Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Brockesstraße Beletage: in Lübeck St. Lorenz Nord
Brockesstraße Beletage: in Lübeck St. Lorenz Nord
Brockesstraße Beletage: in Lübeck St. Lorenz Nord
eBook331 Seiten4 Stunden

Brockesstraße Beletage: in Lübeck St. Lorenz Nord

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die aus Ostpreußen geflüchtete Kriegerwitwe Frieda Markuweit wird 1947 in die Wohnung der altansässigen Lübeckerin Alma Curtz, ebenfalls Kriegerwitwe, in der Brockesstraße in Lübeck St. Lorenz Nord zwangseingewiesen. Vor dem Hintergrund der Not und des Wiederaufbaus, des Aufbruchs, des "Hurra, wir leben noch", von Gaunereien und Kleinkriminalität, schildert der Roman die Konflikte, die durch die auseinanderklaffenden Lebenswelten der beiden Frauen entstehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSTROUX edition
Erscheinungsdatum18. Mai 2023
ISBN9783948065355
Brockesstraße Beletage: in Lübeck St. Lorenz Nord

Ähnlich wie Brockesstraße Beletage

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Brockesstraße Beletage

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Brockesstraße Beletage - Anette L. Dressler

    Ein Gefühl von Wohligkeit

    durchströmte Alma Curtz

    Ein Gefühl von Wohligkeit durchströmte Alma Curtz, als sie nach dem Aufstehen am Morgen durch ihre Wohnung in der Brockesstraße ging. Sie trug ihre Tasse mit dem Muckefuck aus der Küche, die zum Hof hin lag, in ihr sonnendurchflutetes Wohnzimmer im vorderen Bereich und setzte sich auf das zerschlissene Sofa. Es erfüllte sie mit Zufriedenheit, dass ihr Salon – wie sie ihn liebevoll nannte – noch genauso geblieben war wie vor dem Krieg, vor den Luftangriffen, die sie mit den anderen Bewohnern aus dem Mietshaus der Gründerzeit gemeinsam im Luftschutzkeller verbracht hatte. An diese unfreiwilligen Zusammenkünfte wollte sich Alma nicht erinnern, sie vertrieb ihre Gedanken daran schnell. Stattdessen griff sie sich einen Staubwedel und widmete sich mit Hingabe den Erbstücken aus der Familie ihres Mannes in der Glasvitrine des verschnörkelten Louis-Quatorze-Schrankes: dem geblümten chinesischen Teeservice, der Keks-Etagère mit den goldenen Füßen sowie der filigranen Vase in zartem Rosa, die sie auf den Bierdeckel mit der Aufschrift Ein guter Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör (Wilhelm Busch) gestellt hatte. Die auf dem dreibeinigen Kaffeehaustisch neben dem Sofa wie zufällig aufgestapelt wirkenden Bücher entstaubte sie ebenfalls. In diese Bücher, Winnetou I und II von Karl May, Daniel Defoes Robinson Crusoe, den Rechtschreibduden, aus denen Lesezeichen herausragten, hatte sie noch nie hineingesehen, doch sie hütete sie wie ihren Augapfel, gaben sie ihr doch das Gefühl, ihr verstorbener Mann Rudolf wäre noch in der Nähe und könnte jede Minute einen Band herausnehmen und darin zu lesen beginnen. Der Antrieb, die Wohnung von Grund auf zu putzen, war ihr seit dem Tod ihres Mannes abhandengekommen. Es genügte ihr nun, wenn der Salon aufgeräumt und ordentlich wirkte, alles an seinem Platz stand und die Gegenstände in der Vitrine glänzten. Einzelne Schmutzecken nahm sie aufgrund ihrer zunehmenden Kurzsichtigkeit nicht wahr; Rudolf mit seinen Adleraugen hätte jedes Staubkorn erspäht und es ihr zum Vorwurf gemacht.

    Vor zwei Jahren hatte sie die Nachricht erhalten, dass ihr Mann von seinem Einsatz an der Ostfront nicht zurückkommen werde. Bis dahin hatte sie gemeinsam mit ihm den Kurzwarenladen in der Wahmstraße geführt, in dem es neben Reißverschlüssen, Nähgarn und Gummibändern auch allerlei Krimskrams zu kaufen gab. CURTZWAREN stand dort in roten Lettern und darunter noch einmal in Blau KURZWAREN. Ein Beamter der Lübecker Stadtverwaltung hatte sie eines Tages aufgesucht, um sie darauf hinzuweisen, dass die Schreibweise der Waren mit ihrem Namen nicht angemessen sei, und sie der Ordnung halber doch den korrekten Namenszug anbringen sollten. Das hatte sie erbost, da ihre Lübecker Stammkunden genau wussten, was sich hinter dem Namen verbarg. Sie veränderten das Schild nicht; es blieb bei der einmaligen mündlichen Ermahnung.

    Sie verlor sich in dem Gedanken, ob sie vielleicht nun nach Kriegsende in ihrer Lebenssituation einen Neuanfang wagen und ihr Lädchen wieder öffnen sollte. Als alleinstehende Kriegerwitwe würde sie günstige Kredite erhalten, wäre ihre eigene Herrin, könnte ihre Kundinnen mit ihrer Sachkenntnis beraten, mit ihnen über die neue Rocklänge, die Stoffe der Kissen- und Schonbezüge, Schnittmuster plaudern und über Mannequins klatschen, ohne dass sich Rudolf in den Vordergrund drängte, den Damen schmeichelte und sie selbst in den hinteren Lagerraum verwies, wo sie die Garne, Nadeln und Knöpfe nach Größe und Farbe in die einzelnen Schachteln einsortieren sollte.

    Sie würde der Mode entsprechend aus Gardinenstoffresten und Militärmänteln Kleider für sich maßschneidern und im Verkaufsraum präsentieren können. Immerhin war sie mit ihren zweiundvierzig Jahren, ihren schlanken, wohlgeformten Beinen, dem flachen, knospigen Busen mit Körbchengröße 70 B, der naturaschblonden, lockigen Pompadourfrisur, dem schmalen Gesicht mit den hohen Backenknochen und tiefblauen Augen nach wie vor eine attraktive Erscheinung.

    Sie würde weiterhin vorgeben, dass sie bewusst auf Kinder zugunsten der Kurzwaren verzichtet habe. Natürlich hatte sie damals Verständnis dafür, dass es für Rudolfs Männlichkeit nicht hinnehmbar gewesen wäre, wäre nach außen gedrungen, dass ihrer beider Kinderlosigkeit auf die Unterentwicklung seiner Hoden zurückzuführen war. So hatten sie sich in ihrem Leben zu zweit als angesehene Lübecker Kaufleute eingerichtet.

    Damals konnte sie auch gut damit umgehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, Geschriebenes zu lesen und eigene Briefe zu schreiben. Nun musste sie sich eingestehen, dass ohne Rudolfs zuverlässiges auf sie Achtgeben ihr Alltagsleben sehr erschwert war. Es war nicht so, dass sie gar nicht lesen oder schreiben konnte, jedoch kostete es sie große Mühe, vollständige Sätze zu entschlüsseln oder diese gar mit einem Füllfederhalter aufs Papier zu bringen. Wenn sie die Aufschriften auf den Verpackungen mit den Kochanleitungen verstehen wollte, konnte sie diese nur in einem langsamen Tempo, vergleichbar den eifrigen Leseversuchen eines Erstklässlers, laut vorlesend „Kaaaaa-feeeeeeeeee-er–––s––atz, „Maaaaaaaaaaaiiiiiiiiis…meel oder „Naaaaaaaaatrooooonlaaaauuuugeee" erschließen. Es kam ihr entgegen, dass das Angebot an verpackten Lebensmitteln im Moment begrenzt war, so dass sie sich den einzelnen Waren von der äußeren Gestalt und den Farben her nähern konnte; so befand sich ihr geliebter Linde’s Kornkaffee, den sie mit Genuss morgens als erstes zu sich nahm, in einem blau-weißen kleinen Paket, auf das sie zielsicher verweisen konnte. Bei den Lebensmittelkarten, die sie am Verkaufsstand von Frau Weber in der Schwartauer Allee einlöste, waren die Produkte ohnehin vorgegeben. Es fiel ihr auch leicht, auf charmante Art mit ihrer Umgebung ins Plaudern zu kommen. Wenn sie die mit ihr in der Schlange wartenden Frauen nach einem neuen Kartoffel-, Rüben- oder Möhrenrezept fragte, erklärten die ihr bereitwillig im Detail, was sie mit diesem oder jenem Gemüse auf den Tisch zauberten. Wenn ihr eine der Damen vorschlug, das Rezept für sie aufzuschreiben, konnte sie damit beeindrucken, dass sie aufgrund ihres herausragenden Gedächtnisses in der Lage war, sich die Anleitung zu merken, indem sie alle Details lauthals wiederholte.

    Dennoch war sie sich bewusst, dass die Öffnung ihres Lädchens für sie ein Traum bleiben musste; ihr Defizit würde sie beim Umgang mit den Behörden behindern.

    Ihr ganzer Stolz vor der „schlechten Zeit", wie sie sie nun alle nannten, war der Vorgarten vor dem Mietshaus gewesen: Hortensien, Phlox und Rosen blühten bunt im Frühsommer und boten eine Augenfreude nicht nur für die Bewohner des Hauses, sondern auch den Passanten auf den Gehwegen, die stehenblieben, um die Blumenpracht in sich aufzunehmen. Nun entdeckte Alma jedoch ihre praktische Seite: sie pflanzte auf dem mit Schmiedeeisen eingezäunten Sechs-Quadratmeter-Areal vor dem Haus Kartoffeln, Petersilie, Schnittlauch und Kamille an und erweiterte ständig ihr Repertoire an Kartoffelrezepten, wie zum Beispiel Kartoffeln mit Salz gekocht, im Biermantel mit Wurzelkraut, mit Kohlrabi oder auch nach Schleswig-Holsteiner Art mit Bohnen, Birnen und Speck, je nachdem, was sie mit ihren Lebensmittelkarten als Zutaten ergatterte oder auf dem Schwarzmarkt tauschen konnte.

    Als Alma an diesem Morgen ihren Briefkasten im Erdgeschoss des Hauses öffnete, fiel ihr ein Umschlag entgegen, dessen Absender offensichtlich eine Behörde war. Mit zittrigen Händen riss sie ihn auf. Den letzten offiziellen Brief hatte sie erhalten, als ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Gatte Rudolf Curtz am 7. März 1945 den Heldentod für Führer und Vaterland gestorben sei. Sie konnte sich gut erinnern, wie sie die Treppe in den zweiten Stock hinaufgestürzt war, in ihrer Verzweiflung bei dem alten Ehepaar Schreiber klingelte, unter Tränen – vorgebend keine geeigneten Brillengläser mehr zu besitzen – den achtundsiebzigjährigen Herrn Schreiber gebeten hatte, ihr doch den Inhalt des Briefes vorzulesen, was dieser betroffen tat.

    Dem grau-grünen, dünnem Packpapier ähnelnden Briefumschlag entnahm sie ein vorgedrucktes Formular. Schon länger hatte Alma befürchtet, ihre Wohnung von siebenundsechzig Quadratmetern, bestehend aus zweieinhalb Zimmern, Flur, Küche und Innentoilette, in der sie seit dem Tod ihres Mannes allein lebte, teilen zu müssen. Sie bemühte sich, die vor ihr verschwimmenden Wörter nach und nach zusammenzufügen, die das Unausweichliche offenbarten:

    E I N W E I S U N G

    in: Wohnung Curtz, Lübeck Brockesstraße 86 A, 1. Stock, 1/2 Zimmer, Frau Frieda Markuweit, z.Zt. wohnhaft Siemser Schule, Siemser Landstr. zur Verfügung zu stellen: ab dem 1.9.1947 gezeichnet: Kreis-Resident-Officer des Stadtkreises Lübeck (820. Detachment)

    A.J.R. Munro

    Sofort erschien vor ihrem Auge das Bild einer ungepflegten, in jeder Lebenslage mit bunter Kittelschürze bekleideten Bauersfrau mit unförmigen Rundungen, die schwerfällig mit Messer und Gabel umging, die den Muckefuck schlürfen und den Flur hörbar entlangschlurfen würde. Das undeutliche Kauderwelsch der ostpreußischen, pommerschen oder schlesischen Dialekte der Flüchtlinge hatte sie schon öfter auf der Straße hören müssen. Für sie als akzentuiert hochdeutsch sprechende Lübeckerin war das nicht zu verstehen und auch nicht der Mühe wert, war sie doch der Meinung, dass diese Menschen aus den Ostgebieten, die ihr natürlich leidtaten, richtiges Deutsch lernen sollten.

    Auf keinen Fall würde sie einer Frau, mit der sie sich noch nicht einmal unterhalten könnte, ihr halbes Zimmer bereitstellen, das sie für sich eingerichtet hatte und auf das sie nicht verzichten konnte, waren dort doch auch Reste ihrer Kurzwaren, sorgfältig geordnet in Schuhkartons, in den Schubladen ihres Vertikos verstaut. Das neun Quadratmeter große Zimmer mit den bis zum Holzboden reichenden Fensterscheiben ging zum Hof, wo sie manchmal Kinder spielen und lachen hörte, wo es dennoch ruhig und beschaulich war. Am frühen Nachmittag setzte sie sich gern mit ihren Näharbeiten ans helle Fenster und träumte von einem aufregenderen Leben, in dem sie als wieder mit einem gut situierten Fabrikanten verheiratete Gattin auf einem Gutshof in der Umgebung des Pariner Berges über ihre Felder schritt.

    Vor Rage und Empörung nach Luft ringend, dass ihr auch nichts im Leben erspart bleibe, nahm sie sich vor, am nächsten Tag die Dienststelle aufzusuchen, um Beschwerde einzulegen. Wenn sie Glück hätte, wäre der ihr bekannte, für den Buchstaben C zuständige Sachbearbeiter, Herr Fricke mit den kurzen X-Beinen, hinter dem Schalter anzutreffen, dem sie damals als besonders gutem Kunden des Öfteren eine Hose gekürzt hatte, was normalerweise nicht zu ihren Dienstleistungen gehörte. Sicherlich würde er für ihr Problem Verständnis zeigen und Frau Markuweit anderweitig unterbringen, wo sie auch als Mensch mit ihrem Habitus besser aufgehoben wäre, wie zum Beispiel in dem nah gelegenen, dennoch ländlichen Stockelsdorf, hatten dort doch einige Bauernhäuser auch in den geräumigen Scheunen und Ställen Platz für Einquartierungen. Für ihren Auftritt bei Herrn Fricke wählte Alma ihre Kleidung sorgfältig aus, entschied sich für ihren rot-schwarz gepunkteten Glockenrock, zu dem das selbst gehäkelte, enganliegende Oberteil aus Baumwolle passte, das ihre Formen besonders betonte.

    Als Alma in das Büro der Dienststelle eintrat, stand Herr Fricke von seinem Stuhl hinter dem Schalter auf und kam auf sie zu. Dabei verursachten seine Hosenbeine, die zu weit und zu lang über seine Schuhe fielen, ein schlurfendes Geräusch. Sie wohlwollend musternd, zog er ihre Akte mit der Aufschrift Cu – Brockesstraße aus dem Regal und fragte nach ihrem Befinden. Sein zunächst freundliches Gesicht entwickelte sich zu einem strengen mit herabhängenden Mundwinkeln, als er ihr Anliegen hörte.

    „Verehrte Frau Curtz, entgegnete er entschieden, „ich muss mich an das Wohnungsgesetz halten, ich habe meine Vorschriften. Bitte schön, ich habe die hier für Sie vorliegen. Sie können sich die ‚Einquartierungskonditionen zur Zwangseinweisung‘ in Ruhe durchlesen. Setzen Sie sich doch für einen Moment auf den Stuhl in der Ecke. Und das ist doch auch nicht für ewig. Die Zeiten ändern sich doch!

    Leicht errötend hörte Alma sich antworten: „Nein, danke, ich glaube Ihnen. Aber wer bezahlt das alles?"

    „In Zukunft wird das bestimmt entschieden, das muss alles noch bearbeitet werden. Warten Sie ab. Ich kann leider nichts mehr für Sie tun, Ihre Einzuquartierende wird am 1.9. bei Ihnen vorstellig werden. Ich empfehle mich, auf Wiedersehen, Frau Curtz!"

    Dann gab er der nächsten wartenden Dame zu verstehen, dass sie jetzt an der Reihe war. „Es freut mich, Sie begrüßen zu dürfen, verehrte Frau Curtius", hörte Alma ihn noch sagen, als sie niedergeschlagen Herrn Frickes Kontor verließ.

    Alma genoss die Sommermonate Juli und August mit ihren wärmenden Sonnenstrahlen mit ganz bewusster Inbrunst allein in ihrer Wohnung, widmete sich liebevoll ihrem Vorgärtchen, freute sich für diesen über gelegentlichen Nieselregen, pflanzte neben den Kräutern und dem Gemüse auch wieder eine lilafarbene Hortensie, die sie als Ableger von den Eheleuten Schreiber aus dem zweiten Stock aus deren kleinem Schrebergarten an der Lohmühle geschenkt bekommen hatte. Sie konnte die pompöse Blüte trocknen und in ihre Glasvase auf dem Beistelltisch im Salon stellen. Über ihren zu erwartenden ungebetenen Gast schwieg sie, auch als die beim Einlösen ihrer Lebensmittelkarten in der Schlange vor ihr stehende Frau Kötschenreuter, gebürtige Lübeckerin, ihr anvertraute, dass sie demnächst jemand Fremdes aufnehmen solle und man wohl nichts dagegen unternehmen könne.

    Alma antwortete: „Das ist wohl so, da muss man durch in diesen Zeiten, und fragte: „Wissen Sie nicht, ob in der Stadt mal wieder was los ist, so mit Musik und Tanzen?

    Die schmallippige Antwort ihrer Nachbarin: „Ich bitte Sie, ich warte auf meinen Mann, der kommt bald aus dem Krieg zurück, und ohne den gehe ich doch nicht aus!, ließ Alma sogleich wieder verstummen, während eine hinter ihr stehende jugendlich wirkende Frau, die so aussah, als habe sie ähnlich viel Mühe auf ihre Pompadourfrisur verwendet, ihr ins Ohr flüsterte: „Es wird überall getanzt, draußen in der Rosenstraße, in der Wallstraße und im Tanzpalast Muus! Schließlich leben wir noch, oder? Ein paar schneidige Männer gibt es dort auch.

    Alma horchte auf. Wie gern würde sie wieder einmal einer Musikkapelle lauschen und in den Armen eines Mannes über die Tanzfläche schweben.

    „Kommen Sie doch mal mit in das Hinterzimmer der neu eröffneten Milchbar am Hauptbahnhof, dort üben wir jeden Freitag Boogie-Woogie, es gibt eine Musikbox, spitze ist das!"

    Boogie-Woogie kam Alma einem Zauberwort gleich, übte sie den amerikanischen Tanz doch morgens nach dem Aufstehen zur Swing-Musik im Nordwestdeutschen Rundfunk vor dem Spiegel, so wie sie sich den Hüftschwung vorstellte, wobei sie sich mit einem Besenstiel als männlichem Tanzpartner behalf und darin versunken vergaß, dass für Rudolf damals alles amerikanische Gehopse – wie er es nannte – einem Teufelswerk gleichgekommen war.

    Ein wenig zögerlich schlüpfte Alma am Freitag durch die Eingangstür mit der Aufschrift MILCHBAR in der Nähe des Hauptbahnhofs. Zunächst traute sie sich nicht, weiter in das Hinterzimmer vorzudringen, nahm im vorderen Bereich des Lokals auf einem der zierlichen Kaffeehausstühle Platz und bestellte ein Glas Milch mit Zimt und Zucker. Dafür bot sie drei Zigaretten an, die ihr Herr Schreiber aus dem zweiten Stock zum Tauschen zugesteckt hatte. Begierig und genüsslich sog sie das Getränk und den darin enthaltenen Zucker nach der langen Entbehrung in sich auf, ließ dabei die Tür hinter dem Tresen nicht aus dem Auge.

    „Suchen Sie etwas?, fragte die Bardame, die die Milchgetränke mit einem großen Löffel umrührte. „Könnte es sein, dass Sie mittanzen wollen? Die Jungs und Mädels rücken bestimmt gleich an!

    In diesem Moment ergoss sich ein Schwall junger Leute in das Lokal, die sich alle zunächst um den Tresen versammelten und dann mit einem Glas Milkshake in der Hand unauffällig nacheinander im Hinterzimmer verschwanden. Kurz darauf vernahm ihr Ohr von dort gedämpften Swing. Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl, wie in Zeitlupe bewegte sie sich auf die Tür zu. Von der ihr verschwörerisch zuwinkenden Bardame ermutigt, öffnete sie. Im verrauchten Licht des Nebenzimmers nahm sie nach und nach zwanglos im Raum stehende kleine Gruppen wahr.

    „Sie kommen mir bekannt vor!, kam ein dürrer Mann um die fünfundzwanzig mit heiserer Stimme auf sie zu und streckte ihr seine rechte Hand entgegen, während er seine linke Hand auf dem unteren Rücken mit der Innenseite nach außen spreizte. „Ich heiße Albert Schmittker. Wir treffen uns hier zum Klönschnack, man kann so neue Leute kennenlernen. In der Stadt sind doch so viele neu angekommen. Dabei versuchte er, seine in die Stirn fallende dichte dunkle Haartolle zu bändigen.

    Alma nestelte an ihrer Handtasche und sagte: „Curtz ist mein Name, ich dachte eigentlich, Sie machen hier Musik und tanzen? Da habe ich mich wohl getäuscht."

    „Benny, du musst nicht mehr so geheimnisvoll tun, hörte sie eine Stimme aus der Gruppe, „der Krieg ist vorbei, die Nazis gibt’s nicht mehr, wir Swingkids dürfen ja jetzt wohl hotten, oder?

    „Klar, tanzen wir hier, Swing und Boogie-Woogie, erklärte ein halbwüchsiges Mädchen mit rothaarigem Pferdeschwanz, das auf Alma zukam. „Schauen Sie, hier die gelbe Musikbox, irgendein Ami hat sie der Milchbar gestiftet. Ich lege mal was auf. Das kennen Sie bestimmt: ‚Boogie-Woogie‘ von Count Basie. Von Benny Goodman haben wir auch was.

    Sowie die Musik erscholl, begannen die Kleingruppen, sich zu bewegen, zu wiegen, sich paarweise an den Händen zu fassen, zu drehen, die Beine zu spreizen, Männer setzten Frauen auf die Hüfte, um sie von dort herabschweben zu lassen. Auch Alma wurde von dem dürren Albert mit der dichten Haartolle mitgerissen. Welch ein Genuss, sich an einem echten Tanzpartner aus Fleisch und Blut festhalten zu können.

    „Passt mit euren Glimmstängeln auf, rief das rothaarige Mädchen in die Runde, „hier liegt eine Kippe rum, die glüht noch! Ihr wisst doch, Feuer ist gefährlich. So was wie den Brand im Februar in Berlin wollen wir hier nicht haben. Achtzig Tote im Tanzlokal Karlslust! Das ist doch gruselig!

    An den darauffolgenden Tagen schlich Alma öfter in der Nähe der Milchbar herum in der Hoffnung, Albert zufällig über den Weg zu laufen, traute sich jedoch nicht mehr, sich am Freitag zu den Swingkids zu gesellen – zu augenfällig war ihr der Altersunterschied. Obwohl die engen Straßen Lübecks in diesen Tagen mit fremden Heimatvertriebenen aus den Ostgebieten, englischen Besatzern und gebürtigen Ortsansässigen angefüllt waren, traf sie in der Altstadt, auch in der Nähe der Milchbar, auf ehemalige Kunden, die sie freundlich grüßten, sie höflich nach ihrem Befinden befragten und ihr versicherten, wie sehr sie ihren Gatten geschätzt hatten. Die bürgerlichen Kundinnen würden ihr ein ausschweifendes Lotterleben mit nicht zu ihrem Alter passenden jugendlichen Swingtänzern, die für manche Leute immer noch ‚nichtsnutzige Burschen und Mädchen‘ waren, nicht verzeihen.

    In der Brockesstraße wurde es abends schon früher dunkel, an einigen Tagen wehte am späten Nachmittag eine frische Brise von der Ostsee. Der 1. September nahte.

    Mit Unmut und Unbehagen hatte sie ihr halbes, auf den Hof gehendes Zimmer für die Einzuquartierende hergerichtet, wobei es sie viel Mühe gekostet hatte, ihre Nähutensilien im Schlafzimmerschrank und in den Schubladen des Vertikos im Salon zu verteilen. Die spärlichen übrigen Möbel in dem Raum musste sie dort belassen. Herr Fricke vom Amt hatte ihr für Frau Markuweit ein Bett mit Matratze bewilligt, das ihr ein paar Tage später von zwei stämmigen Hilfskräften in die Wohnung geliefert wurde.

    Frieda befühlte den Einweisungsschein

    für ihre neue Heimat

    Frieda befühlte den Einweisungsschein für ihre neue Heimstatt, drehte und wendete ihn.

    Der Flüchtling Frieda Markuweit wird ab dem 1. September 1947 eingewiesen bei Frau Alma Curtz in die beschlagnahmten Räume/den beschlagnahmten Raum in der Brockesstraße 86 A, 1. Etage in Lübeck St. Lorenz Nord. Dieser Einweisungsschein gilt als Ausweis für:

    1. die Polizeiliche Anmeldung

    2. das Wirtschaftsamt.

    Es traf sie ins Mark, auf vergilbtem Papier mit blauer Tinte geschrieben ihre Identität besiegelt zu sehen, die sie, Frieda, auf ihre Eigenschaft als Flüchtling reduzierte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, ihr Masuren verlassen zu müssen und sich, um ihr Leben fürchtend, in sibirischer Kälte auf die Flucht über die Ostsee zu begeben. War die Flucht nicht eine einmalige Handlung, unfreiwillig in der Not? Hätte sie nicht als Beamtenwitwe, Hausfrau oder Mutter bezeichnet werden müssen? Die Wohnungsinhaberin des beschlagnahmten Raumes war schlicht als ‚Frau‘ eingetragen, ohne nähere Kennzeichnung.

    Am Vorabend ihres Einzugs in die Brockesstraße beschlich sie ein beklemmendes Gefühl, in die Wohnung zu einer fremden Frau zu ziehen, mit der sie die Küche und die Toilette teilen sollte. Für die Lübeckerin musste es unzumutbar erscheinen, gezwungenermaßen jemand Fremdes in den eigenen vier Wänden dulden zu müssen. Jeder Mensch baut und pflegt sein eigenes Nest, richtet sich in diesem ein. Ein Fremder kann nur als Eindringling empfunden werden. Sie fragte sich, wie die Frau sein mochte, mit der sie in Zukunft Tür an Tür in einer Wohnung leben würde. Dem Klischee des norddeutschen Charakters entsprechend: höflich, freundlich reserviert, vornehm, erdverbunden mit Herz und Verstand? Oder eher stur, aufdringlich, unberechenbar, ohne Empathie für die Vertriebenen?

    Dabei hatte sie den Umzug in die Nähe der Innenstadt und des Hauptbahnhofs herbeigesehnt. Quälender als die Hölle, der sie entkommen war, konnte ihre Zukunft nicht werden, sagte sie sich. Wie lange sie in Mondtken gezögert hatte, ihr Zuhause zu verlassen! Ihr Mann und ihr Sohn waren an der Front. Wie naiv von ihr, dass sie damals fest mit ihrer Rückkehr aus den Kriegswirren gerechnet hatte! Es hatte kein Entrinnen geben können. Die Rote Armee rückte näher an Ostpreußen heran. Sie hatte die Flüchtlingstrecks an ihrem Haus vorbeiziehen sehen: Menschen auf Fuhrwerken zusammengepfercht, die Planwagen mit überbordendem Gepäck beladen, dazwischen einzelne Autos, die Koffer notdürftig auf dem Dach festgezurrt, junge Frauen mit Babys zu Fuß, Kleinkinder, die ausscheren wollten, Greise in gebeugter Haltung, sich mühselig dahinschleppend mit einem Bündel auf dem Rücken.

    Die Kaltmamsell hatte ihr dringend geraten, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Schweren Herzens hatte sie sich dazu durchgerungen, ein Paket mit Meißner Porzellan an ihre Schwägerin in Dahlewitz bei Berlin zu schicken. Unter Tränen hatte das Mamsellchen sich von ihr verabschiedet, sie wolle sich zu ihren Eltern in ihr verstecktes Dorf zurückziehen. Dann war es still in ihrem Haus geworden. Jeder Gegenstand im Wohnzimmer steckte voller Erinnerungen, konnte Geschichten erzählen. Jede Vase nahm sie einzeln in die Hand, nahm innerlich Abschied, indem sie zärtlich über die glatte Oberfläche strich. Bei dem Tongefäß, das ihr Sohn als Zehnjähriger ungelenk für sie getöpfert hatte, verweilten ihre Hände und mochten sich nicht trennen. Das Gemälde neben dem großen Fenster, eine Landschaft in Masuren mit Schilf, Stockenten, Blässhühnern, einem versunkenen Kahn am Ufer, nahm sie von der Wand und stellte es auf dem Holzfußboden ab. Ausgeschlossen, das sperrige Bild im Gepäck mitzuführen! Sie musste sich auf einige wenige Fotos der Familie vom Fotografen in Allenstein beschränken: das Hochzeitsfoto ihrer Eltern, das ihrer eigenen Trauung, der ersehnte Ernst als Kleinkind auf einem Bärenfell. In einem Briefumschlag würde sie die Bilder schützen und in einer Seitentasche des Koffers verstauen. Sie hatte die Anordnung erhalten, sich am folgenden Tag am Kirchplatz einzufinden. Mehr als zwei kleine Koffer dürfe sie nicht bei sich tragen. Eine Liste mit den Gegenständen, die sie mitnehmen solle, war dem Schreiben beigefügt. Das Nötigste: ihre Papiere, Toilettenartikel, Medikamente, warme Kleidung, nur das, was sie tragen konnte. Panik erfasste sie, das Notdürftigste zusammenraffen zu müssen. Ihr Blick fiel auf die Bücher hinter Glas auf der rechten Wand. Bücher waren zu gewichtig! Ein einziges Buch würde sie sich gönnen: das deutschfranzösische Wörterbuch zur kleinen französischen Sprachlehre von Dr. Emil Otto (von 1913), in dem sie täglich las. Dazu ihr sorgfältig geführtes Vokabelheft, aus dem sich einzelne Seiten lösten. Wie einen Schatz würde sie es zusammen mit dem Hausschlüssel stets in ihrer Manteltasche bei sich tragen. Ihre Liebe zur französischen Sprache würde sie nicht in diesem Haus begraben. Die ‚Französischliebenden’, wie sie ihren Kreis getauft hatten, waren längst in alle Winde verstreut. Von einem Paravent abgeschirmt, hatte sich der Kreis alle zwei Wochen im Café an einem ovalen Tisch neben der Theke mit ostpreußischen Nuss- und Käsekuchen getroffen.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1