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Windmühlen auf dem Wedding
Windmühlen auf dem Wedding
Windmühlen auf dem Wedding
eBook328 Seiten4 Stunden

Windmühlen auf dem Wedding

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Über dieses E-Book

Von Rentieren und Rieselfeldern, queerem Tango und der Liebe in Zeiten der Gentrifizierung …

Sybilla Kischotta, zumeist als Stadtbilderklärerin unterwegs, sehnt sich nach Geborgenheit und hat sich schon vor Jahren in den Kopf gesetzt, diese im Berliner Arbeiterbezirk Wedding zu finden. Dort wohnt auch ihre lang verflossene Liebe Karin mit der gemeinsamen Tochter Rosa.
Doch der Wedding verändert sich. Hippe EigentumskäuferInnen ziehen hinzu und lösen Aufwertungs- und Verdrängungsvorgänge aus wie zuvor in Prenzlauer Berg oder Neukölln. Für Sybilla steht viel auf dem Spiel - nicht nur weil sie ihre Wohnung verlieren könnte.
Doch vielleicht ist die Suche nach Geborgenheit viel unkomplizierter als angenommen, und Sybilla sollte einfach öfter mal kochen, ihre Wohnung in Ordnung bringen und sich eine neue Freundin suchen. Aber für Sybilla ist gar nichts unkompliziert ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Sept. 2014
ISBN9783944576398
Windmühlen auf dem Wedding

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    Buchvorschau

    Windmühlen auf dem Wedding - Astrid Wenke

    FRAUEN IM SINN

    Verlag Krug & Schadenberg

    Literatur deutschsprachiger und internationaler

    Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

    historische Romane, Erzählungen)

    Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

    rund um das lesbische Leben

    Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

    Astrid Wenke

    Windmühlen auf dem Wedding

    Roman

    K+S digital

    Für Ronja

    Die Geschichte von Sybilla Kischotta, die sich auf dem Berliner Wedding niederließ, um von dort aus das Leben zu ergründen und ein Zuhause zu finden. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer verändert sich der ehemalige Arbeiterbezirk unter dem Einfluss von Gentrifizierungsprozessen und die Kischotta sieht die Bemühungen vieler Jahre bedroht.

    Erstes Kapitel,

    in dem die Leserschaft Sybilla Kischotta, Martha und die Martin-Opitz 5 kennenlernt.

    Es gibt Anzeichen von Bedrohung, und die Kischotta schreitet zum ersten Gefecht gegen das Spekulantenpack.

    Sybilla Kischotta, lang und hager, betrat den Hof. Es war einer jener Höfe, wie sie vor anderthalb Jahrhunderten nach der Genehmigung des Hobrechtplanes die Stadt durchwuchert hatten. Die Höfe waren damals eng gewesen, zu eng, um das ferne Licht des Himmels und seine blaue Luft hereinzulassen, und die Vogelmiere, die es vermocht hatte, sich in einer Mauernische zu verwurzeln und von mageren Sonnenstrahlen zu ernähren, war Sinnbild für Lebensmut und Hoffnung geworden. Das war nicht Hobrecht anzulasten. Der hatte den Verlauf der Straßen und Baublöcke festgelegt, nicht aber vorgesehen, die Blöcke bis in den letzten Winkel mit Höfen und Hinterhöfen zu bebauen. Hobrecht hatte im Gegenteil gefordert, mit baupolizeilichen Verordnungen für gesunden, den Menschen würdigen Wohnungsbau zu sorgen.

    Die Baupolizei sorgte sich jedoch nur wegen der Feuergefahr. Die Feuerwehrwagen brauchten Platz, um in den Höfen wenden zu können, genau gemessen fünf Meter vierunddreißig im Quadrat. Näher durften die Hausmauern sich nicht kommen, das hatten die Bauherren zu respektieren. Wenn der rote Hahn dann wahrhaftig im Dachstuhl saß, mussten die Feuerwehrleute zur Dachrinne hoch, bevor der Brand auf Nachbarhäuser übergriff und ganze Viertel in schwarzes Gebälk verwandelte. Die Leitern ließen sich nur auf zwanzig Meter ausfahren, und das war der einzige Grund dafür, dass die Traufhöhe Berlins zweiundzwanzig Meter nicht überschreiten durfte. Aus Angst vor dem Feuer ist die Zweiundzwanzig in Berlin eine magische Zahl geblieben. Berliner Architektur nach europäischem Maß tritt noch im Nachmauer-Berlin an der Zweiundzwanzig zum ideologischen Kampf gegen die Architektinnen und Architekten einer Weltstadt an, obwohl Feuerleitern längst an Wolken kratzen könnten.

    Die Höfe haben sich geweitet, aufgesprengt in den Bombenhageln der vierziger Jahre, und heutzutage findet man anspruchsvolles Wohnen und attraktive Kultur- und Shoppingorte darin vor. Zille war einmal: Im Hof der Martin-Opitz-Straße wächst an Stelle einer Miere ein Ahornbaum, von dessen weit ausgebreiteten Zweigen die Baumwanzen zu ihrem Flug auf die Fenstersimse starten.

    Sibylla Kischotta, Weddinger Stadtbilderklärerin, war an Architektur und Stadtgeschichte flammend interessiert, nicht jedoch in diesem Moment, in dem sie das Geländer ins Visier nahm, welches die Außenstiege zum Keller abschirmte – ein Geländer, einst grau gestrichen, von dem jedoch seit Jahren die Farbe abblätterte, so dass sich an vielen Stellen Rost in die nackte metallene Oberfläche gefressen hatte.

    An dieses Geländer war, da ein Fahrradständer fehlte und es auch sonst an Möglichkeiten mangelte, Sybillas Rad gekettet. Auf dem Hof fand alltäglich ein bitterer Kampf um die wenigen sicheren Parkgelegenheiten statt, und es war – Sybilla verzog missmutig das Gesicht – wiederum zu einem Übergriff gekommen: An der Strebe direkt vor dem Vorderrad ihres treuen Drahtesels war ein weiteres Gefährt befestigt worden, das sie anheben und seitwärts zerren musste, um an ihr Kettenschloss zu gelangen.

    Martha hatte das Fenster ihrer Hinterhofwohnung weit geöffnet und die fülligen Arme auf einem Kissen gebettet, welches sie der größeren Bequemlichkeit halber auf die Fensterbank gelegt hatte. Vor allem weil ihr der Blick auf das Straßenleben verwehrt blieb, bedauerte Martha, nicht mehr im Vorderhaus zu wohnen. Als sie Sybilla den Hof erstürmen sah, dachte sie wieder einmal darüber nach, dass diese mit ihrem Balkon, von dem der Blick nicht nur zur Straße hinunter, sondern zu dem Haus gegenüber und in eine Vielzahl von Loggias, Balkonen und Fenstern schweifen konnte, wenig mehr anzufangen wusste, als dort zu sitzen, zu lesen und zu denken. Weiter überlegte Martha, dass es immer schon zwei Sorten Menschen gegeben hatte – solche, die im Vorderhaus wohnten, und gewöhnliche wie sie. Hätte Sybilla von Marthas Gedanken geahnt, hätte sie all ihre Glieder in Bewegung gesetzt, um diese mit einem Wortschwall wegzuschwemmen, zu verwirbeln, besser noch zu zerstäuben, obwohl sie selbstverständlich wusste, dass Marthas Sicht der Dinge durchaus begründet war. Nur wohnte die Kischotta, ihren prekären Verhältnissen zum Trotz, nun mal nach vorne raus und Martha hinten.

    An diesem Vormittag, den draußen auf der Straße und oben auf Sybillas Balkon die Maisonne wärmte, hatte Martha dennoch nicht zu klagen. Es war einiges losgewesen im Hinterhof – zwei dicke Menschen, einer männlich, weißhaarig, weichgesichtig, der andere jünger – knapp über fünfzig, mutmaßte Martha –, weiblich, mit groben Gesichtszügen, vollen Lippen, großer Nase, patrouillierten seit bald einer Stunde zwischen Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus, klopften gegen Hauswände, begutachteten den bereits erwähnten Ahorn, der es sich hoch oben im vierten Stock gut und grün ergehen ließ, während seine Wurzeln längst die Versiegelung des Hofes teils durchbrochen, an anderen Stellen aufgewölbt hatten, so dass es angeraten war, beim Gang über den Hof, vor allem des Nachts, auf einen sicheren Tritt zu achten.

    Die dicken Menschen waren die Kellertreppe hinabgestiegen, hatten Martha den Blick von oben auf lichte weiße Strähnen über blasser Schädelhaut und dichtes zauseliges Grauhaar gegönnt und waren dann hinter der Tür verschwunden, an der die Warnung vor dem ausgelegten Rattengift prangte. Martha fragte sich, ob der eingetrocknete Kadaver eines der Opfer dieser in regelmäßigen Abständen erfolgenden Vernichtungsaktionen noch auf dem Boden des Kellergangs lag, dort hingekehrt vermutlich von jemandem, der ihn im eigenen Keller gefunden und sich, nachdem der Leichnam glücklich außerhalb des privaten Verschlages geschafft war, nicht weiter zuständig gesehen hatte.

    Martha war vor etwa zwei Monaten das letzte Mal in den Keller gestiegen und hatte einige Zeit damit verbracht, das tote Vieh mit einer Mischung aus Grauen und Faszination zu betrachten. Tatsächlich war es nicht Faulheit, die lag ihr fern, sondern die Unfähigkeit, sich ganz von dem Anblick dieses konservierten Todes zu trennen, die sie zu ihrem eigenen Erstaunen, und obwohl sie ihre Untätigkeit missbilligte, davon abhielt, die Ratte in eine Mülltonne zu verfrachten.

    Als die Dicken geraume Zeit später den Keller verließen und die Treppe heraufkeuchten, war Martha das als passende Gelegenheit für einen Gruß erschienen, in der Hoffnung, damit ein Gespräch eröffnen und Neuigkeiten erfahren zu können. Der Weißgesträhnte hatte den Weg in ihre Augen gefunden und höflich einen guten Morgen gewünscht, während die Frau es bei einem unwilligen Nicken beließ und, so schien es Martha, und damit lag sie vollkommen richtig, geradezu vermied, sie anzusehen.

    Martha hatte die Ereignisse der vergangenen Wochen längst miteinander abgeglichen – die schriftliche Aufforderung, die Miete künftig auf das Konto einer neuen Eigentümerin zu überweisen, den Aushang im Hauseingangsbereich mit der Telefonnummer einer neuen Hausverwaltung, die kräftigen Kerle, die seit einigen Tagen in den lange schon leerstehenden Wohnungen im zweiten und dritten Stock rumorten und von dort allerlei Balken und Gerümpel zur Straße schleppten, wo direkt vor der Martin-Opitz-Straße 5 ein Container Aufstellung genommen hatte, der sich rasch zu füllen begann und schon das Interesse eines Schrottsuchers geweckt hatte. Der kam seither täglich vorbei. Nun waren noch die beleibten Personen im Hinterhof aufgetaucht.

    Seit dem Erscheinen von Sybilla wartete Martha gespannt, wie diese auf die Besucher reagieren würde, denn die fortschreitende Gentrifizierung des Wedding, wie Sybilla es nannte, war deren Lieblingsthema. Seit Jahren empörte sie sich gegen die schleichende Umwandlung ihres ›Heimatbezirkes‹, wie sie den Wedding nannte, war schon vor Jahren aufgeschreckt, als die Kunstszene die Stadtmitte verlassen hatte und von der Rosenthaler herkommend demonstrativ die Brunnenstraße hochmarschiert war. Selbst die Bernauer hatte sie gequert, jene legendäre Straße, die man noch vor einem halben Jahrhundert nur durch den Sprung aus dem Fenster, später dann durch heimlich gegrabene Tunnel hatte über- oder besser unterwinden können und die nun die Grenze zwischen der zentral gelegenen bürgerlichen Wohngegend und dem prolligen Wedding im Norden markierte. Im Norden, so hatten die Künstler und Künstlerinnen angekündigt, würden sie sich nunmehr in Wohnungen und Ateliers ausbreiten, bis auch dieses frisch kolonialisierte Gebiet durch sie und ihr Gefolge so weit aufgewertet wäre, dass es auf ihre Pioniere verzichten konnte und die weniger erfolgreichen unter ihnen mit hohen Mieten weiter hinaus an den Stadtrand katapultierte.

    ›Aufgewertet‹, hatte Sybilla gewettert, ›als wäre deren Kunst das Maß aller kulturellen Werte‹, und wieso das mit breitem Klebeband an die Außenwand des in der Gerichtsstraße befindlichen stillgelegten Weddinger Stadtbades getapte Bild eine wertvollere Lebens- und Ausdrucksform darstellen sollte als die gesellige Skatrunde im Magendoktor.

    Allerdings blieb die Kischotta trotz ihres lautstarken Einsatzes für die Traditionen des Arbeitslosenbezirkes als Weddingerin fragwürdig. Obwohl sie seit einem Vierteljahrhundert in der Gegend lebte, kannte sie neben Rosa, Karin, Martha und den Leuten aus dem Dralle keine Menschenseele, kaum dass sie die Nachbarn auf der Straße grüßte. Ihre Freundinnen wohnten anderswo in Berlin, und zum Ausgehen reiste sie nach Prenzlauer Berg, Charlottenburg, Schöneberg oder Kreuzberg – dorthin, wo die queere Szene ihre Treffpunkte hatte.

    Insgeheim fühlte sich Sybilla auf dem Wedding schon seit dem Wegzug von Jutta Jahrzehnte zuvor und mehr noch seit der Trennung von Karin von vielem abgeschnitten und hoffte entgegen ihren öffentlichen Bekundungen, die Veränderungen auf dem Wedding könnten für sie persönlich Verbesserungen bringen. Zukunftsfroh sah sie der Gründung homosexueller Treffpunkte entgegen, Lesben würden in den Nordbezirk ziehen, darunter vielleicht eine, die ihr mehr bedeuten würde. Das waren Träume in der Zeit der beginnenden Gentrifizierung, die Sybilla noch inniger mit ihrem Wohnort verbanden und dazu führten, dass sie umso argwöhnischer die Ereignisse beobachtete, die den Eigentumswechsel der Martin-Opitz 5 begleiteten. Dieser, darin waren Martha und sie einig, konnte nichts anderes bedeuten, als dass die Mieten steigen und sie womöglich nicht nur aus ihren Wohnungen, sondern, so wie die Dinge sich entwickelten, ganz vom Wedding vertrieben würden.

    ›Aufwertung‹, höhnte Sybilla, ›aber sicher nicht für uns – nicht für die, die hier wohnen. Jetzt kommen die Reichen, die Aufwertung in Person. Das selbstgerechte, asoziale Bildungsbürgertum zückt die Börse, um den Wedding zu übernehmen.‹

    So hatte sich die Kischotta des Öfteren ereifert, doch nun war sie damit beschäftigt, Rosinante, so hatte sie ihr Rad getauft, rücklings hinter dem fremden Gefährt hervorzurollen.

    Martha fürchtete bereits, um das Spektakel betrogen zu werden, dass sie sich von dem ersten leibhaftigen Aufeinandertreffen Sybillas mit deren Feind erwartete. Es war nicht ungewöhnlich, dass Sybilla blind war für ihre real existierende Umwelt, und weder Marthas Lächeln noch deren einschlägiges Gestikulieren hatte Wirkung zeigen können, solange die Kischotta an Rosinante ruckelte, deren Pedale aus den Speichen des anderen Rades riss, endlich die Kette löste und ihren guten Drahtesel am Lenker mit sich zog. Widerwillig hob sie das gegnerische Zweirad zurück ans Geländer und wollte sich eben auf Rosinante schwingen, als Martha sich weit aus dem Fenster lehnte und zischte: »Die Spekulanten sind da!«

    Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sybillas Kopf wirbelte nach hinten, um erst jetzt Martha zu entdecken und hervorzustoßen: »Guten Morgen, Martha – und wo?«

    Martha reckte ihr sanft waberndes Kinn in die Richtung von Margarethe Johannsen, jener dicken Frau, deren Name ihr zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war, und deren Begleiter. Die Kischotta straffte sich, zog ihre hagere Gestalt auf deren maximale Länge von hundertzweiundachtzig Zentimetern, stellte Rosinante auf ihren Ständer und schritt mit weit ausholenden Beinen geraden Weges über den Hof. Sie war eine imposante Erscheinung, nicht nur wegen ihrer Länge, sondern auch wegen der Nase, die wie der Schnabel einer Berliner Nebelkrähe aus dem dürren Gesicht ragte, während sie hinten, in der Mitte eines ansonsten kurz bewachsenen Hinterkopfes einen Zopf mit einem Haargummi zusammengefasst hatte, so dass er mit einer gewissen Spannung vom Kopf abstand. Bei den Fremden angekommen fuhr sie ihren langen Arm aus und stach mit der Hand in den freien Raum, der sich zwischen den beiden auftat.

    »Kischotta – einen guten Tag.«

    »Guten Tag«, griff der Weißhaarige weich und lächelnd zu, während die Johannsen sich abwandte – unangenehm war ihr das alles. Sie mochte den Kontakt mit Mietern nicht, hatte das nie gemocht, wusste zu gut, dass einige von ihnen seit Jahrzehnten und länger in dem Haus wohnten. Das Haus mochte mit ihrem Leben verwachsen sein, so was verstand die Johannsen und hoffte, dass dem nicht so wäre. Sie war nicht herzlos, aber schließlich wollten alle verdienen, und nun, da eine zweite Gründerzeit im Wedding herandämmerte, war sie unter den Schnellen gewesen – wenn nicht sie, hätten andere die Gelegenheit ergriffen, die nicht besser wären als sie, so war das nun mal.

    »Ich hielt es für üblich, die Mieter rechtzeitig zu informieren, wenn Sanierungsmaßnahmen stattfinden«, hob die Kischotta an, »mehr noch – es besteht ein Anspruch darauf. Stattdessen ist es gänzlich unangekündigt seit Tagen laut und staubig im Hausflur und bis hinein in die Wohnungen. Ich werde die Miete mindern, rückwirkend versteht sich, aber es geht hier vor allem um die Form des Umgangs.«

    »Ganz recht«, meinte der Weißhaarige, »das haben wir verpasst. Margarethe, die Dame hat recht.«

    Natürlich könne Frau Kischotta die Miete mindern, das stehe ihr zu.

    »Jaja«, meinte Margarethe. Sie und der Weißhaarige waren sich einig gewesen, nicht vorzeitig die schlafenden Hunde zu wecken. Die waren inzwischen aufgewacht, das war zu erwarten gewesen.

    »Ich verstehe wohl richtig«, fauchte die Kischotta, »dass Ihnen ein gutes Verhältnis zu den Mietern nicht am Herzen liegt, weil hier Betuchtere einziehen sollen. Ich verstehe weiter, dass Lärm und Staub zu Ihrer Vertreibungspolitik gehören?«

    »Ach was, vertreiben«, entgegnete Margarethe nun doch. Das sähe sie wohl selbst, dass an dem Haus etwas gemacht werden müsse, die Wände beschmiert, die Kacheln im Eingangsbereich abgeschlagen, im Treppengeländer fehlten Pfosten und das ganze Haus, mit Verlaub, verwohnt und versifft. Da sei wohl eine Ewigkeit nichts passiert.

    »Eine Wohltäterin sind Sie also«, lachte Sybilla auf, während Martha am Fenster zufrieden giggelte. »Als würden Sie das Haus aus Notwendigkeit oder gar für uns sanieren lassen. Mich verjagen Sie nicht, das teile ich Ihnen hiermit mit.«

    Sie drehte ab und erhob im Gehen ihre zur Faust geballte Hand. »Der Kampf geht weiter!«

    »Wer spricht von Verjagen!«, rief die Frau ihr hinterher.

    Sybilla reagierte nicht, behielt den Kopf hoch in Lüften, die in ihrer Jugend gestürmt hatten, in den Achtzigern, Zeit der Häuserkämpfe, längst verweht, die Macht damaliger Argumentation morsch geworden, aber eine wie Sybilla kümmerte das nicht.

    »Tschüs, Sybilla!«, rief Martha.

    »Tschüs, Martha!«, antwortete Sybilla über ihre Schulter hinweg, schob Rosinante in den Hausflur und würde gleich auf die Straße treten, während Martha wieder mal bedauerte, kein Fenster zu haben, durch das sie ihr hätte hinterhersehen und -winken können.

    Margarethe seufzte, und der Weißhaarige sah sich bemüßigt, ihr auf die Schulter zu klopfen: »So sind die Leute, suchen immer einen Schuldigen.«

    Zweites Kapitel,

    in dem wir Jutta, die gute Freundin der Kischotta, kennenlernen und einiges über die junge Kischotta und frühere Kaputtsanierungen auf dem Wedding erfahren.

    Sybillas langjährige Freundin Jutta lächelte freundlich in die Kamera, die die Frau von dem queeren Stadtmagazin mit elektronischen Klicks und Klacks aus verschiedenen Perspektiven auf sie richtete – eine schnelle Serie von Aufnahmen auf Juttas Neuköllner Balkon, dann die Fragen in Juttas Neuköllner Küche.

    »Ein richtiges Büro –« Jutta lachte, wovon denn, sie wären nicht mehr als ein Kleinstunternehmen, für sie selbst wären die Narrentouren ein Hobby, Sybilla, die sich mit dem Unternehmen finanziere, müsse zusätzlich Aufträge anderer Unternehmen annehmen, Bustouren vor allem. Außerdem, aber das erwähnte Jutta nicht, fuhr sie gelegentlich Taxi.

    »Ich halte Frau Kischotta den Rücken frei, das ist meine Aufgabe. Ich bin für Terminabsprachen, Buchhaltung, Unterstützung bei der Recherche, Kundenakquise und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Frau Kischotta erarbeitet die Touren und führt sie durch. Sie ist die schillernde Persönlichkeit in unserem Team.«

    Innerlich schüttelte Jutta den Kopf. Sybilla hatte in ihrer Rolle als Stadtführerin bisweilen eine Art, sich in Szene zu setzen, die Jutta befremdete, mehr noch, sie hatte Touren miterlebt, auf denen sie sich für ihre Freundin und Geschäftspartnerin geschämt hatte. Aber Sybilla kam mit ihrer Art an, das musste Jutta zugeben, die Leute wollten unterhalten werden, und Sybilla verfügte neben ihrem Talent für, wenn man so wollte, ›originelle‹ Auftritte unbestreitbar über umfangreiches Wissen, das sie in ihre zugespitzte, um nicht zu sagen verengte Weltsicht einfließen ließ. »Ist Ihre Darstellung nicht etwas einseitig?«, hatte einmal eine Teilnehmerin vorsichtig eingewendet. »Mehr als das«, hatte Sybilla geantwortet. »Meine Darstellung ist einpunktig. Ich zeige die Stadt aus dem Blickwinkel des einen Punktes, der mir zusteht, von meinem Standpunkt her.« Starrsinn, sagte Jutta dazu. Sybilla nannte es Authentizität.

    Na ja. Jutta fürchtete, eines Tages werde sich Sybilla doch noch um Lohn, Brot oder gar Obdach bringen mit ihrer Kompromisslosigkeit. Dabei hatte sie noch das Kind, für das sie Verantwortung trug.

    Die junge Reporterin saß abwartend am Küchentisch, den Kugelschreiber gezückt, und Jutta überlegte, welches Bonbon sie dem queeren Stadtmagazin für das Porträt der lesbischen Stadtbilderklärerin Kischotta abschließend anzubieten hatte.

    »Sybilla versteht sich als Narr« – ja, das war interessant.

    Nein, nicht als Närrin. Die Kischotta hasse die Anhängselsprache. Zu Juttas Erleichterung hatte Sybilla irgendwann aufgegeben, die gesamte Sprache nach ihren Vorstellungen umzugestalten, weil selbst ihr die ständigen Auseinandersetzungen und Missverständnisse ihrer Sprache wegen zu viel geworden waren. Mittlerweile bestand sie nur noch bei den wesentlichen Worten in ihrem Leben, solche wie die Narr – symbolisch sozusagen – auf ihrer persönlichen Sprachidee. Sollte der Mann seine Endung dranhängen und sich zum Narrer machen, wenn ihm so sehr an Abgrenzung gelegen wäre. – »Die Narr«, erklärte Jutta, »steht außerhalb, und aus dieser Perspektive erkennt sie das Widersinnige in den Welten der Menschen.« Sybilla sei fasziniert vom Spiegel als Accessoire und Zeichen des Närrischen. Im Mittelalter, als die Welt ausschließlich als Ausdruck Gottes und göttlicher Ordnung interpretiert worden war, hatte sich der Spiegel in der Hand der Narren verwurzelt. Wer in der Welt so wie sie sich den Menschen zeigte, nicht Gott, sondern sich selbst und Menschliches erkannte, hatte außerhalb der bestehenden Ordnung gestanden. Für Sybilla bedeute Narrentum, an Stelle von Wissen den Zweifel zu wählen und das Beharren auf der eigenen, aus Lebenserfahrung erwachsenen Überzeugung. Auf ihren Touren kultiviere sie den subjektiven Blick.

    Die junge queere Reporterin nickte beeindruckt.

    »Vielen Dank«, sagte sie händeschüttelnd an Juttas Wohnungstür.

    Jutta kannte Sybilla seit Ende der Siebziger. Sie hatten zusammen in der Wohngemeinschaft in der Kolberger Straße gewohnt, zwischen Nettelbeckplatz und Humboldthain. Damals war noch alles Altbau gewesen in der Kolberger, gemeinsame Außentoilette für vier Mietparteien, keine Dusche, das hatte ihnen nichts ausgemacht, Hauptsache billig, wobei Sybilla es als Einzige regelrecht genoss, nachts im Schlafanzug durch das Treppenhaus zu schleichen und sich in dem Abort auf dem Treppenabsatz mit einem Kriminalroman einzurichten.

    »Hält fit«, kommentierte sie zufrieden die mangelhaften Waschmöglichkeiten in der Wohnung, die sie auch an müden Morgen antrieben, vor der Uni in das Stadtbad Gerichtsstraße zu spazieren, um dort ihre Bahnen zu ziehen und anschließend ausgiebig warm zu duschen.

    Die ganze Kolberger war von Habenichtsen wie ihnen bevölkert gewesen: Rentner, Studentinnen, kinderreiche und ausländische Familien, das übliche Berliner Gemisch armer Leute.

    Juttas Eltern hatten ihr keinen Pfennig zur Miete zugeschossen, wie auch, hatten selber nie was gehabt.

    »Kannst bei uns wohnen«, sagte die Mutter, aber das konnte sie nicht, das ging wirklich nicht mehr, schon wegen dem Alten und überhaupt.

    Zunächst war sie gemeinsam mit ihren Freundinnen, mit Petra und Birgit, in die billige Wohnung in der Kolberger gezogen, für das freie Zimmer hatten sie eine Anzeige im Stadtmagazin geschaltet, auf die sich Sybilla gemeldet hatte, frisch aus Westdeutschland, berlinbegeistert und auf Anhieb überzeugte Weddingerin.

    Jutta und ihre Freundinnen, die in dem Bezirk großgeworden waren, warteten nur auf den Absprung in die wirklich interessanten Bezirke, Kreuzberg oder Schöneberg, wenn’s nicht anders ginge, Neukölln – sobald sich dort eine günstige Unterkunft anbot, wollten sie weg. Sie rätselten, was der heruntergekommene Wedding, in dem es, mal abgesehen vom Dralle in der Nazarethkirchstraße und der Barri in der Buttmann – bei Licht betrachtet war der Schuppen auch abgründig – und, na gut, dem Taxmoon, Schönwalder, Ecke Müller, nicht eine vernünftige Kneipe gab, der Neuberlinerin angetan haben könnte.

    Vom ›Roten Wedding‹ ließ sich nicht zehren – politisch war längst nichts mehr los.

    »Die Leute«, meinte Sybilla und dass Kreuzberg mit seiner Politszene ihr schon zu abgehoben sei. Im Wedding ginge es ums Reelle. Die anderen hatten ihre jungen Gesichter gefältelt.

    »Wer in seiner Kindheit die Kanalratten in der Panke hat schwimmen sehen, kann dem Reellen nicht mehr viel abgewinnen«, hatte Jutta das gemeinsame Unverständnis in Worte gefasst.

    Petra hatte ergänzt, die Freude an rauen, aber direkten Umgangsformen verlöre sich, wenn man sich, wie sie in ihrer Jugend, nur mit Tränengas im Anschlag durch die Straßen habe wagen können.

    »Und die Familie wohnt auch hier«, hatte Birgit eingeworfen.

    Familie auf dem Wedding – Sybilla war fast vom Stuhl gefallen vor Lachen. »Wenn ich mir das vorstelle! Meine Mutter keult« – das Wort hatte sie neu gelernt und gern benutzt – »die Gerichtsstraße hoch zum Einkauf am Nettelbeckplatz – nee! – vorbei an dem Kerl, der Ecke Reinickendorfer im Hauseingang rumhängt, ihr wisst schon, im olligen Mantel und mit dem verfilzten Haar auf dem Kopf.«

    Die anderen hatten die Achseln gezuckt, keine Ahnung, was daran komisch sein könnte. Sie hatten sich Sorgen um den Mann gemacht, gerade in diesem Winter, in dem es so kalt gewesen war und die Schneemassen vom Himmel stürzten.

    »Meint ihr, sie ist kaltherzig?«, hatte Jutta zaghaft gefragt, die sich in Sybillas hageren, muskulösen Körper verschossen hatte und ungern Schlechtes von ihr angenommen hätte.

    »Bloß ignorant«, behauptete Birgit. »Das ist ’ne Intellektuelle, das rieche ich. Die mussten nicht rechnen bei der zu Hause. Armut, das ist für die Lebensstil, Bohème oder so was. Dass ein Mensch in Deutschland vor Kälte und Hunger stirbt und wirklich tot ist, das begreifen die Reichen nicht.«

    Ganz falsch hatte Birgit nicht gelegen, aber auch nicht ganz richtig, wie Jutta an einem Abend erfuhr, den Sybilla und sie allein in der Wohnung verbrachten. Sie kochten gemeinsam – das Übliche: Reis mit Scheiß, Erbsen und Möhren aus der Dose in die weißen Körner gekippt. Zum Essen tranken sie Aldi-Rotwein, und als Sybilla auf dem Etikett las, dass der Wein im vorvergangenen Jahr gekeltert worden war, sagte sie: »Die Trauben könnte ich geerntet haben.«

    So erfuhr Jutta, dass Sybilla vor

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