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Seelenwurms Tod: Heimatkrimi
Seelenwurms Tod: Heimatkrimi
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eBook345 Seiten4 Stunden

Seelenwurms Tod: Heimatkrimi

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Über dieses E-Book

Seelenwurms Tod - Ein Oberbayernkrimi -

Clara Behrendt weiß genau, was man unter einem Seelenwurm versteht. Ihr Mann ist nämlich einer. Als sie in seiner Jackentasche einen Drohbrief findet, zweifelt sie nicht eine Sekunde daran, dass es um ihr Leben geht. Kann es sein, dass jemand hinter ihr Geheimnis gekommen ist?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Juli 2016
ISBN9783738078442
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    Buchvorschau

    Seelenwurms Tod - Emma Steinhauser

    Donnerstag

    21:07 Uhr – In Claras Haus

    Also doch!, dachte Clara Behrendt und las den Zettel, den sie gerade aus der Jackentasche ihres Mannes gefischt hatte, zur Sicherheit noch einmal:

    Es WiRD

    wIE eIn

    UnFaLL

    AuSSEHeN

    Dann gab es diesen Jemand, der sie seit ein paar Wochen beobachtete und hinter ihr herschlich, offenbar doch und er schrieb sogar Briefe an Peter. Ganz besondere, mit ausgeschnittenen, einzeln aufgeklebten Buchstaben.

    Clara wunderte sich fast ein wenig, dass es sie eher beruhigte. Ihr vermeintlicher Verfolgungswahn war damit vom Tisch, das Bauchgefühl endlich bestätigt.

    Die Erkenntnis war gerade eher: Nun ist es also soweit, dass dein Mann, der Herr Professor mit der sauberen Weste, dir nicht nur die Pest an den Hals wünscht, sondern sogar bereit ist nachzuhelfen, weil ihm das mit der Pest zu lang dauert.

    Endlich machte auch die Post von der Bayerischen Versicherungskammer Sinn, die Clara kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres zufällig beim Staubwischen auf seinem Schreibtisch gefunden hatte. Das war ein großer, dicker Umschlag gewesen und sie hatte sich gewundert, was ihr Mann noch alles versichern wollte. Aber das war ja jetzt auch geklärt: Ihr Leben.

    Er wollte noch ein bisschen Geld mit ihr verdienen. Also waren ihm die Wettschulden, über die er nie ein Wort verloren hatte, endgültig über den Kopf gewachsen.

    Was tut man am besten, wenn man in absehbarer Zeit wie ein armes Unfallopfer aussieht, obwohl man in Wirklichkeit heimtückisch ermordet wurde?

    Clara überlegte, dass Peter vermutlich ungeschoren davonkommen würde, wenn es kein Mensch merkte. Sie sah sich den Brief noch einmal genauer an. Die Buchstaben waren aus den Anzeigenblättern ausgeschnitten, die ihnen hier jedes Wochenende in die Briefkästen geworfen wurden. Das blaue H zum Beispiel war das vom HALLO-Anzeiger. Das dunkelgelb unterlegte U, das E und das L sahen aus wie vom Titelblatt der Einkauf Aktuell-Fernsehzeitung. Und ein paar Lettern vor dem Windpark als Hintergrund kamen ihr vor, als hätte sie die erst kürzlich gesehen.

    Clara lief zur Besenkammer und sah in der Altpapiersammelkiste nach. Das Titelblatt des Stadtwerke-München-Magazins war noch unversehrt. Da fehlte kein einziger Buchstabe, aber sie war jetzt auch sicher, dass derjenige, der den Brief gebastelt hatte, genau dieses Magazin zerschnitten haben musste. Sehr lange konnte das also noch nicht her sein.

    Sollte sie mit diesen Schlussfolgerungen zur Polizei gehen? Was hatte sie denn schon in der Hand außer einem bunten Zettel, auf dem mit Sicherheit nur ihre eigenen Fingerabdrücke und vermutlich die von Peter waren?

    Kein schlauer Täter arbeitet heutzutage ohne Handschuhe und er leckt auch keine Briefmarken mehr ab, weil er genau weiß, dass man ihn noch hundert Jahre danach anhand von Spuckeresten identifizieren kann.

    Clara faltete den Brief wieder fein säuberlich, steckte ihn in den Umschlag zurück und den wieder in Peters Jackentasche, als wäre nichts gewesen.

    Von jetzt an würde sie wachsamer sein, noch ein bisschen mehr darauf achten, was sie aß und trank und wohin sie mit wem ging. Auf offener Straße würde sie schon keiner erschießen und dann fielen eben in nächster Zeit die Spaziergänge auf Dornachs einsameren Wegen hinter dem Kieswerk aus und Leonhard, ihr Geliebter, durfte auch nicht mehr mit ihr zusammen auf der Bildfläche erscheinen. Das würde zwar eine harte Zeit werden, aber das war nichts Neues unter der Sonne. Sie würde jedenfalls alles daran setzen, am Leben zu bleiben.

    Wichtig waren jetzt zwei Dinge: dass sie sich nichts anmerken ließ und dass sie nicht aus Versehen mit Leonhard darüber redete. Er hatte schon von ganz alleine genug Angst vor allem und jedem.

    So wie sie sich generell fühlte, würden sie ohnehin bald ganz andere Sorgen haben. Clara spürte die körperlichen Veränderungen, allen voran das Spannungsgefühl in den Brüsten, und außerdem kam ihr die Art von Übelkeit, die sie quälte, vertraut vor. Sie brauchte eigentlich keinen Schwangerschaftstest mehr.

    Vermutlich würde man ihr bei der Gelegenheit ein weiteres Mal beweisen, wie klein doch die Welt ist. Wie vor Jahren, als sie in ihrer ehelichen Verzweiflung einmal ein libidosteigerndes Mittelchen kaufen wollte. Nicht in der Saniplus-Filiale in den Riem-Arkaden, auch nicht in der Sonnen-Apotheke in Aschheim, wo sie sich in der langen Schlange nur bekannte Gesichter hatte vorstellen können, die danach aus dem Grinsen nicht mehr herausgekommen wären.

    Nein, sie war extra vierzehn Kilometer nach Poing in die Bienen-Apotheke gefahren.

    „Dieses Mittel wird selten gewünscht, aber ich kann es Ihnen selbstverständlich gerne bestellen", hatte die nette Frau im weißen Kittel angeboten.

    „An sich ja, aber ich wohne etwas weiter weg ...", hatte Clara gesagt.

    „Wo denn?"

    „In Dornach."

    „So ein Zufall! Ich auch ..."

    Clara wäre am liebsten im Boden versunken. Sie hatte diese Frau bis dahin noch nie im Ort gesehen.

    „In dem Neubau in der Burkartstraße!, hatte die Frau im weißen Kittel damals erfreut ausgerufen. „Dann bis heute Abend gegen halb sechs.

    In welchem Neubau?, dachte Clara zwar noch, aber damit waren die Zeiten, in denen sie überzeugt war, dass jeder jeden im Dorf kannte, ein für allemal vorbei gewesen.

    Auf ein weiteres Erlebnis dieser Art konnte sie gut verzichten. Wer hätte ihr versprechen können, dass nicht noch ein weiterer Neuzugang der Gemeinde ausgerechnet in dem Drogeriemarkt arbeitete, in dem sie sich den Schwangerschaftstest kaufte und ihren Bauch von da an beobachtete, ob er auch brav wuchs? Und wenn er es denn nicht täte, würde man sie vermutlich trösten, dass es beim nächsten Mal bestimmt klappte!

    Clara wusste auch so, wie sich so etwas anfühlte und es war inzwischen unmöglich, die Zeichen zu ignorieren. Und dafür, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte, war es zu spät. Es war in ihr, das Kind der Liebe.

    22:48 Uhr

    Das Surren der elektrischen Zahnbürste holte Clara aus ihrem Zustand zwischen Wachen und Träumen. Sie hörte, wie jemand die Treppen hinunterging. Peter war also wieder im Haus und putzte sich nicht nur die Zähne, sondern erledigte - wie so oft - gleichzeitig noch etwas Sinnvolleres, wie er sich immer ausdrückte. Was er erst an der Garderobe und danach in seinem Büro wollte, war nicht schwer zu erraten. Clara hörte den Aktenvernichter aufjaulen und hätte im selben Moment Haus und Hof darauf verwettet, welches Schriftstück sich gerade in feine Papierstreifen verwandelt hatte.

    Morgen würde sie Peters Jacke also in die Reinigung bringen können, ohne noch einmal in die Taschen zu sehen, denn den Brief hatte ein anderes Schicksal ereilt als das, aus Versehen chemisch gereinigt zu werden.

    Peter kam ins Schlafzimmer, legte sich wortlos neben Clara und drehte ihr den Rücken zu.

    Kurz danach hörte sie ihn schon schnarchen.

    Muss ja ein harter Tag an der Uni gewesen sein, mitten in den Semesterferien, dachte sie bitter und ließ dabei nicht gelten, dass die Nacht heute schon um halb sechs zu Ende gewesen war. Aber sie hatten so gesehen Glück gehabt, denn Helmut von Nebenan war anlässlich seines Fünfzigsten nur von ,seinerʹ Blasmusik mit Tuba, Trompeten, Klarinetten und der Pauke überrascht worden und nicht mit Böllern wie der Alois von der Freiwilligen Feuerwehr, der im vergangenen Mai geheiratet hatte.

    „Ich glaub, es pressiert a bissl mit der Hochzeit vom Loisl, aber ich denk, die Mama von der Franzi is ganz glücklich drüber", hatte die Gruberin gemutmaßt und Clara hatte nur gedacht: Das ist ja die Hauptsache, dass die Mama von der Franzi glücklich ist ...

    Clara hatte sofort wieder den mit Babykleidung behängten Baumstamm vor Augen, der seit Mitte November im Johann-Wieser-Ring vor dem Haus der Jungvermählten stand.

    „Für ein Siebenmonatskind ganz gut bei'nander, das Mäderl. Vier Kilo soll's g'habt ham bei der Geburt und 54 Zentimeter! Das war die Information aus der Bäckerei gewesen und die Gruberin hatte bei jeder Gelegenheit angemerkt: „Und wenn man in den Kinderwagen schaut. Ja, mei, die is' ja ganz der Papa!

    Lange Zeit danach hatte auch noch das mit leeren Blechdosen geschmückte Schild Zur Bixnmacherei an der Straßenecke über dem Zaun gehangen, aber das hatten sie inzwischen wieder abgenommen.

    Solche Gebräuche sind uns hier bisher erspart geblieben und so sollte es auch bleiben!, dachte Clara.

    Aber diese Gefahr drohte ihnen nicht, weil Peter kein Vereinsmeier war. Weder in der Blasmusik noch im Männergesangsverein oder bei den Schützen. Er war auch kein Aktiver beim SV Dornach und kein Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Er war gar nichts, nirgends im Dorf. Und damit war er sozusagen unsichtbar. Ein Niemand.

    Clara versuchte wieder, auf das eigentliche Problem zurückzukommen und über weitere Unfallgefahren nachzudenken, die ihr in der nächsten Zeit drohen könnten. Ihr fiel aber nichts ein.

    Sonntag

    11:38 Uhr – Im Pfarramtsbüro St. Peter und Paul, Aschheim

    Die Leute liefen hier schon während des Orgelnachspiels aus der Kirche, als hätten sie noch einen wichtigen Termin, und die wenigen, die an den Gräbern ihrer Lieben noch eine Kerze anzündeten und mit den Nachbarn ein paar Worte wechselten, zerstreuten sich wie immer schnell. Der Pfarrer zog sich in der Sakristei um und ging zum Mittagessen und der Mesner brachte die Kollekte in den Tresor im Pfarrbüro und verschwand danach ebenfalls.

    Nachdem sie das alles abgewartet hatten, konnten Clara und ihr heimlicher Geliebter Leonhard Rosenberg von der Empore aus unbemerkt ins Büro gelangen und sich dort wenigstens kurz sehen.

    Sie saßen also auch heute nach dem Gottesdienst wieder auf eine Tasse Kaffee im Pfarrbüro zusammen wie zwei gute alte Bekannte, die sich gerade zufällig getroffen hatten.

    Immerhin, besser als gar nichts!, hatte sich Clara bis jetzt immer eingeredet und war für die gestohlene Zeit fast dankbar gewesen.

    Es waren wichtige Minuten in ihrem Leben und normalerweise starrte sie in dieser Zeit weder in den Pfarrgarten noch auf den weißen Kirchturm gegenüber. Aber heute war nichts normal, das spürte sie genau.

    Sie sah Leonhard in die Augen, die sie plötzlich überhaupt nicht mehr an die von George Clooney erinnerten, und im selben Moment dachte sie: Seelenwurm, elender!

    Clara erschrak über sich selbst, denn so etwas hatte sie bisher nur über ihren Mann gedacht.

    Sie konnte sich ihre plötzliche Wut auf Leonhard nicht erklären und wusste doch, dass genau das gelogen war. Natürlich war sie stinksauer auf ihn, er hatte ihr den ganzen Schlamassel schließlich eingebrockt.

    „Ich liebe dich! Mehr als alles auf der Welt", sagte er leise.

    Da platzte ihr innerlich der Kragen.

    Wenn man einander mehr als alles auf der Welt liebt, führt man ein gemeinsames Leben, von dem alle wissen dürfen, verdammt nochmal!

    Davon waren sie aber weit entfernt. Zu weit nach Claras Meinung und deshalb fasste sie sich jetzt ein Herz und sprach endlich das an, was ihr schon so lange auf der Seele brannte: „Wie soll das mit uns eigentlich weitergehen? Wann wird das mit uns anders?"

    „Was soll denn anders werden? Wir lieben uns doch! Oder willst du jetzt ein Datum hören?", fragte er leicht verärgert zurück.

    Ja, dachte sie und heute sagte sie es auch: „Das wäre mir am liebsten."

    „Ich kann dir nicht sagen, wann wir endlich zusammen sein dürfen. Aber wahrscheinlich nicht, solange sie lebt."

    Seelenwurm, dachte sie schon wieder und schämte sich nicht einmal dafür. Er war einer.

    „Weißt du, was ich langsam glaube?, fragte sie. „Du liebst nicht mich, sondern die Sehnsucht nach mir. Deswegen liegst du immer noch bei ihr im Bett statt bei mir. Und damit du nichts verändern musst, sagst du zu mir, ich soll nur brav durchhalten.

    Ja, das predigte er immer. Er, der ihr oft genug von seinem unerträglichen Eheleben und von seinen Wünschen erzählt hatte, wollte, dass sie immer weitermachte. Jahr um Jahr.

    Clara hatte gerade sarkastisch klingen wollen und so wie er jetzt aussah, war ihr das gelungen. Da musste er durch, sie war noch nicht fertig. Viel zu oft hatte sie sich schon auf die Zunge gebissen, statt es zu sagen, und nun war eben alles anders: Clara war schwanger und er war nun einmal der Vater, auch wenn es eigentlich nicht sein konnte und er deswegen nicht das Geringste davon ahnte.

    „Das geht alles nicht mehr so weiter, sagte sie. „Ich bin keine Frau, die man sich für später reservieren kann. Das mit uns ist weder Fisch noch Fleisch.

    „Was hast du denn auf einmal? Was ist in dich gefahren?, fragte er und sie sah seine zunehmende Verunsicherung. „Versteh das doch, ich kann nicht gehen! Ich habe es ihr versprochen, damals …

    „Und ihr habt euch ein Zeichen der Treue an den Finger gesteckt, ja genau! Zählt das etwa doch noch?"

    Er sah auf seinen Ring. „Nein, natürlich zählt das nicht mehr. Aber ich muss diesen Ring tragen, auch wenn sie mich nicht mehr liebt. Und ich sie auch nicht."

    Sie hielt ihm beide Hände hin. „Peter und ich lieben uns auch nicht mehr. Und? Siehst du bei mir an irgendeinem meiner Finger einen Ring? Nein? Ich auch nicht. DAS ist wenigstens ehrlich."

    „Aber dass sie mich nicht mehr liebt, ist doch kein Grund, dass ich sie im Stich lasse. Schon gar nicht in ihrer Situation …"

    „Das Leben ist jetzt! Hier! Heute! Nicht erst in hundert Jahren, wenn uns die Würmer in der tiefen, dunklen Erde aufgefressen haben! Sie musste sich sehr zusammennehmen und senkte ihre Stimme wieder etwas. „Du darfst dich gerne mal umhören, wer hier in der Gemeinde noch die tollsten Pläne für die Rente hatte und plötzlich war er dann zu krank dafür oder sogar tot! Du sagst, du wartest. Aber du führst nicht nur dein Leben in dieser … dieser ewigen Warteschleife, sondern auch meins! Ich schaffe das nicht mehr. Ich bin nicht zum Warten auf dieser Welt! Ich will LE - BEN!

    Betroffenes Schweigen seinerseits war alles, was kam.

    „Herrgott nochmal, ich bin doch keine Schattenfrau, die man nicht herzeigen darf!" Ich bekomme nur ein Schattenkind, dachte sie und merkte, wie ihr bei dem Gedanken die Tränen in die Augen schossen. Ärgerlich blinzelte sie sie weg. „Weißt du eigentlich noch, wie du im Auto: Duck dich, da vorne ist die Weinberger! zu mir gesagt hast? Kannst du dir vorstellen, wie erniedrigend das war? Sie schaute ihn herausfordernd an. „So, dass ich mich danach gefragt habe, wer ich eigentlich bin, dass man mich so behandeln darf. Aber dann ist es mir wieder eingefallen. So etwas passiert einem eben, wenn man nur eine heimliche Geliebte ist. Eine Affäre. Die Nebenbuhlerin. Nicht mehr als die zweite Geige … Sie erschrak, mit wie viel Bitterkeit sie diese Worte gerade ausgesprochen hatte und sie sah auch, dass seine Kiefermuskeln spielten, was ein Zeichen dafür war, dass er langsam wütend wurde.

    Aber sie konnte jetzt nicht aufhören, das musste einfach alles einmal raus. „Weißt du, wie dein Fühl dich geküsst, mein Schatz! bei mir ankommt, wenn du auf dem Weg nach Hause noch schnell bei mir anrufst? Ich fühle mich nicht geküsst, sondern verarscht!" Das ließ sie so stehen, auch wenn sie wusste, dass ihn das jetzt sehr verletzt haben musste. Natürlich war das von ihm nur lieb gemeint, aber was hatte sie von einem eingebildeten Kuss?

    Er sagte kein Wort.

    Sie redete weiter. „Genießt du da eigentlich noch irgendwas zwischen uns? Oder geht es mittlerweile nur noch darum, dass wir nicht auffliegen dürfen? Und wenn schon! Dann ist es eben so! Meinetwegen braucht sich keiner zu schämen. Zu mir kann ein Mann stehen, wenn er es will. Sie machte eine Pause. „Aber ganz offensichtlich willst du es nicht.

    Er war mittlerweile bleich geworden. „Du weißt, dass es nicht so ist und dass ich das alles genauso satt habe wie du. Du bist keine Schattenfrau und nichts von den anderen blöden Sachen. Du bist so viel mehr als eine Geliebte für mich, ich stehe zu dir!"

    Wie bald du schon Gelegenheit dazu haben wirst, wenn es dumm läuft!, dachte sie und ließ ihn weiter reden.

    „Immer, und das weißt du auch", sagte er und küsste sie so flüchtig, dass sie am liebsten darauf verzichtet hätte, weil ihr das noch viel mehr weh tat als gar kein Kuss.

    Er hatte Angst, das spürte sie und sie hörte es in seiner Stimme. „Das Einzige, was ich in meinem Leben will, bist du, glaub mir, und irgendwann ist es soweit. Und weißt du, wovor ich am meisten Angst habe? Dass du mich nicht mehr haben willst, wenn irgendwann ist."

    „Irgendwann! Ja, sicher!, sagte sie wütend. „Wer’s glaubt, wird selig. Bis zu diesem Irgendwann überlebt unsere Liebe von den paar Minuten, in denen wir uns sehen und den Rest der Zeit füllen wir am besten mit Träumen auf oder was? Ich warte und warte. Auf einen kurzen Anruf von dir, ganz leise, nur geflüstert, sie könnte es ja hören. Ich warte auf eine Umarmung, auf einen Kuss! Auf alles! Und irgendwann, eines Tages, habe ich dann mein Leben lang auf ein Leben mit dir gewartet.

    „Du wusstest, dass es keine einfache Zeit wird, bis wir …"

    „Bis wir? Bis DU beschließt, dass wir beide zusammen leben dürfen!, unterbrach sie ihn. „Weißt du, was ich glaube? Wenn du dieses Datum immer noch weiter schiebst, werde ich eine Belastung für dich. Weil sie nämlich bis dahin immer noch nicht tot sein wird! Deine Frau wird hundertelf! Absichtlich, um uns zu ärgern, wetten?! Und sie ist dir wichtiger als ich! Ich habe mich schon eine ganze Weile gefragt, woran es liegt, dass du keinen Schlussstrich ziehst, aber jetzt bin ich endlich auf den Grund gekommen: Du bleibst bei ihr, weil sie eine von den Frauen ist, die ihren Männern damit drohen sich umzubringen, wenn er sie verlässt, stimmt‘s?

    Er nickte fast unmerklich, wusste offenbar immer noch nicht, was er zu dem Ganzen sagen sollte.

    „Sie droht damit, dass sie sich umbringt? Ja, dann lass sie doch machen …", sagte Clara leise, mehr zu sich selbst.

    „Sag so was nicht, ich bitte dich."

    „Doch, spielen wir das durch! Nur mal angenommen, sie täte sich etwas an. Was käme dann? Wir beide wären geächtet, könnten hier einpacken und wären endlich zusammen. Aber du hättest so ein schlechtes Gewissen, dass du für den Rest deines Lebens unglücklich wärst, und zwar weil du mit mir lebst! Und ich? Würde mir deswegen ewig Vorwürfe machen und denken, dass ich an allem schuld bin. Dabei wollten wir doch eigentlich nur zusammen glücklich sein."

    Er fiel in sich zusammen, sagte aber nichts. Das genügte ihr als Antwort und jetzt wollte sie ihn provozieren.

    „Und jetzt die andere Möglichkeit. Was wäre denn, wenn ich es täte?"

    „Wenn du was tätest?", fragte er.

    „Schluss machen. Mit allem. Schluss, aus, vorbei. Nicht nur mit uns. Sie schwieg eine Weile, sah in sein ängstliches Gesicht und wunderte sich, dass sich in ihren Augen keine einzige Träne bildete. „Dann wäre alles wieder wie früher und euer Leben ginge einfach ohne mich weiter.

    Er schluckte. „Dann ginge gar nichts mehr weiter."

    „Doch, das würde es ganz sicher. Sie sah kurz aus dem Fenster, dann wieder zu ihm. „Aber ich mache nicht Schluss. Ich habe Kinder und ich kenne meine Verantwortung und vor der werde ich nicht davonlaufen. Und deswegen wird das mit uns nicht so weitergehen. Das macht mich nämlich krank und krank helfe ich Lea und Marie nichts mehr.

    Er schaute sie fragend, fast flehend an und sie erkannte, dass sie ihm heute doch noch nicht alles erzählen konnte. Erst wenn sich das morgen beim Arzt bestätigte, ging es um ihr gemeinsames Kind und nicht mehr nur ums Durchhalten in einer Affäre bis zum Tag X.

    „Wir hätten das alles niemals zulassen dürfen, sagte sie leise, weil er immer noch schwieg. „Dann säßen wir jetzt nicht da und müssten überlegen, wie es weitergeht … Das war alles, was sie noch herausbekam.

    „Du zweifelst an unserer Liebe?", fragte er.

    „Nein, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. „Unsere Liebe würde für die nächsten tausend Jahre reichen, aber nicht unter diesen Umständen. Das, was wir beide unter Liebe verstehen, lebt vom realen Zusammensein, vom Fühlen. Haut. Wärme. Nicht nur von den brennenden Gedanken daran …

    Clara stand auf und ging hinaus. Zu ihrem Fahrrad, das wieder einmal unversperrt an der Friedhofsmauer stand. Und wenn es weg gewesen wäre? Auch egal. Die Bremse funktionierte sowieso nicht immer. Da klemmte manchmal irgendwas. Wie Ladehemmung, dann musste man den Griff kurz loslassen und danach ging es wieder.

    Es wird wie ein Unfall aussehen …, überlegte sie kurz und setzte sich aufs Rad.

    Clara wartete noch eine Weile an der Mauer, ob Leonhard ihr folgen würde. Er tat es nicht.

    Auch in Ordnung!, dachte sie wütend und traurig zugleich. Dann geht eben jetzt jeder von uns heim zu seinem ganz persönlichen Seelenwurm.

    Clara nahm sich vor, wenigstens zuhause ihre Gefühle zu beherrschen und das alles zu überspielen. Wie immer, wenn sie etwas innerlich aufwühlte.

    12:23 Uhr

    Rosenberg saß immer noch wie gelähmt auf seinem Bürostuhl. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand darauf festgeklebt und er würde nie mehr aufstehen können.

    Das war die mit Abstand schlimmste Krise mit Clara und es hatte sich angehört, als wäre es die letzte gewesen. Sie hatten im Laufe der Zeit schon mehrere durchgemacht, allerdings keine, die mit dem fast vollständig ausgesprochenen Gedanken geendet hatte, Schluss zu machen.

    In einer liebevollen Ehe treu zu bleiben, wäre eine Selbstverständlichkeit gewesen, überlegte er, aber er musste mittlerweile schon seit vielen Jahren mit einer Frau zusammenleben, die sich einen Spaß daraus machte, ihn zu schikanieren und mit einer Respektlosigkeit zu behandeln, die er sich selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können. Sie redete alles schlecht und torpedierte seine Pläne, wo es nur ging und dank ihrer Überzeugungskraft hatte er zuletzt nicht einmal mehr an seine eigenen Fähigkeiten geglaubt und sein Selbstvertrauen war auf ein Minimum zusammengeschrumpft.

    Doch dann war Clara als Orgelschülerin in sein Leben gekommen, die ihren Mann mit einem Musikstück zum Geburtstag hatte überraschen wollen, und die sich im Laufe der Zeit als diejenige entpuppte, die an ihn glaubte. Ihn zunächst nur mochte und schließlich liebte, wie er war.

    Und was war dann heute passiert? Claras Sarkasmus mochte Leonhard zwar nicht, aber er war ihm schon lange vertraut. Heute war da allerdings etwas Neues gewesen. Er erinnerte sich sehr genau an Claras Blick von vorhin. Es war der, mit dem sie sonst immer über ihren Mann redete, seitdem sie ihn als ihren Seelenwurm identifiziert hatte.

    Dieses Tier hatte Leonhard zwar noch nie gefallen, im Gegenteil, am Anfang hatte er es sogar abscheulich gefunden, aber im Laufe der Zeit hatte auch er in seiner Frau immer mehr den unsäglichen Wurm erkannt, der sich in seine Seele eingenistet und ihn nicht mehr losgelassen hatte, bis er nur noch im Kreis denken konnte und schließlich nichts als seine äußere Hülle übrig gewesen war, die funktionierte. Unglücklich, ausgebrannt und leer, aufgefressen vom Seelenwurm, der sein Werk vollbracht hatte.

    Clara hatte ihn tatsächlich vor seiner Frau gerettet, aber war sie jetzt wirklich so weit, das über ihn zu denken? War er zu ihrem Seelenwurm geworden, der sie mittlerweile mehr Kraft kostete, als er ihr in der wenigen gemeinsamen Zeit geben konnte? Würde sie es sich noch einmal anders überlegen?

    Ein Leben ohne sie konnte er sich doch überhaupt nicht mehr vorstellen, er brauchte sie! Sie war für ihn der Fels in der Brandung, der wichtigste Mensch in seinem Leben.

    Wie er das Spiel hasste, in dem er gefangen war! Trotzdem musste er weitermachen, weil es nicht anders ging.

    Aber jetzt war es wirklich Zeit aufstehen, sonst würde seine Frau wieder irgendjemanden aufscheuchen, der dann nach ihm suchen musste. Das machte sie immer, wenn er sich verspätete und sie kannte genügend Leute, die ihr zu Diensten waren.

    Rosenberg stieg ins Auto und als er das Tor öffnete und von der Auffahrt auf das Haus schaute, hatte er das Gefühl, sein Auto hätte den Weg alleine gefunden, denn er war dafür eigentlich viel zu sehr in Gedanken gewesen.

    Wenn ihn seine Frau gleich danach fragen würde, wo er so lange gewesen war, wollte er ihr erzählen, dass er nach dem Gottesdienst noch für die nächste Orgelmatinee geübt und Verwaltungskram im Pfarrbüro erledigt hätte.

    Er sperrte die Wohnungstür leise auf. Dann sah er, dass es nicht nötig gewesen wäre, weil seine Frau nicht im Bett lag, sondern am Wohnzimmerfenster saß. Sie hielt zwar den Kopf gesenkt, als würde sie schlafen, aber sie schlief nicht. Seine Frau litt immer still vor sich hin, und wenn er es genau nahm, hatte sie das schon vor ihrer Krankheit getan, als es objektiv noch gar nichts zu leiden gegeben hätte. Sie war ihr eigener Seelenwurm.

    Er schaute sie an. Ihre Hände lagen in dem dicken Muff, den sie zusätzlich zu ihrer warmen Decke brauchte, damit sie nicht fror. Hatte sie sich seit dem Frühstück nicht mehr bewegt? Ihr Teller und die Kaffeetasse standen noch wie vorhin auf dem Tisch.

    „Na, endlich", sagte sie tonlos.

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