortfloss. Selbst hier oben am Berg roch die Luft nach Verfall.

    Hinter dem Kiekenstein stiegen schwarze Rauchwolken auf. Sie platzten stumm aus dem Nichts hervor. Elise begann zu zählen: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwa... Dann erst hörte sie die Explosionen.

    Wie war das noch mit der Schallgeschwindigkeit? 330 Meter in der Sekunde, hatte die Kieckbusch, die alte Wolfenbüttler Direktorin, gepredigt. Wieso erinnert man sich an so ein Detail? Und warum weigert sich das Gehirn gleichzeitig, die großen Dinge zur Kenntnis zu nehmen? Vielleicht, weil alles wichtig erscheint, was sich als wichtig gebärdet.

    Sie rechnete und hatte dabei das absurde Gefühl, als ob die alte Kieckbusch sie wieder kritisch durch ihr Lorgnon musterte.

    Einundzwanzig bis vierundzwanzig? Vier Sekunden. Mal 330. Du lieber Gott. Viermal dreihundert? Eintausendzweihundert. Vier mal dreißig? Einhundertzwanzig. Macht eintausenddreihundertzwanzig. Plus – sagen wir – eine halbe Sekunde. Einhundertfünfundsechzig. Ergibt zusammen, na, Elise Rennefeld aus dem fernen Holzminden, schon alles wieder vergessen? Eintausendvierhundertsiebenundsechzig! Falsch! Eintausendvierhundertfünfundachtzig. Na also, geht doch!

    Jawohl, es geht noch, wollte sie der Kieckbusch antworten. Ja, Gott sei Dank, und sie war immer noch erleichtert, wenn die Kieckbusch zufrieden war.

    Die Amis waren also nur noch eineinhalb Kilometer entfernt. Luftlinie. Und unter der Voraussetzung, dass eine Brücke über den Fluss führte. Was aber nicht der Fall war. Sie würden einen Umweg machen müssen.

    Eine Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten. Pythagoras. Aber nicht unbedingt der schnellste. Bertold Brecht.

    Aber so oder so schnell genug, dachte Elise, wenn ich mich nicht endlich beeile.

    In diesem Moment sah sie das Flugzeug kommen. Ein kleines Jagdflugzeug. Spitfire. Diese Maschinen kannte Elise. Runde Flügel. Der Pilot ganz weit hinten. Dunkelgrün und grau gescheckt im bläulichen Dunst. Es kam genau auf sie zu. Tief fliegend. Noch hörte sie nichts.

    Elise warf das Fahrrad zur Seite. Schutz! Sie brauchte Schutz, irgendeinen Schutz!

    Ein Graben?

    Nichts.

    Keine Mauer.

    Rein gar nichts!

    Oder doch?

    Die Eiche! Zehn Meter weiter. Einsam in der Wiese.

    Elise lief, und während sie lief, hörte sie plötzlich dieses schreckliche Pfeifen des Motors. Und das Knattern des Maschinengewehrs.

    Die Eiche, die Eiche!!!

    Geschafft!

    Der Stamm war nicht breit. Aber breit genug, wenn sie sich seitwärts dahinterstellte.

    Die Geschosse schlugen – tock-tock-tock – in den Stamm ein. Splitter spritzten zur Seite und fegten zwirbelnd an Elise vorbei auf den Asphalt. Und während sie noch zitternd zur Ruhe kamen, glaubte Elise, sie auch riechen zu können, frisch gefälltes Holz, irgendwie süßlich.

    Die Spitfire war dicht über den Baum hinweggerast. Die Äste rauschten noch im Luftsog, als die Maschine schon wieder stieg, sich aufstellte, dann schräg zurückfallen ließ und plötzlich wieder Kurs auf sie nahm.

    Ein Immelmann, dachte Elise, eine Kunstflugfigur, weiß der Himmel, woher ich das weiß, aber das war ein Immelmann, der Kerl da oben weiß, wie man mit einer Maschine umgeht. Und alles nur meinetwegen!

    Soll ihn der Teufel holen!

    Und dann war der Teufel auch schon wieder da.

    Der Stamm! Auf die andere Seite!

    Elise sprang um den Baum herum, presste sich an ihn, krampfte sich mit den Fingern in die Löcher und Riefen, die die Patronen in die Borke gerissen hatten.

    Ratsch-ratsch-ratsch-ratsch-ratsch.

    Die Geschosse frästen sich durch die Baumkrone. Blätter und Äste regneten herunter. Eine vertrocknete Eichel hopste auf Elises Schuh. Sie blickte ungläubig an sich herunter.

    Nichts weiter passiert.

    Er kann mich mal ...

    Sie streichelte die raue Borke.

    Danke Baum. Danke Eiche.

    Als Kind waren die Bäume im Garten der Villa ihre Freunde gewesen. Sie hatte sie Personen ihrer Familie zugeordnet. Die Eiche – das war natürlich ihr Vater gewesen. Eine Eiche konnte nichts umwerfen. Elise blickte in den Himmel.

    Danke, Papa.

    Sie trat hinter dem Baum hervor. Breitbeinig beobachtete sie kühl das Flugzeug, das wieder wendete, das sich mit jaulendem Motor wieder auf sie ausrichtete.

    Sie hob die Arme und winkte mit ausgestreckten Armen. „Du kannst mich mal!"

    Sie schrie ihren Zorn heraus. Nur schade, dass der Kerl da oben ihr höhnisches Gelächter nicht hören konnte. Sie zog ihr rosa Tuch vom Hals und schwenkte es wie eine Capote, das rote Tuch der Toreros, herausfordernd an ihrer Hüfte.

    Komm, hol es dir! Aber das kannst du nicht. Bist nur ein Blödmann mit einer blöden Maschine, der nur aus einem Flugzeug heraus den Mut hat, mit einer Frau zu kämpfen ...

    Sie sah das Mündungsfeuer des Maschinengewehres und machte den einen, den winzigen, aber entscheidenden Schritt zurück in den Schutz der Eiche. Wieder schüttelte sich der Baum unter dem Schwarm der Geschosse.

    Schieß nur, los, lass das Gewehr glühen! Und wenn du es zehnmal versuchst, du dämlicher, auf Frauen schießender Engländer, so wirst du mich nicht bekommen. Alles vergebens! Haaaa!

    So vergebens wie damals, als sie nach Wolfs Tod aus Trauer und Frust selbst wie wild in die Bäume geschossen hatte, um diesen herumsegelnden Milan zu erlegen, der ihr eigentlich gar nichts getan hatte. Nur, weil er sie an die Demütigungen erinnert hatte, die sie hatte ertragen müssen, in Berlin, bei Wangenheim. Sie hatte den Vogel verfehlt, und am Ende war er triumphierend noch eine Ehrenrunde über sie hinweggeflogen. Und sie hatte hilflos und doch irgendwie erleichtert geweint. Endlich geweint ...

    Heute war sie der Milan, und sie fragte sich, wie sich der Mann, der auf sie schoss, wohl fühlte.

    Auf Wehrlose zu schießen – machte es das Töten einfacher, je weiter man vom Opfer entfernt war? Bomben auf Dresden. Eine ganze Stadt auszulöschen, die wie ein dunkler anonymer Klumpen unter einem in der Nacht lag. Aber dass man die Opfer nicht sah, machte Untaten nicht weniger schlimm. Der Mensch, der Täter. Der Mensch, das Opfer. Immer wieder.

    Wehrlos. Nie wieder wollte sie wehrlos sein!

    Die Eiche schien zerplatzen zu wollen unter dem Sturm der Projektile, aber dann, im Sog der abfliegenden Maschine, schüttelte sie die zerfetzten Äste ab, ruckte sich zurecht und stand wieder da, als sei nichts geschehen.

    Heute war sie in der Rolle des Milans gewesen, dem alle Kugeln nichts hatten anhaben können. Und keine Spitfire der Welt konnte sie daran hindern, das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte: ihren Mann zu befreien.

    Ein viertes Mal griff der Saukerl nicht an. Stattdessen kreiste er über ihr, wackelte sogar zum Gruß mit dem Leitwerk. Fast hätte sie zurückgewinkt, aber dann dachte sie daran, dass er ein elender Feigling in einer gottlosen Maschine war, ein hinterhältiger Rotzlöffel, der mit Maschinengewehren auf wehrlose Frauen schoss.

    Von wegen Gentleman!

    ENGLISCHER PISSER!

    Sie spuckte ganz undamenhaft auf den Boden, als hätte er nichts anderes verdient. Nur schade, dass er es nicht sehen konnte.

    Es ist noch Leben in mir, dachte sie beglückt, eine ganze Portion richtiges Leben ...

    2

    Sie blickte sich um. Die Rauchwolken über dem Kiekenstein waren weiter in die Höhe gestiegen, hatten sich brodelnd vermischt und bedeckten mittlerweile den halben Himmel. Noch immer schossen neue Qualmpilze empor. Das dumpfe Wummern der Kanonen war näher gekommen.

    Vor dem Kiekenstein fuhren jetzt Panzer. Sie waren in den Feldern ausgeschwärmt, und Elise sah orangefarbene Feuerbälle, als sie ein ums andere Mal anhielten und ­schossen. Wahrscheinlich gaben sie der Infanterie Feuerschutz, die auf Stahle, das Dorf, das Holzminden an der Weser gegenüberlag, zumarschierte, aber es war zu weit, um Menschen zu erkennen. Es würde nicht lange dauern, bis die Amerikaner auf den unter Elise liegenden Feldern erscheinen würden. Und dann war es nicht mehr weit, bis der Steinkrug in Sicht kommen würde.

    Das Fahrrad hatte wie durch ein Wunder nichts abbekommen. Elise folgte der Straße, verließ sie aber, als sich diese landeinwärts wandte, um einen Steinbruch, der tief in das Gelände schnitt, zu umgehen. Sie fand einen Weg, der am äußersten Rand des Abhangs entlangführte, schob das Rad über einen schmalen Steg, verlor die Richtung, fuhr über den Hinterhof eines kleinen verlassenen Gebäudes, kurvte eine steile Wiese hinunter und fand sich zu ihrer eigenen Verwunderung plötzlich auf der Straße wieder.

    Schwer atmend blieb sie stehen und blickte sich um. Sie hatte enorm abgekürzt und befand sich schon oberhalb des Klosters Corvey. Über die Türme des mächtigen Westwerks hinweg blickte sie in den Hof der alten Benediktinerabtei hinunter. Er war voller Flüchtlinge. Sie hockten regungslos auf Mauern und Rasenflächen. Welch ein Unterschied zu den begeisterten Menschen, die dort noch vor zehn Jahren dem Führer zugejubelt hatten. Nun warteten die Menschen, in ihr Schicksal ergeben, stumm und voller Besorgnis auf die Ankunft der Amerikaner, in der Hoffnung, dass die heiligen Mauern und Gott sie schützen würden. Vor den Schergen des Regimes oder vor den siegestrunkenen Besatzern. Wer wusste schon, ob eine Befreiung wirklich eine Befreiung war.

    Der Steinkrug. Sie konnte ihn noch nicht sehen, aber weit konnte er nicht mehr sein. Noch ein Blick zurück zu den schwarzen Brandwolken, dann radelte sie weiter. Die Abzweigung am Rutenbach, noch ein Steinbruch, wieder Wiesen, die steil zum Fluss abfielen, und ein Birkenwäldchen, hinter dem sie schließlich den gelb-geklinkerten Giebel des Steinkrugs erkennen konnte.

    Gott sei Dank, sie war angekommen.

    Fragte sich nur, ob die Männer dort waren.

    Und wenn sie dort waren, ob sie noch lebten.

    Sie durchquerte das Wäldchen und stand plötzlich auf dem Hof des Anwesens.

    Niemand zu sehen.

    Eine schwarze Katze beobachtete sie mit flüchtigem Interesse, dann hob sie eine Hinterpfote an den Hals und kratzte heftig auf ihre Flöhe ein. An der Wand stand ein Militärmotorrad, das schon bessere Zeiten gesehen hatte.

    Die Katze streckte sich und miaute. Elise widerstand der Versuchung, sie zu kraulen.

    An den Längsseiten flache Gebäude mit Scheunentoren, die schief in den Angeln hingen, die Zufahrt von der Straße war voller Unkraut, ein dreistöckiges Gebäude zur Weser hin. Die Fensterläden waren geschlossen. Eine Tür, auch geschlossen.

    Die Katze machte einen Buckel und stolzierte davon, als hätte sie nun genug für die Gastfreundschaft des Anwesens getan.

    Es war nicht schwer, sich zu entscheiden. Ein Wohnhaus, eine Tür.

    Als Elise am Motorrad vorbeikam, strich sie mit der Hand über den Motor. Kalt. Wer auch immer damit gefahren war, er war schon einige Zeit vor Ort. Fragte sich, wozu.

    Die Tür ließ sich leicht öffnen. Elise zog sie einen Spaltbreit auf, blickte vorsichtig hindurch und sah nichts, lauschte und hörte nichts. Sie zog die Tür, die glücklicherweise nicht quietschte, ganz auf und schob sich vorsichtig hinein.

    Sie stand in einem Flur, der sie an einen Schulkorridor erinnerte. Marmorierter Boden, mit beigefarbener Ölfarbe gestrichene Paneele an den Wänden und, in regelmäßigen Abständen, Türen. Vier Türen, die, wie Elise sich zu erinnern glaubte, zumindest zum Teil auf eine Kaffeeterrasse führten, von der aus man bei einem Stück Kuchen beinahe bis zum Detmolder Hermannsdenkmal hinübersehen konnte.

    Damals, das waren noch Zeiten voller Luxus gewesen, wenn Familie Rennefeld ihre jährliche Wanderung von Holzminden nach Bad Karlshafen auf dem Rückweg mit der Kutsche hier bei Kaffee und Kuchen ausklingen ließ. Echter duftender Filterkaffee und Kuchen mit Sahne, Nougat und Schokolade!

    Was hatte sie diese Wanderungen durch den endlosen Solling gehasst. Und was würde sie jetzt darum geben, die Zeit zurückdrehen zu können ... Ob es jemals wieder richtige Schokolade geben würde?

    Sie blickte zu einer halb offenen Tür hinüber. Ihr Herz tat einen lächerlichen Sprung. Würde sie August dort finden? Lieber Gott, lass ihn unversehrt sein, alles andere war Nebensache! Oder hatten sie ihn schon längst zu einem anderen Himmelfahrtskommando geschickt?

    Sie schüttelte den Kopf. Ab einem gewissen Stadium nützten Fragen nichts mehr.

    Sie brachte die letzten Schritte schnell und entschlossen hinter sich. Riss die Tür auf und trat ein.

    Ihre Erinnerung hatte sie nicht getäuscht. Sie stand tatsächlich in der zu einem Gastraum ausgebauten Terrasse. Die Gardinen waren zugezogen, nur ab und zu fiel das Licht in blassen Streifen durch die staubigen Scheiben der Sprossenfenster. Die Stühle und Tische standen noch da, in Reih und Glied, mit filzigen Unterlegdecken voller fleckiger Kaffeeränder. Die schwarze Katze erwartete sie schon, sie lag auf dem alten Kuchenbüfett und schaute Elise aus gelben Augen kritisch an.

    Von draußen hörte Elise Stimmen. Sie zog eine der schweren samtig-staubigen Gardinen ein wenig zur Seite, und da sah sie sie, August und drei etwa gleichaltrige Männer in viel zu großen, abgewetzten Uniformen ohne Rangabzeichen. Und einen jungen Kerl in der Uniform der Hitlerjugend, schwarze Hose, braunes Hemd. Er trug ein Gewehr unter dem Arm, dessen Mündung schräg nach unten zeigte. Auf der Balkonbrüstung ein Gestell mit einem Maschinengewehr. Sicher das defekte Maschinengewehr, von dem sie gehört hatte. Ein Patronengurt hing über einem Stuhl, auf dem eine Ölkanne stand.

    Vor den Männern war ein Granatwerfer postiert: ein Rohr, das schräg in den Himmel über der Weser zeigte, gehalten von ausgeklappten Metallstreben. Neben dem Granatwerfer lagen zehn Granaten, zweimal fünf, säuberlich ausgerichtet.

    Die Männer blickten konzentriert auf das Gerät. Elise öffnete eine Terrassentür, aber erst, als Elise hüstelte, sahen sie auf.

    Elise freute sich, dass ihr Mann sich freute. Für einen Moment stand er unschlüssig da, aber dann schob er seine Kameraden zu Seite und lief Elise entgegen.

    Ihre Lippen trafen sich eher beiläufig, aber dann lagen sie sich in den Armen. Sie standen eine ganze Weile unbeweglich gegeneinander gelehnt, ein eher statisches Wiedersehen, genossen, dass der andere da war. Dass sie zusammen waren und sich spürten. Elise roch die vertraute Rasierseife, die nach Kölnischwasser duftete. In der Firma produzierten sie Kölnisch Wasser für 4711. Es gab noch genug davon auf Lager. Kaum jemand hatte den Nerv, 4711 zu kaufen in diesen Zeiten. Für Elise jedoch bedeutete es die Erinnerung an Geborgenheit, Einfachheit, anständiges Leben. An Leben überhaupt.

    „Weiber haben hier nichts zu suchen", sagte eine Stimme in ihrem Rücken.

    Es war der Hitlerjunge. Elise sah, dass seine Finger sich um den Schaft des Gewehres krampften. Sie schätzte ihn auf fünfzehn, höchstens sechzehn. Für sein Alter war er groß. Groß und mager, kurz geschorene Haare, die Haut im Gesicht war sonnenverbrannt und spannte sich straff über die Wangenknochen, sodass seine Augen hervorzuquellen schienen, zu groß für sein Gesicht.

    „Und wer bist du?", fragte sie.

    Die Frage verunsicherte ihn. „Hartmut. Hartmut Stöver."

    „Und was hast du für einen Rang, Hartmut Stöver?", setzte sie nach.

    Er riss die Hacken zusammen. „Unterscharführer, dem Führer treu ergeben."

    „Der Führer ist tot."

    „Das Vaterland ist nicht tot. Er reckte den Kopf hoch, und seine Stimme wurde schriller. „Wir werden in seinem Sinne den heiligen Volkskrieg führen. Niemals Sklaven sein des anglo-amerikanischen Kapitalismus, niemals bolschewikische Zwangsarbeiter in Sibirien. Niemals ...

    „Dies hier, sie zeigte auf die Männer, „ist nicht die Hitlerjugend, hier hast du nichts zu sagen.

    Der dicke Mann neben August schüttelte den Kopf. „Ein Hauptmann hat ihm das Kommando gegeben. Und das Gewehr."

    Der Junge blickte triumphierend. „Sehen Sie, deutsche Ordnung bleibt deutsche Ordnung. Deutsche Männer bleiben deutsche Männer. Und nun gehen Sie bitte, dies hier ist Männersache." Er zog sie am Mantel.

    Sie schüttelte seine Hand ab, als wäre die ein lästiges Insekt. Sie trat an den Mörser heran. „Und damit wollt ihr sie aufhalten, die Amis, alle Amis?"

    „Wir knipsen sie ab von hier oben." Er zeigte auf die Granaten.

    „Zehn Granaten für die ganze amerikanische Armee?"

    „Wir haben das Maschinengewehr ..."

    „Das Maschinengewehr ist kaputt."

    „Deutsche Männer geben nicht auf."

    „Erst, wenn sie tot sind."

    „Ohne Opfer ist das Vaterland nicht zu retten. Solange ich den Befehl habe, werden wir kämpfen."

    „Das werdet ihr nicht tun. Deutschland wird in ein paar Tagen bedingungslos kapitulieren. Und ihr werdet das nicht mehr verhindern können."

    „Wer so etwas sagt, verrät sein Volk. Ich werde Meldung machen."

    „Nur zu, sagte sie, „meldest du dich bei den Bonzen, die schon über alle Berge sind? Elise war erbost. Aber es war nicht der schnöselige Junge, dieser Rotzlöffel, der sie so reizte. Er tat das, was man ihm eingetrichtert hatte. Trotzdem fragte sie sich, woher er diese sture Selbstgewissheit nahm. Er hatte ja schließlich Augen im Kopf. Andererseits hatte er nicht erlebt, wie es war, wenn alles zusammenbrach.

    Nein, es waren diese vier Männer, die sie in Rage brachten, diese schluffigen, ältlichen Kerle, die wie traurige Don Quichottes vor ihr standen. Und wenn man es ganz genau nahm, waren es auch nicht diese beiden großgesichtigen Dicken mit ihren aufgeblasenen Pausbacken und der bleiche Bucklige mit den gelben, brüchigen Zähnen, nein, es war August, ihr Mann, der dastand wie ein bedröppelter Schüler, der auf keinen Fall auffallen wollte. Und das ist nun mein Mann, schoss es ihr durch den Kopf. Wie konnte er nur? Hatte gut hundert Leute unter sich in der Fabrik, und hier kuschte er, ach was, noch schlimmer, er tat so, als sei er gar nicht da, geschweige denn, dass er auf die Idee kam, seine Frau zu verteidigen gegen einen bornierten Hitlerjungen. Und alles nur, weil dem ein unbekannter Hauptmann, der sich wahrscheinlich gerade selbst in Sicherheit brachte, im Weglaufen zugerufen hatte, er solle das Kommando übernehmen.

    „Ihr seid ein Bild des Jammers, schrie sie. „Aber tut so, als wärt ihr das Rückgrat der Nation. Dabei ist deren Rückgrat längst gebrochen. Die letzten Mohikaner im Kampf um den heiligen Volkssieg, ha, bei solchen schwachsinnigen Parolen kann ich nur lachen! Habt ihr keine Augen im Kopf? Männer ... Ich sage euch, das wird sich ändern, wir Frauen werden uns das nicht mehr gefallen lassen! Dass ihr euch nicht schämt. Volkssturm! Was ist das denn noch für ein Volk, das ihr verteidigen sollt? Und was ist das für ein Sturm? Das ist noch nicht mal ein laues Lüftchen, hinten raus, wenn ihr wisst, was ich damit meine.

    Sie spürte, dass sie sich in Rage geredet hatte, was ihr nicht gefiel, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte genug. Sie hatte endgültig genug von alldem. Und weil die Kerle auch jetzt keine Reaktion zeigten, schrie sie weiter, schrie sich den jahrelang ertragenen Frust von der Seele. Eigentlich ging es nicht mehr um die Männer. Eigentlich, und das begriff sie jetzt, ging es um sie selbst. Dieses ständige Bevormundetsein, dieses Schöntun, dieses Kuschen, das Gefühl, dass einem die Worte verdorrten im Munde, diese Gedanken an die Ungeheuerlichkeiten, die mit Juden und Andersdenkenden geschehen waren, die sie in ihrem Kopf vor Scham hin und her geschoben hatte, dieser ganze Unrat barst aus ihr heraus, bis sie sich regelrecht leergepumpt hatte und ihre Stimme versagte.

    Dann Schweigen. Als ihr Herz nicht mehr so pochte und sie ihrer Stimme wieder trauen konnte, sagte sie, nun ruhiger, eindringlich: „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Treu wollt ihr sein. Dass ich nicht lache! Wie doof muss man sein, um nicht endlich aufzuwachen? Dies ist doch kein Indianerspiel. Dies war auch nie ein Indianerspiel. Und jetzt werden sie euch mit ihrer Artillerie wegputzen, ehe ihr Papp sagen könnt. Und dann? Was ist dann mit Treue und Vaterland? Sie stockte und spie dann förmlich heraus: „Noch ein paar verbrannte Leichen mehr, das werdet ihr sein. Verbrannte Leichen, niemand wird euch mehr erkennen. Ich werde meinen Mann nicht mehr erkennen, und unser Sohn wird seinen Vater nicht mehr erkennen. Soll es das sein?

    Sie nahm ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Die Männer standen unsicher da und blickten schräg an ihr vorbei, was Elise doch noch einmal aufregte. „Eine Frau muss euch sagen, wie die Dinge wirklich sind. Macht nicht wenigstens das euch wütend? Schlagt mich doch, wenn ihr Mumm habt, jagt mich hier raus, tut etwas, aber selbst dafür fehlt euch das Herz."

    Sie trat zum MG, umfasste es mit beiden Händen, schob es über das Geländer. „Und was ist, wenn ich es jetzt fallen lasse, euer liebes Schätzchen, damit es auf dem Felsen zerschellt?, fragte sie. „Wollt ihr mich dann erschießen? Eine Frau, nur weil sie sich lustig macht über euch?

    „Ich erschieße Sie, da machen Sie sich mal keine Sorgen." Es war die Stimme des jungen Mannes. Sie klang leise, fest und entschlossen.

    Elise blickte sich um. „Hartmut Stöver, sieh an, Unterscharführer Hartmut Stöver ..."

    „Jawohl, stieß er trotzig hervor, „ich heiße Hartmut Stöver, und ich komme aus Steinheim in Westfalen. Und ich werde Sie erschießen, wenn sie das MG nicht abstellen. Ganz vorsichtig. Auf die Brüstung zurück! Und dann werden Sie gehen. Und ich werde bis zehn zählen, und dann sind Sie verschwunden. Und wenn nicht ...

    „... erschießt du mich noch einmal."

    Stöver nickte ernst. „Ich bin es Deutschland schuldig. Wenn wir untergehen, dann werden wir in Ehren untergehen."

    Er hob die Waffe, die nun genau auf Elise zielte.

    „Eins."

    „Zwei."

    „Drei."

    Elise fühlte nichts. Sie wusste nur, dass er es bitterernst meinte, der arme Junge.

    „Vier."

    Sie hörte, wie August die Luft einsog.

    „Fünf."

    „Sechs."

    Ich kann, ich muss ...

    „Sieben."

    Ich werde ... Er ist nur ein kleiner Junge ...

    „Acht."

    Was kann er schon dafür?

    „Elise! Liebling!", schrie August.

    Sie drehte sich um, zögerte kurz, dann setzte sie das MG ab und zog es auf die Brüstung zurück.

    Einen Moment blieb sie gebückt stehen, richtete sich dann auf und wandte sich wieder dem Jungen zu. Sie sah die Erleichterung in seinem Gesicht. Seine Arme erschlafften, und das Gewehr senkte sich. Fast verspürte Elise so etwas wie Mitleid mit ihm. Das Mitleid der Mutter mit einem Sohn, der nicht verstehen will.

    Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. „Und nun, sagte sie, und sie wunderte sich über die Festigkeit in ihrer Stimme, „und nun gib mir dein Gewehr. Es ist jetzt genug.

    Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf.

    Sie ließ die Hand ausgestreckt und machte noch einen Schritt. Gleich würde sie ihn berühren.

    „Stehen bleiben", krächzte er.

    Noch ein Schritt. „Schieß doch", sagte sie.

    Seine Finger verkrampften sich. Sie sah das Weiße an den Knöcheln.

    Dann hörte Elise ihren Mann sprechen. Er hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. Sie zielte auf den Jungen. „Ich bringe dich um, sagte er. Seine Stimme klang seltsam flach. Aber es bestand kein Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit. „So wahr ich hier stehe, fügte er hinzu, „ich bringe dich um, wenn du ihr etwas antust."

    Endlich, dachte sie, endlich hält er wieder zu mir. Endlich! Es wird alles gut, es wird alles gut, es wird alles gut ...

    Elise beugte sich vor und hielt die flache Hand vor die Mündung des Gewehres. „Nun, was ist, mein Junge? Willst du mich nicht erschießen? Ich nehme dein Gewehr, wenn du mich nicht erschießt, das weißt du, nicht wahr?"

    Es war einer dieser Momente, in dem jemand die Zeit anhielt. Die Welt war ihnen abhanden gekommen. Die Dinge, die einem am meisten zu schaffen machen, sind die Dinge, bei denen man noch eine Wahl hat. Wir werden sterben, nichts wird bleiben, und wir werden nicht zurückkommen. Das Leben ist bedeutungslos, Liebe hilft, manchmal, aber sie kann uns nicht retten.

    Eine seltsame Leichtigkeit durchströmte sie, und sie machte einen Schritt.

    Sie sah den Schrecken in den Augen des Jungen.

    Sie legte ihre Finger auf den Lauf.

    Sie nahm das Gewehr.

    Irgendjemand stellte die Zeit wieder an ...

    3

    Du denkst bestimmt, ich bin ein Feigling", sagte August.

    Elise antwortete nicht. Sie fühlte ein vertrautes Gefühl von Verlust und ein nicht minder vertrautes Gefühl von Zorn. Sie quälte sich ein Lächeln ab, das herzlich wirken sollte, aber bis zu ihren Augen breitete es sich nicht aus.

    Sie saßen auf einem Baumstamm oberhalb des großen Steinbruchs, gleich dort, wo der Weg in die Otterbache abging, der einzige Weg im Solling, der nirgendwo hinführte, wo nur noch die Otter im moorigen Wasser der Sümpfe ihr Auskommen fanden.

    Es war alles noch so neu, das, was gerade geschehen war. Und sie hatte Sorge, dass ihr Ärger, ihre Angst oder ihre Enttäuschung, ja, ihre übergroße Enttäuschung Dinge mit ihr machen würden, die sie nicht wollte. Die ihre Zukunft vergiften könnten. Gefühle sind mächtig, ihnen gegenüber ist die Vernunft nicht mehr als eine lausige, stumpfe Waffe.

    Ich muss der Vernunft Zeit geben, ich muss darüber schlafen, dachte sie, muss das Für und Wider abwägen, vielleicht hat er ja recht, und ich erwarte zu viel von ihm. Er ist auch nur ein Mann. Er kann auch nicht aus seiner Haut.

    Aber es verletzte sie schon, dass er diesem Pimpf gegenüber erst im allerletzten Moment Position für sie bezogen hatte. Natürlich, der Kerl hatte ein Gewehr gehabt, und August und seine bejahrten Kameraden hatten keines. Ein Gewehr ist ein Argument. Das verstand sie. Dass sie sich an unsinnige Befehle gebunden fühlten, begriff sie nicht.

    Gewalt gegen Verstand – da ist der Verstand oft in der Hinterhand. Aber musste man so duckmäuserisch sein?

    Es war dieses verdammte Hierarchiedenken, in dem die Männer feststeckten. Ein Dilemma, das sie als Frau kaum nachvollziehen und noch schlechter aushalten konnte.

    Männer.

    Wie Hirsche auf einer Waldlichtung.

    Aber Hirsche hatten es einfacher. Sie röhrten laut und knallten dann so lange die Geweihe aneinander, bis einer nachgab. Der Unterlegene war eben der Unterlegene. Das war die Regel der Natur. Nach welcher Regel musste ein einfacher Volkssturmmann

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