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Sorge. Der Roman vom Dienen
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eBook247 Seiten3 Stunden

Sorge. Der Roman vom Dienen

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Über dieses E-Book

Das Schlüsselwort Sorge: Von großer Vielfalt sind die Erscheinungsformen der Sorge, die das Leben begleitet, von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Unsere Sprache kennt viele Wörter, in denen sich die Sorge in Gefühlen und Gedanken, im Tun und Planen ausdrückt. Im Zusammenleben wie im Leben des Einzelnen ist die Sorge ein Grundwort der Lebensgestaltung und -meisterung. Ebenso vielfältig sind die Formen des Dienens, die der Sorge umsichtig tätig begegnen. Kätchen Einsporn ist in ihrer Familie und in ihrem hauswirtschaftlichen Beruf eine Dienerin der alltäglichen Sorge. Im Alter wird die allein stehende Frau, die stets um ihre Unabhängigkeit gekämpft hat, selber ein Sorgenfall, und sie wehrt sich dagegen, es zu sein.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum12. Dez. 2014
ISBN9783738686104
Sorge. Der Roman vom Dienen
Autor

peter Pitt

Pitt ist Autor von"Gemeinwirtschaft - Der Roman vom Soll und Ist" (BoD 2014), "Goethe als Manager - eine Führungslehre" (Steintor 1987/88), "Für den Redner schreiben - Ghostwriters' Guide für die redselige Gesellschaft" (Erb 1984). Hinter ihm steht Armin Peter, geb. 1939. Als Volkswirt, PR-Berater und früherer Manager in Handelsunternehmen hat er zahlreiche Fachartikel verfasst.

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    Buchvorschau

    Sorge. Der Roman vom Dienen - peter Pitt

    Peter

    Die Schilder

    1

    „Hat dagegen das Bedrohliche

    den Charakter des ganz und gar Unvertrauten,

    dann wird die Furcht zum Grauen".

    Sein und Zeit § 30

    Saskia Thormählen schaute zurück auf die Tür, die sie nie wiedersehen würde. „Ich habe das Schild vergessen". Sie hatte die Wohnung besenrein gemacht, hatte nur einige Lampen, Vorhänge und Gardinen zurückgelassen, weil der neue Mieter, das junge türkische Paar, sie darum gebeten hatte. An das Schild, draußen an der Tür, hatte sie nicht gedacht.

    Aus der Fensterluke in der Dachschräge fiel die wirbelige Sonnensäule in das dunkle Treppenhaus und ließ das Messingschild in Gold leuchten: Friedrich Einsporn, Schneidermeister. „Das Schild nehme ich mit". Der Blechkasten mit den Werkzeugen, die in einer Vier-Zimmer-Wohnung gebraucht werden, war gestern vom Trödler abgeholt worden. In ihm hatte der lange Schraubenzieher gelegen, mit dem sie den von den Feuerwehrleuten verbogenen, halb abgerissenen Türbeschlag entfernt hatte. Sie blickte auf das glänzende Schild, das der unsichtbare Beleuchter anstrahlte wie vor dreißig oder vierzig Jahren, wenn sie die drei steil gewundenen Treppen hinaufgestürmt war und das magische Signum der großväterlichen Herrlichkeit, dessen Reinheit die Großmutter durch tägliches Polieren bewahrt hatte, sie zu einem respektvollen Stillstand nötigte.

    Saskia musste die Arme hoch anwinkeln, damit der Koffer und die Tasche mit den Papieren der toten Tante nicht auf die hohen Stufen schlugen. An der Tür des Ehepaars Lopez, das die Matratzen aus der Wohnung über ihm übernommen hatte, klingelte sie. Der Schäferhund, der seinen durchhängenden Bauch immer so Mitleid erregend über die Stufen schleppt, schlug heiser an, doch niemand kam an die Tür. In diesem Haus konnte sie nur die Familie Lopez um einen Schraubenzieher bitten. Die anderen Hausbewohner mochte sie nicht fragen, denn die hatten teilnahmslos, in vulgärer Neugier, in ihren Türen gestanden, als vor sechs Wochen die Feuerwehrmänner und das Polizistenpärchen die Treppen zur Wohnung der Tante hinaufgepoltert waren, um die Tür aufzubrechen.

    Sie suchte in ihrer Umhängetasche nach dem Nageletui und nahm die Feile heraus. Ihre Spitze passte in den Schlitz der Schraubenköpfe, als der verkrustete Putzschmutz von Jahrzehnten, auch mit Hilfe des Daumennagels, herausgekratzt war. Mit Mühe ließen sich die Schrauben im Holz bewegen. Das Schild pendelte an der letzten Schraube, und Saskia sah einen fingerlangen Papierstreifen. Im Flur war es jetzt so dunkel, dass sie die Schrift auf ihm nicht entziffern konnte. Sie löste die letzte Schraube aus dem Holz, legte das Schild behutsam auf die Matte, schaltete das Flurlicht ein und las die Aufschrift des verborgenen Schildes: Kätchen Einsporn, Hauswirtschafterin.

    Der Zettel war mit dem hellen Lack unter dem ornamental prunkvollen Schild verschmolzen. Saskia konnte den Streifen nicht abziehen, sie behauchte ihn, wie es der Großvater getan hatte, wenn er seine Briefmarken vom Kuvert löste, nahm die Feile zur Hilfe, doch die hatte sich in den Schlitzen der widerständig verwurzelten Schrauben schartig verformt. Es tat ihr weh, die Schildminiatur unter dem Prunkschild des Handwerksmeisters zerstören zu müssen. Der neue Mieter, die Familie Zukra, würde mit ihrem Schild den zerkratzten Fleck überdecken.

    Im Foyer, dessen braungelb marmorierte Wandfliesen dem Vandalismus der Zeit besser widerstanden hatten als die Haustür, öffnete sie das verbogene Türchen des Briefkastens, nahm die Prospekte heraus und entfernte das Namensschild „K. Einsporn unter dem Plexiglas. Der Name neben dem Klingelknopf draußen war zur Unleserlichkeit zerkratzt – „soll der Hausmeister ihn herausnehmen.

    Auf dem Parkplatz, dem Trümmergelände einer ehemaligen Tankstelle, stellte Saskia Thormählen vor der Müllhalde noch einmal ihr Gepäck ab. Hier war der einzige Standort, von dem sie über die Kronen der Eschen hinweg einen Blick auf die Wohnung im dritten Stock des Hauses Kleiner Schäferkamp 15 hatte. Den Balkon hatte die Tante nie betreten, denn sie hatte seine Tür durch meterhohe Stapel vieler Jahrgänge des doppelbändigen Hamburger Telefonbuchs zugemauert. Am Fenster hatte sie gesessen, wenn sie zum Abschied gewinkt hatte.

    Wie eine lange Verschollene war Kätchen Einsporn erst vor wenigen Jahren in Saskias Leben getreten. Die älteste Schwester ihrer Mutter hatte nach dem Tod der Großmutter Einsporn, vor dreiundzwanzig Jahren, mit ihrer Familie gebrochen. So ein Bruch, halb Rückzug, halb Angriff, vollzieht sich nicht selten in Familien. Vielleicht hätte Saskia den Kontakt zur Dissidentin der Familie gesucht. Doch sie wohnte seit langem in Wiesbaden, und Hamburg war ihr auf die Siedlung in Berne geschrumpft, in der ihre Mutter lebte. Eine Fremde war ihr die Tante am Kleinen Schäferkamp nicht, wenn auch ihr Name in der Berner Stube, in der die Mutter mit den Familien ihres Bruders und einer jüngeren Schwester die Geburtstage feierte, selten genannt wurde. Auch Saskia hatte diesen Ausgrenzungskonsens nie in Frage gestellt, aus Gleichgültigkeit, und dachte sie einmal an die Tante, die ihr aus ihrer Kindheit vertraut war, so empfand sie Sympathie für sie und ihre kantige Sturheit, die von den Verwandten als Kriegswille wahrgenommen wurde.

    Die Beisetzung der Mutter, vor sechs Jahren, hatten Nichte und Tante in der Kapelle 13 des Ohlsdorfer Friedhofs im „Seehof am Bramfelder See zusammengeführt. In der Kapelle hatte Kätchen Einsporn in einer der hinteren Reihen gesessen. Am Grab hatte sie Saskia nicht angesprochen, und Saskia musste ihren Lebensgefährten, den Pitt, bitten, ihr hinterherzulaufen, um sie in den „Seehof zu bitten. Sie wunderte sich immer noch darüber, dass die Tante der Einladung aus dem Munde des ihr unbekannten Mannes, der sie als „Tante Käte angesprochen hatte, gefolgt war. Erst während des Mittagessens hatte Saskia, die sich als Gastgeberin einer großen Trauergesellschaft überfordert fühlte, ihre Tante begrüßt. „Das finde ich lieb, dass du zu Muttis Beerdigung gekommen bist. Sie traute sich nicht, die alte Dame, die sich an einen fast leeren Tisch gesetzt, ihren Kamelhaarmantel mit dem Trauerflor am Ärmel nicht abgelegt und die Hände überm Bügel der großen Handtasche auf ihrem Schoß verschränkt hatte, an den Familientisch zu bitten. Niemand aus der Familie half ihr, die Sperre von Fremdheit zu durchbrechen. „Ich werde doch wohl zur Beerdigung meiner Schwester gehen!" hatte die Tante gesagt.

    Erst als die Suppe aufgetragen worden war, hatte Saskia die Tante bewegen können, ihren Mantel abzulegen und ihn dem Pitt in die Hände zu legen. Der hatte sich, amüsiert, dem steinernen Gast als Tischherr angeboten. Sie saß da in ihrer distanzierenden Frostigkeit, und jeder Blick, jeder Anflug eines krampfhaften Lächelns, der vom Familientisch zur ihr hinüberwanderte, war mit einem deutlichen Vorstrecken des Kinns beantwortet worden. Das einzige, was die Gesellschaft von ihr hörte, war das Klappern des Bügels ihrer Tasche, wenn sie das Taschentuch hineinlegte. Das Angebot eines der Neffen, sie nach Hause zu fahren, hatte sie abgelehnt. Doch als Saskia am nächsten Tag die Tante anrief, hörte sie zu ihrer Überraschung, dass ihr Besuch willkommen sei.

    Vor drei Jahren hatte Saskia begonnen, das leer stehende Elternhaus in Berne umzubauen. Die Arbeiten an dem alten Haus, das nicht nur modernisiert, sondern auch erweitert werden sollte, waren kompliziert und zogen sich in die Länge, und auf ihren Fahrten in die Stadt, auf der Suche nach Einkaufsquellen für die Ausstattung, nach nervenden Gesprächen mit den Handwerkern und dem Architekten, war sie häufig zur Tante auf eine Tasse Tee hinaufgesprungen.

    An ihrem 85. Geburtstag hatte Kätchen Einsporn ihrer Nichte von ihrem Fenster aus zum letzten Mal nachgewinkt. Es war ein Zeichen der Schwäche gewesen, dass sie an ihrem Geburtstag die Wohnung nicht verlassen wollte. Saskia hatte sie zu einer Bootsfahrt auf der Alster und einem Essen in einem der Restaurants am Ufer eingeladen. Den Geburtstag im Jahr davor, im frühen Juni, hatten sie noch auf einem Ausflug nach Schulau zum Willkomm Höft gefeiert, und sie hatten lange im krächzenden Lärm der Nationalhymnen zum Gruß der ein- und ausfahrenden Schiffe unter der weittragenden feierlichen Stimme des Lautsprecherkapitäns gesessen. Saskia hatte sich über die Gesprächigkeit der alten Frau gefreut, wenn auch der Nachmittag in einem Misston ausgeklungen war: nein, einladen, das komme nicht in frage. „Ich zahle immer selbst".

    An einem Augustabend in Altenahr, müde von einem langen Marsch auf dem Rotweinwanderweg, einem Essen und ungewohntem Weingenuss, hatte Saskia die Tante angerufen, wie sie es an jedem Tag tat. Die Tante hatte sich nicht gemeldet. Oft war es vorgekommen, dass sie den Hörer abgenommen und ihn nach einem Moment des Lauschens ohne einen Laut aufgelegt hatte. Der Schock eines tagelangen wortlosen Telefonterrors, dessen Urheber sie bei feindseligen Nachbarn vermutete, wirkte immer noch nach, aber auch das Misstrauen, dass eine beginnende Schwerhörigkeit schürt, hatten sie vor ihrem Apparat stumm gemacht. Doch den Hörer hatte sie immer abgenommen.

    In der Weinstube Altenahrs hatte Saskia den Gedanken an ein Unglück verscheucht, und sie war darin durch ihren Lebensgefährten bestärkt worden, der gemeint hatte, die Wunderlichkeit alter Leutchen sei kein Grund, einen Sommerabend mit Sorge zu beladen. Am Morgen hatte es wieder keine Reaktion auf ihr Läuten gegeben, auch mittags nicht. Saskia telefonierte mit den Johannitern in Hamburg. Mit ihnen war Kätchen Einsporn auf Saskias Anraten durch einen SOS-Ruf, ein Signalgerät, verbunden. Die Johanniter hatten keinen Ruf empfangen.

    Saskia hatte an die unbenutzten Geräte in der Wohnung am Schäferkamp gedacht, an den ewig stummen neuen Fernsehapparat, die nie berührte Waschmaschine, den leeren Kühlschrank. Eine neue Telefonanlage hatte Saskia kürzlich installieren lassen, der eine Regulierung der Lautstärke erlaubt und statt der Wählscheibe die Tastatur hatte. Ob die Tante ihre Abneigung gegen die Vehikel einer für sie nutzlosen Modernität auf das Telefon übertragen hatte?

    Auf dem Heimweg nach Wiesbaden, während des Essens im Kloster Maria Laach, das auf ihrem Reiseprogramm stand, hatte Saskia noch einmal telefoniert, vergeblich. In Wiesbaden hatte sie am Nachmittag ihren größten Koffer vollgestopft, nach kurzem Zaudern auch das dunkle Kostüm hineingelegt und sich von ihrem Lebensgefährten nach Frankfurt fahren lassen, um dort den ICE nach Hamburg zu nehmen.

    Sie klingelte. „Tante Käte! rief sie. Sie schlug mit den Handballen gegen das Holz, sie rief durch den verstopften Briefkastenschlitz. Das Ehepaar Lopez stand unten an der Treppe. „Wir haben Frau Einsporn seit einer Woche nicht mehr gesehen. Ungläubig starrte Saskia auf die beiden hinab. Seit sieben Tagen! Es sei ihre Absicht gewesen, rief Frau Lopez, Saskia zu verständigen, wenn sie bis Montag von der alten Dame nichts gehört hätten. Saskia trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Schon einmal, während ihres letzten Besuchs vor drei Wochen, hatte sie klingelnd, pochend, rufend vor der Tür gestanden: die Tante hatte lange nicht geöffnet, als Saskia von einem Einkauf zurückgekommen war. Einen Schlüssel hatte die Tante Saskia nicht überlassen.

    Aus der Lopezschen Wohnung rief Saskia den Johanniter-Dienst. Der Zivildienstleistende hatte den Schlüssel, konnte aber nicht öffnen, da der von innen steckende Schlüssel das Schloss blockierte. Herr Lopez hatte schon Hammer und Stemmeisen in der Hand. Nein, das müsse die Feuerwehr tun, wusste der Zivi, auch sei die Polizei zu rufen.

    Ein Hieb auf das unter die Tür geschobene Eisen hatte genügt, um den Riegel aus der Fußleiste heben und die Flügeltür aufdrücken zu können. „Sie bleiben hier stehen, sagte der ältere Feuerwehrmann, „da kann man sich manchmal erschrecken. Durch die Tür sah Saskia das Licht in der Schlafkammer aufscheinen. „Hab’ keine Angst, Tante Käte, rief Saskia, „ich bin es, Saskia, ich will dich besuchen. Da hörte sie die Stimme der Tante. In diesem Augenblick wusste Saskia, dass sie erwartet hatte, ihre Tante tot vorzufinden.

    Wie lange hatte die Greisin vor ihrem Bett gelegen? Zwei Tage, drei Tage? War sie gefallen? Verletzt war sie offenbar nicht: sie stand zwischen den beiden Feuerwehrmännern, die sie an den Unterarmen stützten. Sie hatte die Steppdecke vom Bett zu sich auf den Boden gezogen, hatte auf ihr gelegen oder sich in sie eingehüllt. Sie trug ihr Nachthemd. Vielleicht war sie gar nicht gefallen, vielleicht hatte sie sich vor das Bett gelegt, auf den schmalen Gang zwischen dem Kleiderschrank und dem Toilettentisch, der am Fußende der an die Wand geschobenen Doppelbetthälfte stand. „Es hat geklopft. Es hat immer geklopft. Von oben". Mehr sagte die Tante nicht.

    „Muss das denn sein? blaffte Saskia die junge Polizistin mit den kindlichen blonden Kräusellocken unter der Mütze an, die ohne Regung auf die dürre, verstörte Greisin geschaut und Saskia zum dritten Mal aufgefordert hatte, ihren Personalausweis zu zeigen. „Sie müssen sich ausweisen, wir wissen ja nicht, wer Sie sind. Als ich geklingelt, gerufen, geklopft habe, ist sie bei Bewusstsein gewesen, dachte Saskia, sie hat nicht geantwortet, weil sie sich fürchtete. Die kleine SOS-Box der Johanniter war nirgendwo zu sehen: sie hat sie nie auf der Brust getragen, dachte Saskia, als sie endlich den Ausweis in ihrer Umhängetasche gefunden hatte.

    Kätchen Einsporn lag auf ihrem Bett und schlürfte das Leitungswasser aus der Tasse in den ausgedörrten Körper. Während sie mit der rechten Hand die Tasse führte, umklammerten die knochig überlangen Finger der Linken den Bügel der Handtasche, die an der Wand stand.

    „Wir gehen, sagten die Feuerwehrmänner, „wir können nichts mehr tun hier. Saskia protestierte: ob sie nicht sähen, wie schlecht es ihrer Tante gehe, sie müsse ins Krankenhaus, sofort. Die Frau sei kein Fall fürs Krankenhaus, ein paar Tage Pflege, gut essen und trinken und sie sei wieder in Ordnung. „Und das können Sie entscheiden! – das könnten sie, solche Fälle sähen sie oft genug. „Aber in ihrer Wohnung kann die alte Frau nicht bleiben, das sehen Sie ja, sagte der jüngere Mann, hob schnüffelnd die Nasenflügel und kickte ostentativ angewidert die Brotrinden, die auf dem Linoleum des Flurs lagen. Das Polizistenpärchen nickte.

    „Saskia! rief die Tante. „Sind die Menschen weg? Wer war das? Ihre Stimme war etwas fester. „Es klopft. Von oben. Saskia hörte Geräusche aus einer Nachbarwohnung, die wahrscheinlich renoviert wurde. „Das sind Handwerker nebenan. Ich bin jetzt da.

    Die Notärztin war sehr schnell gekommen. „Lassen Sie das! rief Kätchen Einsporn, als die Ärztin ihren Körper, der in einer verdreht starren Haltung auf dem grau-grobwandigen Laken lag, bewegen wollte, um nach Verletzungen zu tasten. „Es ist nichts, nur ein bisschen Pflege. In welcher Krankenkasse ist Ihre Mutter? Wohl AOK. „Das wissen Sie nicht? Der Vorwurf war unüberhörbar, doch Saskia erklärte nicht, dass die alte Frau nicht ihre Mutter sei. Verzweifelt suchte sie nach Argumenten, um die Ärztin zu bewegen, die Tante in ein Krankenhaus zu überweisen. „Aufpäppeln. Das können sie besser als jedes Krankenhaus. Oder können Sie sich nicht um Ihre Mutter kümmern?

    Saskia stand vor dem Vertiko auf dem Flur und überlegte, wie sie aus dem grotesken Lebensmittelvorrat, der sich in Dosen und Paketen auf ihm türmte, eine Mahlzeit zubereiten könnte, die einer schier verhungerten uralten Frau bekömmlich wäre. Die Greisin saß auf der Bettkante und wollte aufstehen. „Es klopft. Es klopft von oben". Saskia musste alle ihre Kraft, die sich in der Erregung der letzten Stunden aufgezehrt hatte, aufbieten, um den zerbrechlich angespannten Körper auf das Bett zu drücken. Die Tante war in einen Halbschlaf gesunken, ihre Lippen bewegten sich. Sie stirbt, dachte Saskia.

    Wieder wählte sie die Nummer der Feuerwehr. „Ihre Tante ist kein Notfall. Wir brauchen eine ärztliche Einweisung ins Krankenhaus. Noch einmal der notärztliche Dienst: eine teilnahmsvolle, warm-väterliche Stimme, die nach Ereignissen und Symptomen fragte. Dieselbe Ärztin erschien, und sie hatte ihre erste Entscheidung überdacht. „Wir bringen Sie ins Krankenhaus, Frau Einsporn, nur für ein paar Tage, bis Sie wieder zu Kräften gekommen sind. Kätchen Einsporn war hellwach, und ihre grauen Augen, die klein und tief in den umdunkelten Höhlen lagen, funkelten zornig. „Ich will nicht ins Krankenhaus. Es klopft. Es klopft von oben. Die Ärztin schrieb die Einweisung. „Es warten so viele Patienten, sagte sie entschuldigend, als Saskia sie bat, bis zum Eintreffen des Krankenwagens zu warten.

    Die jungen Männer unternahmen nur einen einzigen Versuch, die alte Frau aus ihrem Bett zu heben. „Lassen Sie das, lassen Sie das! rief die Tante und krallte die rechte Hand ins Laken, „ich will nicht ins Krankenhaus, ich habe Sie nicht gerufen. Ohne die Einwilligung der Patientin kein Transport, sie könnten niemand zwingen. „Und wenn sie bewusstlos wäre? rief Saskia empört. „Das ist offensichtlich nicht der Fall, wir können sie nicht zwingen. Wir sind keine Menschenräuber. Der junge Mann schlug sich auf den Mund, als die alte Frau rief: „Räuber! Räuber!"

    Sie wird sterben, dachte Saskia. Man hatte sie allein gelassen mit einer Sterbenden. Wie soll ich sie füttern? Sie wird nichts essen. Von drei Schlucken Leitungswasser nach Tagen des Dürstens und Hungerns kann ein Körper nicht leben. Ich müsste sie waschen. Ihre Augen maßen die Entfernung zwischen den Türen der Schlafkammer und des Bads. Es war spät geworden an diesem Sonnabend am Kleinen Schäferkamp, elf vorüber. Nirgendwo würde sie Hilfe finden, wenn die Kranke, von ihren Klopfalben gepeinigt, das Bett verlassen, straucheln, stürzen, sich verletzen würde: sie würde sie nicht tragen können. Saskia fühlte sich erschöpft und todmüde. Musste sie wachen am Bett der Verwirrten? Die Wohnungstür ließ sich nicht verschließen, die Sperrkette war zerrissen. Sie fror, und es trieb sie dennoch dazu, das Fenster in der Küche weit zu öffnen. „Saskia, bis du da? Es klopft. Es klopft von oben".

    Saskia hatte das Licht ausgeschaltet und sich auf den Stuhl, auf den harten Ledersitz, die schnörkeligen Stäbe kantig im Rücken, ans Fußende des Bettes gesetzt. Schläft Tante Käte? Der Blick aus dem Kammerfenster ging an schwarzen fensterlosen Schachtwänden entlang, ehe er ins Freie fand. Dort stand der Fernsehturm in seinen blinkenden und statischen Rotlichtern, bekränzt von der weißstrahlenden Plattform des Restaurants, in dem Saskia vor Jahren einmal mit ihrer Tante gesessen und ihr die Fenster ihrer Wohnung gezeigt hatte. Der lange Tag lag schwer in den Beinen und Armen. Schläft sie? Ja, es klopfte: jemand nagelte Leisten, auch ein Gerumpel wie von einem Schrankrücken und das Klappen von Türen waren zu hören. War da nicht ein Getrappel auf dem Dachboden?

    2

    „Als Sorge ist das Dasein

    wesenhaft sich-vorweg".

    Sein und Zeit § 68

    Das golden schimmernde Namensschild am hellen Eichensarg war nicht viel breiter, nicht viel höher als das Zettelchen an der Tür im Kleinen Schäferkamp, das wohl dreißig Jahre lang unterm Schild des Schneidermeisters Einsporn verborgen war. Es leuchtete in der Septembersonne. Vier Personen, die hinter dem Sarg hergingen, sahen es, nach einem langen Leben das erste Schild, das Kätchen Einsporn offen als Inhaberin einer Wohnung auswies: sie hatte es an eine Tür schrauben lassen, die sie nie mehr öffnen müsste.

    Eine winzige Trauergemeinde: Pastor Kaminski von der Christuskirche, Saskia Thormählen und ihr Lebensgefährte, der Neffe Joachim Einsporn, der Mitarbeiter des Bestatters und die Träger zählen wohl nicht. Fast gleichzeitig, um 13 Uhr, waren die drei Autos auf der Mittelallee vor der Kapelle 13 eingetroffen. Saskia war durch das Erscheinen ihres Vetters überrascht worden, denn die Tante hatte mit seinem Vater bis zu seinem Tod in einem besonders grimmigen Zwist gelegen. Sie war froh über seine Teilnahme, beginnt doch eine richtige Gemeinde mit dreien.

    Pastor Kaminski hatte in einem Seitenraum der Kapelle 13 den

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