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Der falsche Tote
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eBook786 Seiten9 Stunden

Der falsche Tote

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Über dieses E-Book

Nach einem vergnüglichen Mittagsessen im Main-Taunus-Einkaufszentrum wird Berkamps Familie im Parkhaus von vier Rockern erwartet. Am Ende einer wüsten Schlägerei behauptet einer der Rocker, Mona Sandner sei die "Ursache". Die Berkamps haben keine Erklärung da-für. Bis Mona zufällig den Mitstudenten Heiko Gigolf erwähnt.
Wenige Wochen vorher hat Mahina Ling in Steinbach ihr "Moon Wave Resort", Studio für Kampfkunst und Meditation, eröffnet. Da erhält sie eine eindeutige Drohung und wenig später Besuch von Mlatko Radovar, der im Auftrag "finanzstarker Investoren" eine Teilhabe an dem Studio fordert. Worauf Mahina ihr digitales Können und Handwerkszeug auf den unwillkom-menen Besucher ansetzt. Von Radovar führt eine Spur zu dem brutalen Oskar Knifka, der im Dienst einer Investment-Firma steht und einen Teil ihrer Kunden betreut. Seine Art, das Fern-seh-Sternchen "Trixi Kim" zu "betreuen", wird ihm allerdings zum Verhängnis. Nach und nach werden unerwartete Zusammenhänge, brutales Gebaren und einschlägige Geschäfte einer kriminellen Rocker-Bande mit Wurzeln in Berlin erkennbar.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Sept. 2018
ISBN9783742722287
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    Buchvorschau

    Der falsche Tote - Günter Billy Hollenbach

    Der falsche Tote

    Der falsche Tote

    1

    Donnerstag, 9. Oktober

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    Freitag, 10. Oktober

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    Samstag, 11. Oktober

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    Sonntag, 12. Oktober

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    Montag, 13.Oktober

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    Dienstag, 14.Oktober

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    Donnerstag, 16. Oktober

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    Donnerstag, 16. Oktober

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    Freitag, 17. Oktober

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    Freitag, 17. Oktober

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    Samstag, 18. Oktober

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    Sonntag, 19. Oktober

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    Montag, 20. Oktober

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    Dienstag, 21. Oktober

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    Mittwoch, 22. Oktober

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    Donnerstag, 23. Oktober

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    Freitag, 24. Oktober

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    Freitag, 24. Oktober

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    Samstag, 25. Oktober

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    Dienstag, 28. Oktober

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    Donnerstag, 30. Oktober

    1

    Donnerstag, 9. Oktober

    Un-Glück? Wie kann es etwas geben, was un-möglich ist? Folgerichtig muss es heißen: Ein Glück kommt selten allein. Das wenig Hilfreiche an der – zurechtgerückten – alten Bauernweisheit: Sie verschweigt, was mit Glück gemeint ist. Dabei wissen wir längst, es handelt sich um eine trickreiche Angelegenheit.

    All zu oft versteckt sich das Glück. Ist manchmal gar nicht, meist eher zufällig und im Nachhinein, gelegentlich nur unter Schmerzen zu entdecken. Und wenn du es erlebst, erweist es sich als schwer zu fassen und sehr flüchtig.

    Besonders vertrackt: Unzählige Menschen fallen auf einen dummen Trugschluss rein. Sie vertrauen darauf, das Glück finden zu können. Als ob es einfach so rumliegt und auf sie wartet. An den angeblich einschlägigen Orten. Wo es sich herbeizwingen lässt. Mit dem Lotto-Zettel, beim Shopping, auf höheren Stufen der Karriereleiter, bei Reisen in fremde Städte oder ferne Länder. Dafür treiben Menschen beträchtlichen Aufwand. Und werden, wenn sie ehrlich sind, regelmäßig enttäuscht. Weil das Glück dort nicht wirklich zu finden ist.

    Außerhalb.

    Das Glück kannst du nicht sehen, hören, festhalten, gar heim tragen.

    Es ruht im deinem Inneren, schlummert vor sich hin. Äußere Anlässe sind stets nur ein Anstoß, sich des inneren Lächelns des Glücks zu vergewissern. Schön, wenn der Anstoß als zauberhafter Anblick, freudige Begegnung, hilfreicher Hinweis, günstiges Geschäft oder zärtliche Berührung geschieht. Weniger schön, wenn sich das Glück gegen unerwartet laute, gar harte Angriffe behaupten muss.

    Mein engster Verbündeter für das Wachrufen glücklicher Gefühle ist das, was Lernen genannt wird. Sich selbst glücklich machen kann gelernt werden. Durch eine heimliche Verabredung mit der Wirklichkeit. Eine kleine Mogelei. Die weckt Glücksgefühle unabhängig von Ort und Zeit. Als Schlüssel dient mir ein liebgewordener Grundsatz. Der sagt sich leicht, ist manchmal jedoch schwer zu befolgen. Wenn Lernen das Wichtigste im Leben ist, wird alles, was du tust, ein Erfolg. Zum Glück fällt mir – bei gebotenem Anlass – stets rechtzeitig seine Kurzform ein: Wieder was gelernt.

    Darüber kann ich mich freuen. Wie schön. Ein Satz, bei dem das Glück in mir immer wieder wie eine kleine Sonne strahlt. Sogar was gemeinhin als Scheitern verachtet wird, bietet mir Fünkchen von Glücksgefühlen. Weil es daraus stets etwas zu lernen gibt. Was wiederum das Scheitern zum Erfolg macht. Wenn du dich oft genug daran erinnert, fängst du an, es zu glauben. Und es wird Wirklichkeit. Zuverlässig, weil es in der Natur des Menschen liegt.

    Klingt reichlich philosophisch.

    Mir dient es als praktische Lebensregel. Für einen zufriedenen Alltag. Die meiste Zeit jedenfalls.

    Die Zauberformel für ein glückliches Leben durch Lernerfolg verdanke ich einem Trainingskurs als Verhaltens-Coach. Vor ein paar Jahren an der Universität von Santa Cruz, einem beschaulichen kalifornischen Städtchen gut hundert Kilometer südlich von San Francisco. Seitdem musste sich meine Formel für Zufriedenheit gelegentlich auch außerhalb einer Coach-Sitzung mit Kunden bewähren.

    Unter harten, sogar brutalen Bedingungen.

    Dann, wenn du am wenigsten damit rechnest.

    So spielt das Leben nun mal.

    Dummerweise mangelt es vielen Zeitgenossen an einer ähnlich offenen Einstellung zu ungewohnten Lernangeboten. Ihnen reicht, was sie wissen. Neue Einsichten können dabei nur stören. All zu oft fühlen sich solche Mitmenschen beleidigt, antworten mit Nichtbeachtung, gar mit Anflügen von Verärgerung oder echten Wutausbrüchen. Nur weil du ihnen, behutsam freundlich oder knallhart schonungslos, Lernanstöße gibst. Die sie bitter nötig haben.

    Sie wussten es bis dahin nur noch nicht.

    Einmal mehr findet diese manchmal entmutigende Erkenntnis unverhofft eine drastische Bestätigung.

    Am heutigen Donnerstag um die Mittagszeit.

    Mit dröhnendem Höllenlärm.

    Wie gesagt, ein Glück kommt selten allein.

    Dieses Mal nähert es sich gleich in vierfacher Ausfertigung. Und liefert den Auftakt zu einer Reihe einprägsamer, unerwartet nachhaltiger Lerngelegenheiten. Wenngleich sich die weiteren Schritte erst mit zeitlichen Abständen ergeben. Reich an hässlichem Getöse, erschreckendem Nachhall und traurigen Gewissheiten.

    Kurz gesagt, ein nichtalltäglicher Kurs in Sachen Lernen im Alltag.

    Er beginnt im Main-Taunus-Zentrum am westlichen Stadtrand von Frankfurt am Main; ein weitläufiger Einkaufstempel mit Läden, Boutiquen und Restaurants nahe der Autobahn 66 in Richtung Wiesbaden. Die Einführung in das neue Lernfeld erwartet uns mit ungeahnter Wucht in der Ebene D 10 im langgestreckten Parkhaus 2 dieses Ladenzentrums, gute fünfzig Meter links vom Ausgang Treppenhaus 3.

    2

    Mein Privatleben ist meine Sache.

    In Grenzen, zugegeben. Die Liste der eindeutig zweideutigen Bemerkungen, die hinter meinem Rücken gedacht oder gemurmelt werden, dürfte inzwischen alles umfassen, was auch nur entfernt zu passen scheint. Je oller, je doller; Gockel im Hühnerhof; Hahn im Korb – als die eher freundlichen Betitelungen. Alter Lüstling mit jungem Gemüse; liebeskranker Kater; blinder Trottel, der sich von raffinierten Miezen ausnehmen lässt ...; wer bietet mehr? Nur weil ich unsere Wohnung im Vordertaunus-Städtchen Steinbach selten mit weniger als zwei Frauen verlasse.

    Leute, bevor ihr weiter lästert: Dazu gehören immer alle, die daran beteiligt sind. Als könntest du dir einfach aussuchen, mit wem dich das Leben zusammenführt. Übrigens, an diesem Oktobertag gehören zwei weitere jungen Damen zu meinem Gefolge.

    Zugegeben, von Ferne betrachtet bietet mein Privatleben Anlass zum Naserümpfen. Für uns selbst ist jedoch alles einfach und bestens geregelt. Etwa mit Mahina Ling, gelegentlich Mai gerufen; eine exotische Schönheit auf den zweiten Blick. Zum ersten Mal begegnet bin ich ihr im Oktober vorigen Jahres in San Francisco. Der Zufall hatte mich dort in eine versuchte Kindesentführung verwickelt. Als Dankeschön und Sicherheitsvorkehrung schenkten mir die vermögenden Eltern der kleinen Janey Selbstverteidigungsunterricht in einer bei uns wenig bekannten Kampfsportart. Erteilt von einer schwer durchschaubaren, beinharten Trainerin mit ein paar Tropfen chinesischen Bluts in den Adern.

    Geboren in Lahaina auf der Hawaii-Insel Maui, hat Mahina – sehr zu ihrem Leidwesen – die amerikanische Staatsbürgerschaft. Denn sie ist mit Leib und Seele Hawaiianerin. Wenn auch keine ganz gewöhnliche. Ob es am Reichtum der Insel Maui an Geistern und spirituellen Energien liegt oder an einer erblichen Belastung seitens ihrer Großmutter  Caren lässt sich nicht klären. Jedenfalls lebt Mahina seit ihrer Jugend mit einer ausgeprägten, eher seltenen geistigen Fähigkeit. Die machte mich, trotz fortgeschrittenen Alters bei gerade mal gewöhnlich tageslichttauglicher Erscheinung, zu einem der wenigen für sie annehmbaren Beziehungspartner. 

    Sie wusste das, bevor ich es begriff.

    Gut zwei Wochen mit Mahina in San Francisco veränderten mein weiteres Leben mehr, als ich bei meiner Rückkehr nach Steinbach in den wildesten Träumen für möglich gehalten hätte. Für etliche Monate blieb die attraktive Kampfsport-Trainerin lediglich eine liebe Erinnerung. Später zeigte sich, für Mahina gestaltete sich diese Zeit als gelassenes Warten auf etwas, das kommen würde. Das Ende meiner damaligen Frankfurter Liebesbeziehung vor etwa drei Monaten. Wenige Wochen und einen Kurzbesuch in Steinbach später beschloss Mahina, Kaliforniern dauerhaft den Rücken zu kehren. Die naheliegende Folge: Seit Monaten teilen wir Tisch und Bett.

    *

    Genau so bombenfest und klar geregelt ist die Sache mit Mona, Studentin im ersten Semester Kriminologie und Neurokognitive Psychologie; die Bezeichnungen stammen nicht von mir. Mona fühlt sich berufen, das Wesen von Psychopathen zu erforschen.

    Zunächst war sie lediglich die Tochter ihrer Mutter, Corinna Sandner. Die ist Kriminalhauptkommissarin im K 11 des Frankfurter Polizeipräsidiums; mithin die Fachfrau für Mord und Totschlag. Inzwischen teilt Mona ebenfalls Tisch und Bett mit mir. Und Mahina; in einer Wohnung. Platz genug haben wir. Unsere – moralisch nur bedingt vorbildliche – Lebensführung entspringt meiner entschlossenen Unfähigkeit, mich für eine der beiden Frauen, somit gegen die andere, zu entscheiden.

    Natürlich hatte das Schicksal die Finger im Spiel, als es mich erst mit Mona, dann mit Mahina zusammenführte. Klingt etwas dick aufgetragen? Glaub mir, wenn du gemeinsam in den Abgrund des Todes geschaut hast – das stärkt innere Bindungen ungemein.

    Wie die beiden Frauen damit zurechtkommen? Bestens, soweit ich das beurteilen kann. Zumal sie unser Zusammenleben eingefädelt haben. Unerwartet schnell und verbindlich einigten Mahina und Mona sich, warfen die hierzulande gültige Vorstellung der gottgegebenen Zweierbeziehung über den Haufen und packten mich bei meiner Schwäche für beide. Wenn Sie meine – zugegeben voreingenommene – Meinung dazu hören wollen: Es war das Beste, was uns Dreien blühen konnte.

    Wie unverkrampft wir nach kurzer Zeit damit umgehen, einstweilen jedenfalls, hätte ich nicht für möglich gehalten. Vergiss besitzergreifend, sexlüstern oder peinlich. Meine anfängliche Sorge, ich könnte ungewollt der Einen das Gefühl geben, sie der Anderen zu bevorzugen, fanden beide abwegig und erheiternd. Sie sind nun mal unterschiedliche Persönlichkeiten. Für einen aufrichtigen, liebevollen Umgang miteinander brauchst du keine Waage. Gewiss kommt hinzu, dass uns gemeinsame Macken und Interessen verbinden, und wir viel und offen miteinander reden. Oder uns einfach ziemlich unerschütterlich mögen.

    Hin und wieder auftauchende Reibereien enden regelmäßig mit Zungerausstrecken, haarsträubend übertriebenen Anschuldigungen, unsinnigen Rechtfertigungen und anschließendem Gelächter reihum. Je nach Stimmung in englischer und deutscher Sprache. Uns auch im drögen Alltag zu ertragen gelingt – alles in allem – erstaunlich gut. Ohnehin verschafft der Hinweis auf ihre monatliche Befindlichkeit den Frauen einen beneidenswerten Beziehungsvorteil.

    Mahina ist dreiundvierzig, Mona fünfundzwanzig Jahre alt. Der Alters- und Mentalitätsunterschied mag ein weiterer Grund sein, weshalb die beiden Frauen herzlich gut miteinander klarkommen. Ihres Wertes für mich sind sie sich ganz sicher bewusst. Aus Gründen der Gleichbehandlung – ich bin sechzig. Zumindest laut Geburtsdatum.

    *

    Ursprünglich war Corinna Sandner meine Herzensdame; voriges Jahr noch im Kommissariat für Raub und Einbruch tätig. Wenn dein Auto geklaut und für einen Raubüberfall benutzt wird, bist du froh, wenn die Polizei schnell erscheint und deine Zeugenaussage aufnimmt. Zumal, wenn die Polizei dich verständnisvoll behandelt, nett aussieht und sich ein paar Tage später zu einem Waldspaziergang überreden lässt.

    Dafür nimmst du einiges in Kauf. Etwa, dass die langjährige Single Corinna in Wahrheit mit ihrem Beruf verheiratet ist. Und nur halbherzig bei mir in Steinbach einzog. Zudem eine Tochter hat, die prompt folgte und „einen auf Familie" machen wollte, zu der Zeit immerhin mit vierundzwanzig Jahren. Erst nach und nach zeigte sich, welche üble Last die junge Frau – eigentlich eine umgängliche Frohnatur – mit sich rumschleppte. Die Lust auf Männer war ihr vergangen. Als Folge einer Beziehung, die binnen weniger Monate zunehmend gewalttätig wurde. Aus der Mona sich nach einem brutalen Angriff mit dem Mut der Verzweiflung befreite; ein Vierteljahr vor meiner Zufallsbegegnung mit ihrer Kripo-Mutter.

    Ab da fügte sich für uns vieles für einen wünschenswert freundlicheren Lebensabschnitt. Wir hätten es gut haben können nach meiner Rückkehr aus Kalifornien. Doch eine Kette hässlicher, Corinnas Beruf geschuldeter Ereignisse brachte unseren Alltag arg durcheinander. In der Folge reifte in ihr die Überzeugung, dass sie besser zu nervenfordernder Polizeiarbeit taugt als zu trauten Wochenenden in Steinbach mit mir und Tochter. Zumal sie der insgeheim unterstellte, mir schöne Augen zu machen. In zweitbestem Einvernehmen zog Corinna schließlich zurück in ihre Frankfurter Wohnung.

    Na klar, so etwas spürt eine Frau doch. Folglich muss was dran sein. Erst die Mutter, dann die Tochter; sehr praktisch. Geschmacklos. Wie zum Beweis schlief Mona vor mehreren Wochen ein paar Mal auf dem früheren Platz ihrer Mutter; neben mir. Ohne Sex. Sondern um zu reden, beinahe nächtelang. Einige Tage zuvor war sie – als widerlicher Nachschlag aus ihrer längst beendeten, gewalttätigen Beziehung – lebensgefährlich verletzt worden. Die Bluttat seelisch bewältigen, das Gefühl von Sicherheit erleben und in sich wieder aufbauen, das brauchte und wollte Mona. Seit dem Angriff liebe ich sie wie mein Leben.

    Kein Sex der Welt schafft das. 

    *

    Mahina ist hawaiisch, heißt übersetzt „Mond, auch „Mond-Göttin. Wie sehr der Name zu ihr passt, verstehst du, sobald du sie näher kennen lernst. Sie bringt die Nacht in magischem Licht zum Strahlen.

    Ihre dunkle Seite ist beängstigend, selbst für mich noch gelegentlich ein wenig unheimlich. Wer außerhalb unserer vier Wände mit Mahina zu tun hat, hält sie für undurchschaubar, eigensinnig, unterkühlt und hart. Dass sie oft geradeheraus – bis an den Rand der Unhöflichkeit – ihre Meinung sagt, mag dazu beitragen. Was ihr an Fingerspitzengefühl abgeht, ersetzt sie durch Neugier und Furchtlosigkeit. Sie lacht selten, ihr spärliches Mienenspiel verrät wenig über ihre Gefühlsregungen. Dass Menschen dazu neigen, sich in ihr zu täuschen, ist ihr gleichgültig, gelegentlich sogar willkommen.

    Privat erlebst du eine andere Frau. Wem Mahina vertraut – was sehr selten geschieht – dem öffnet sich ihre Seele voll Wärme und Einfühlungsvermögen. Und sehr viel Phantasie und Liebe.

    Mahina versteht sich auf den Umgang mit „höherer Energie; mit Willenskraft und heilenden Händen statt mit esoterischem Getue und äußerem Brimborium. Bereits wenige Tage, nachdem sie bei uns eingezogen war, erkannte sie, welcher Dämon Mona quälte. Ohne viel Gerede nutzte Mahina ihr Können, erschütterte Mona bis ins Mark, öffnete einen Sturzbach an Tränen. Auf ungewöhnliche Weise bewirkte dies weit mehr als Monas „innere Befreiung. Sexual Healing. Seitdem verbindet die beiden Frauen unverbrüchliche Liebe.

    Die Anlässe und persönlichen Hintergründe, die uns zusammenbrachten, zu Trennungen führten und den Weg für Neuanfänge öffneten, waren alles andere als lustig, teilweise sogar dramatisch und blutig. Im Kern hingen sie mit Corinnas Berufstätigkeit zusammen. Ihre Polizeiarbeit schien gewaltgeneigte, sogar lebensgefährliche Angriffe auf Mutter und Tochter, schließlich auch auf mich, anzulocken.

    Verschrecken ließen wir uns dadurch nicht; im Gegenteil. Wir hielten fester zusammen; bereit, füreinander durchs Feuer zu gehen. Mehr oder weniger zwangsläufig vermittelte mir der Umgang miteinander eine Menge Wissen und Fertigkeiten auf dem Feld der Kriminalistik.

    Hinzu kamen die Wochen in San Francisco. Bezogen auf Polizeiarbeit sowie in Sachen Bedrohung, Gewalt und Selbstschutz bewirkten sie eine unerwartete, aber nachhaltige Abhärtung. Damit veränderten sich auch einzelne meiner Wertvorstellungen. Wenn es unausweichlich wird, schlage ich schnell und hart zu. Sogar die solide Beherrschung eines handlichen, schwarzen Geräts, das bis zu fünfzehn tödliche Neun-Millimeter-Geschosse losschicken kann, zählt für mich inzwischen zu den willkommenen Früchten des Lernens.

    3

    Wie gesagt, Donnerstag, Mittagszeit. Die Geschäfte im Main-Taunus-Zentrum überbieten sich mit Preissturz-Angeboten, vorzugsweise bei Schuhen für alle möglichen Sportarten sowie freizeitlicher Damen- und Herrenbekleidung.

    Uns zum Shopping zu verlocken ist eine harte Nuss. Mona hasst es, Geld für Klamotten auszugeben, die spätestens nach zweimaligem Tragen zuverlässig in den hinteren Ecken des Schranks oder der Abstellkammer verschwinden. Dass Mahina etwas anderes trägt als Tennisschuhe, enge Jeans, Sweatshirts und knapp geschnittene Lederblousons, wahlweise in Schwarz oder Dunkelgrau, geschieht in zwölf Monaten vielleicht ein- oder zweimal. Ich habe meinen Stil und das entsprechende Outfit vor Jahren gefunden.

    Heute ist uns nach Ausgehen. Einfach so.

    Nach einigem Hin und Her. Mahina musste sich überwinden. Später gestand sie, dass sie obendrein eine ungute Vorahnung hatte. Wenn möglich meidet sie Menschenmengen, folglich auch belebte Einkaufszentren.

    Von außen betrachtet dürfte das die meisten Leute verwundern. Mittelgroße, schlanke, sportliche Figur; kurze schwarze Haare; ein ausgewogen hübsches Gesicht mit zierlicher Nase und dunklen Augen; ein Stich Oliv in der Haut. Ein Aussehen, das an eine Schönheit aus Spanien oder Mexiko denken lässt. Mag sein, dass Mahina der nötige Funke Glamour fehlt, um sofort die Blicke auf sich zu ziehen. Dabei sieht sie einnehmend gut aus – ganz sicher bei näherem Hinschauen. Natürlich ist sie kerngesund, selbstbewusst und selbständig.

    Sie braucht sich also nicht zu verstecken.

    Nur – sie ist in hohem Maß hellsichtig und hellhörig, beinahe als Dauerzustand. Nur wenige Menschen verfügen über entsprechende Fähigkeiten. Wer sich mit dieser Form gesteigerter Sinneswahrnehmung nicht auskennt, mag sie bewundern; Mahina gar beneiden. Vergiss es. Um eine Behinderung handelt es sich nicht, bringt jedoch – je nach Situation – hinderliche Eigenheiten mit sich.

    In abgeschwächter Form lebe ich ebenfalls mit dieser Geistesleistung; wie gesagt, Gleich und Gleich finden sich. Ich weiß folglich, wie anstrengend, sogar belastend der Umgang damit sein kann. Mit der richtigen mentalen Einstimmung kann ich meine Gabe aktivieren und wieder „runterfahren" in den weitgehend unbewussten Bereich. Im Unterschied dazu hört Mahina häufig ungewollt und nahezu mühelos die Gedanken von Menschen in ihrer Umgebung. Wenn sie Vorbeigehende aufmerksam anschaut, erkennt sie deren Befindlichkeit – stimmungs-, aber auch gesundheitsbezogen – in ihrer Aura; dem Energiefeld, das jeden Menschen umgibt. Quälend wird es, wenn sie gedanklich unachtsam, hungrig oder müde ist. Die wenigen Stichwörter mögen reichen, um eine Ahnung zu vermitteln, wie schwierig unser Alltag gelegentlich sein kann. Dennoch, die Gabe stärkt unseren Zusammenhalt wesentlich. 

    *

    Einer der letzten Tage Herbstferien in der Schule.

    Das Wetter glänzt mit Sonne und milden Temperaturen, die zum draußen Sitzen einladen. Nicht selbst kochen, dafür gemeinsam und in Ruhe Chinesisch essen lautet die Beschlusslage. Ausgehen mit Menschen, die sie mag und denen sie vertraut, erlebt Mahina jedes Mal als kostbares Geschenk.

    Selbstverständlich gehören unsere beiden Freizeittöchter dazu.

    Janina, vierzehn Jahre alt, schlank, hellwach im Kopf und gut zu leiden, trotz der ersten äußeren Zeichen von Pubertät. Seit einiger Zeit befindet sie sich für jeweils zwanzig Stunden pro Woche amtlich in unserer Erziehungsobhut. Diese Lösung hat unser Rechtsanwalt dem Jugendgericht abgetrotzt. Um das Mädchen vor einem vielleicht kürzeren, aber ziemlich sicher schädlicheren Aufenthalt in einem Jugendstrafheim zu bewahren.

    Aus eigenem Erleben hegt Mahina eine Schwäche für gequälte Jungmädchenseelen. Janinas Wohlergehen liegt ihr besonders am Herz. Mit großem Geschick weiß sie das Mädchen zu nehmen, bringt ausgerechnet sie dazu, ihr regelmäßig deutschen Sprachunterricht zu geben. Das hilft unerwartet gut, Janinas Lese- und Schreibschwäche zu vermindern. Nebenbei verbessert es ihre englische Sprachfähigkeit sowie die Schulnoten für die beiden Fächer deutlich. 

    Wann immer es sich einrichten lässt, darf Samira nicht fehlen, Janinas beste Freundin. Das Mädchen ist ebenfalls ein Goldstück, schmal und schlank wie Janina. Auch bei ihr zeigen sich erste Pubertätsrundungen, zumal sie gern enge Jeans und anliegende graue oder braune Ringelpullis trägt. Darüber flattert meist eine kurzärmelige Bluse in Weiß, Rosa oder Hellblau, die sie so gut wie nie zuknöpft. Samira ist bildhübsch mit schwarzen Augen, die noch im Dunkeln leuchten. Als eines von fünf Kindern weltoffener, modern denkender libanesischer Eltern spricht sie fließend Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch. Zum Verdruss ihrer einst katholischen Eltern, die – wie das Mädchen – heute mit Religion nicht viel im Sinn haben, geht Samira hartnäckig nur mit eng gebundenem Kopftuch auf die Straße. Weil es ihr Spaß macht und die Jungs auf Abstand hält, gesteht sie mit unbekümmertem, hinreißendem Lachen.

    Das also ist die Wirklichkeit hinter dem Auftritt: Alter Knacker mit vier ziemlich gutaussehenden Grazien. 

    *

    Familienmitglieder mögen sich nicht immer.

    Frauen, die sich sehr mögen und als Familie fühlen, halten zusammen wie Pech und Schwefel. Das erlebe ich täglich. Einen sozialpsychologisch ebenso interessanten Sachverhalt kannte ich bisher nur vom Hörensagen. In den folgenden Stunden wird daraus eine handfeste Erfahrung. Überaus lehrreich und mit unerwarteten Folgen. Dabei geht es um den Zusammenhalt in dem, was früher Männerbund genannt wurde.

    *

    Das chinesische Essen, natürlich mit Stäbchen, gewürzt mit Mädchentratsch und Gelächter, ist vielseitig und schmackhaft. Als Nachtisch gibt es ein paar Läden weiter für jeden ein kleines Eis auf die Hand.

    Eigentlich sollten wir das öfter machen.

    Wenn da nicht ...; so unbekümmert heiter zu sein wie unsere beiden Mädchen gelingt Mahina in der Öffentlichkeit selten. Sie erscheint eher zurückhaltend, beinahe schüchtern.

    Auf dem Rückweg zum Wagen bedankt Samira sich artig für das Essen. Worauf Janina sie erheitert anschubst.

    „Du spinnst, Du gehörst doch dazu."

    Im Parkhaus ist statt Fahrstuhl Treppensteigen angesagt.

    „Logisch, wo wir doch so fett sind," juxt Samira mit funkelnden Augen.

    Der Lärm ist wirklich unangenehm.

    Als wir das Treppenhaus 3 auf der Parkebene D 10 verlassen.

    Die flache, an den Seiten teilweise offene Betonkonstruktion des langgestreckten Parkhauses verstärkt ihn zu einem hallenden Donnern, das knatternd und wummernd näher kommt. Und ein wenig beängstigend wirkt. Selbst bei Menschen wie uns, mit einer grundsätzlich positivem Einstellung zum Leben. Samira jedenfalls hält noch in der Tür des Treppenhauses inne, sieht mich unsicher an.

    Das ganze Parkhaus scheint zu erzittern.

    Vier Motorräder der raubeinigen Sorte, drei schwarz, eines rot. Breit ausladende Geräte mit hoch aufragenden Lenkern, schwarzem Gestänge um die Motoren und verstümmelten Hinterteilen.

    Die Motorräder mögen beeindrucken, ihr Gedröhn tut es gewiss.

    Die Fahrer leisten ebenfalls ihren Beitrag. Vier Bilderbuchvertreter ihrer Zunft. Die im Ruf stehen, sich den Tag gern mit Krawallmachen zu vertreiben. Männer von stämmig über feist bis speckbäuchig, irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Von Anmaßung, Fahrtwind und Suff gezeichnete Gesichter mit Bartstoppeln oder Kinnfransen. Die halbnackten Arme schimmern dunkelgrau von Tätowierungen. An speckigen, ärmellosen Lederwesten hängen stählerne Ketten und Totenkopfabzeichen. Die zerschlissenen Jeans stecken in derben Stiefeln. Ungepflegte, teilweise schulterlange Haaren ragen unter den einschlägigen Nazi-Armee-Pisspott-Helmen hervor. Fester Bestandteil ihrer Kleiderordnung. Sie verleihen jedem Gesicht eine glaubwürdig intelligenzarme Note.

    „Oh, ein Rudel Organspender," erklärt Mahina beiläufig.

    In Amerika ein gängiger Kosename für Harley-Davidson-Fahrer.

    Mahina meint das leidenschaftslos. Sie tut sich schwer mit Späßen und Humor, was wohl mit ihrer überragenden Intelligenz zu tun hat. Sie betrachtet die Welt und sich selbst darin meist mit einem Tupfer Verwunderung, bringt die Dinge gern auf den Punkt, bleibt dennoch meist gelassen, lebt durchweg zufrieden.

    „Hey, Du fährst auch eine Harley."

    „Irrtum, Bear. Meine ist eine edle „Road King. Das da sind verkrüppelte Kurzschwanz-Böcke. Wie die Kerle, die draufsitzen.

    Kann ich ihr nicht widersprechen.

    Die Maschinen rollen langsam näher.

    Ihre Fahrer geben mehrfach Gas, nicht zum Beschleunigen, sondern um mit bollerndem Krach zu beeindrucken. Der Schwarm biegt im Schritttempo zwei Reihen vor uns nach rechts ab in die Gasse parkender Autos. Nach gut fünfzehn Metern stoppen die vier, schalten die Motoren aus, klappen die seitlichen Ständer ab, steigen von den Hockern, ziehen die engen Helme vom Kopf, legen sie auf die gedrungenen Sättel. Die schlagartig einsetzende Stille klingt ähnlich unangenehm wie zuvor der Lärm.

    Die vier Donnerbolzen recken ihre Schultern, überprüfen ihre Umgebung mit zusammengekniffenen Augen, suchen nach dem, weshalb sie üblicherweise losziehen. Nach der verschüchterten Ehrfurcht, mit der die Masse bürgerlicher Windelpisser sie gefälligst zur Kenntnis zu nehmen hat. Die Zahl möglicher Bewunderer liegt jedoch unter Null.

    Denn hier gibt es nur in Reihen geparkte Autos.

    Und uns auf dem Weg vom Treppenhaus 3.

    Mein BMW X-3 steht gut zwanzig Schritte hinter dem vordersten Motorrad. Wir könnten durch eine Reihe weiter vorn gehen, im Bogen um die Biker herum, müssten uns zwischen anderen geparkten Autos durchschlängeln. Es dürfte wenig nutzen. Wie die Typen dastehen und gucken, haben sie sich absichtlich dort breit gemacht.

    Mahina stellt klar, worum es geht.

    „Bear, ich glaube, die wollen was von uns."

    Seit San Francisco gebraucht sie diese amerikanisierte Kurzform meines Familiennamens. Mona und die Mädchen meistens ebenfalls.

    „Sehe ich auch so," gebe ich halblaut zurück.

    „Muss wohl so sein," stimmt Mona links neben mir zu.

    Sie greift in ihre Jacketttasche, dreht sich zur Seite und drückt Janina die kleine Einkaufstüte mit zwei Taschenbüchern und einer Video-DVD in die Hand. Wie Mahina geht Mona am liebsten ohne Handtasche aus. Man weiß ja nie ...

    „Hört zu, ihr zwei, ermahnt sie die Mädchen, „falls es Ärger gibt, ihr bleibt ein Stück hinter uns.

    „Die gucken finster und böse, bestätigt Janina. „Als ob sie uns was anhaben wollen. Gegen die haben wir doch keine Chance, oder?

    „Wir sind doch nicht in Bagdad," meint Samira. Es klingt, als wolle sie sich selbst Mut machen.

    „Stay calm, girls; we got you covered," sagt Mahina; ein Zeichen ihres Umschaltens auf Kampfbereitschaft. Sicherheitshalber gehen die beiden Mädchen nach rechts, halten sich hinter ihr. Aus gutem Grund.

    Wenige Augenblicke später beginnt der Showdown.

    *

    „Pah, schau sich das einer an! Affengeil, ein Kopftuch-Lämmchen aus dem Reich der Kamel-Ficker," pöbelt einer der Rocker, obwohl wir noch ein gutes Stück entfernt sind.

    „Müssen die nicht wie Pinguine rumwatscheln, von oben bis unten schwarz?," legt der Kumpel schräg neben ihm nach, erkennbar so laut, dass wir es hören sollen.

    „Aber eisern," tönt der Vordere der vier, zieht Rotze im Hals hoch.

    „Mit Titten wie Pfannkuchen darunter, sobald sie zwangsverheiratet sind und zehn Taliban in die Welt gepoppt haben."

    Ausgewiesene Fachleute für orientalische Lebensweise.

    „Hört einfach nicht hin, schüttelt die Schultern und vergesst es, flüstert Mona unseren Goldmädchen schräg hinter mir zu. „Die Typen wissen es nicht besser.

    Der Stand ihres Wissens ist unerheblich.

    Am Maß ihrer Intelligenz dagegen besteht kein Zweifel.

    Häufige Voraussetzung für unvermutet harte Lernerfahrungen.

    Die Rocker lästern nicht einfach abfällig, wollen nicht bloß rumpöbeln. Zwei, drei Schritte weiter und einige Blicke mehr beenden bei mir den letzten Zweifel.

    Wir werden erwartet.

    Von Leuten, denen man im Dunkeln besser nicht allein begegnet. Derart dicke Arme, große Hände und massige Oberkörper finden sich sonst nur bei Kerlen, die Schwerarbeit verrichten, etwa als Bauarbeiter, Schlosser oder Holzfäller. Oder stundenlang Eisen stemmen. Mit dem bloßen Körpergewicht kann jeder der vier eine Menge Schaden anrichten. Neben ihnen wirken wir schlanke Figuren wie halbe Portionen.

    Shit, in der Tat.

    4

    Das ist wirklich ärgerlich.

    Da geht man einmal seit Wochen gemeinsam mit seinen Lieben aus, freut sich auf ein vergnügliches Mittagessen – und lässt die Kanone zuhause. Natürlich.

    Mona ebenfalls.

    Auf Anraten des Vorgesetzten ihrer Mutter hat Mona kürzlich die amtliche Erlaubnis zum Führen einer Schusswaffe erworben. Ich bin dazu seit knapp einem Jahr berechtigt. Jeder von uns beiden besitzt eine Walther P 99, ich zusätzlich eine in den USA gekaufte Heckler-und-Koch USP. Dank regelmäßigen Übens auf einer Schießbahn sind wir ziemlich gut im Umgang mit dem Gerät.

    Wer eine Schusswaffe tragen darf, geht außerordentlich vorsichtig damit um. Etwa neunzig Prozent aller Polizisten geben während ihres ganzen Dienstlebens keinen einzigen Schuss ab; außer im Training.

    Wozu auch.

    Allein das Vorzeigen eines Gürtel- oder Schulterhalfters mit einem Inhalt, der tödliche Löcher machen kann, entfaltet in den meisten Fällen schlagartig eine friedenstiftende Wirkung. Sogar bei großmäuligen Rockern mit fremdenfeindlichen Sprüchen im Hals.

    Zu dumm; heute wird das wohl nichts mit unbesorgter Heimfahrt.

    Immerhin, die knitterfreie Bomberjacke habe ich übergestreift, eigentlich nur, weil sie an der Garderobe hing.

    Erste Grundregel bei allem, was dir widerfährt:

    Nichts ist persönlich. Es geschieht einfach.

    Folglich brauchst du auch keine Angst haben, falls es bedrohlich wird. Oder wenigstens keine Angst zeigen.

    Aufrechten Hauptes weitergehen.

    Womit wir wieder bei der sozialpsychologischen Lehrstunde sind.

    Was lieben Rocker über alles?

    Logo, ihre Motorräder und ihre Bandenbrüder. Grob gesagt in der Reihenfolge. An vierter Stelle lieben sie ihre Frauen, vor allem solche mit stattlichem Vorbau, Schmollmund und Folgsamkeit.

    An dritter Stelle lieben Rocker das Inferno.

    Ehrensache.

    Wenn sie es einer verfeindeten Bande, den Bullen oder angstschlotternden Normalbürgern bereiten können. Das zu wissen gehört zur Allgemeinbildung. Wir haben keine Vorurteile; ehrlich. Bis auf dieses Hörensagen hegen wir folglich keine Vorbehalte gegen Rocker. Ungehöriges Benehmen findet sich in allen gesellschaftlichen Kreisen.

    In Verlauf des Nachmittags ändern wir unser Meinung.

    Wenn es sein muss auch in Parkhäusern.

    Mit ungehörigem Benehmen – von wem auch immer – gehen wir auf fein abgestufte Weise um. Erste Stufe: Uns kann niemand beleidigen. Beleidigungen prallen grundsätzlich an uns ab, auch wenn wir sie im weiteren Verhalten berücksichtigen. Dank Mahina haben wir das daheim in ruppigen Streitgesprächen geübt.

    Zweite Stufe: Wer uns körperlich angreift, hat Pech gehabt.

    Besonders großes Pech, wenn unsere „Mond-Königin" dabei ist.

    Zugegeben, man sieht es uns nicht an.

    Das ist vielleicht unsere fieseste Waffe.

    „Atme, Bear; Finger bedeckt halten, Mona, fordert Mahina uns aus dem Mundwinkel auf; letzte Anweisung zur inneren Vorbereitung. Sekunden später schalten alle meine Sinne auf Stufe Orange. Keine Ablenkung mehr durch nutzlose Fragen wie „Warum wir? oder „Was wollen die?" Nur noch: Schultern kurz ausschütteln, Bauch mit Energie füllen, Augen entspannt geradeaus halten, mitten ins vordere Gesicht gegenüber. Der unscharfe Blick großer Wachsamkeit, der erkennt, was der Gegner und sein Umfeld  tun werden, bevor sie es tun.

    Etwa sechs Schritte vor dem ersten Rocker bleibe ich stehen.

    Als Mann wird das von mir erwartet. Bisschen unfair; aber was soll ’s.

    „Guten Tag, meine Herren. Wollen Sie etwas von uns?"

    Gib dem Frieden eine Chance.

    Versuch einer Verhandlungslösung nennt sich das.

    Gewalttätiger Kampf sollte stets das letzte Mittel sein.

    Die Antwort ist eine feixende Mischung aus bellendem Lachen und dumpfem Grölen seitens der drei hinteren Rocker.

    Der linke dreht besonders auf.

    „Habt ihr das gehört?! Wollen Sie etwas von uns? Das ist saustark. Als ob geborene Opfer von uns eine Erklärung fordern könnten."

    Neben ihm der mittelgroße Schwarzhaarige mit den kleinen Augen in hingebungsvoll alkoholgerötetem Gesicht, die prallen Arme über der feisten Brust verschränkt, grinst verächtlich und fast so breit wie das Parkhaus. Ihn halte ich für den Anführer der Bande.

    Klare Lage; Pyramiden-Formation, die Speerspitze übernimmt. Der vordere Kerl hält das für die richtige Vorgehensweise. Ein rosiges Gesicht mit kantigem Kinn, ein Schwall blonder Strähnenhaare bis zu den Schultern. Eine gut einmeterachtzig große, etwas unwuchtige Gestalt mit ungünstigem Muskelmasse-Fett-Verhältnis, erkennbar an einer Bierwampe, die sich handbreit über einen derben Totenkopfgürtel wölbt. Anerkennend sei erwähnt, der Typ findet sich zu einer Erklärung bereit. Auch wenn die vorhersehbar ist. Das entspricht wohl der eingespielten Aufgabenbeschreibung als Vormann in dieser Art von Arbeitsgemeinschaft. Er kommt, beide Daumen vorn in den Gürtel gehakt, ein Stück näher, mustert mich kurz wie eine übervolle Mülltüte, verzieht den Mund und zischt:

    „Linkswichser, verpiss dich oder Du wirst Mettwurst."

    Der nächste Blick, grimmig erfreut, verrät, was er vorhat.

    Ich gehe einen knappen Schritt auf ihn zu, drehe mich dabei zur Seite. Mona steht jetzt schräg links zwei Meter neben mir, frei. Ich weiß, von ritterlichen Männern wird erwartet, sich schützend vor die Dame zu stellen. Unsere Stufe Zwei – Umgang mit einem absehbaren Angriff – folgt anderen Regeln. Nebenbei leben wir im Zeitalter voller Gleichberechtigung von Mann und Frau. Mona benötigt Bewegungsfreiheit. Mahina seitlich hinter mir beginnt, gleichmäßig in den Knien zu wippen.

    Gut zu wissen.

    Der Rocker bestätigt ungewollt meine Erwartung, beantwortet meine kleine Annäherung unbewusst mit einem kurzen Schritt weg von mir. Danke für den Hinweis. Gleich zuschlagen wird der Kerl nicht. Die Typen wollen die Sache hinziehen, wollen ihren Spaß haben.

    Letzter Versuch.

    „Meine Herren, noch können Sie auf Ihre Motorräder steigen und unverletzt abziehen. Das sollten Sie wirklich tun."

    Grölendes Gelächter in der zweiten Reihe.

    Vorn der Blondhaarige glotzt Mona unverhohlen hämisch grinsend an. Mich bedenkt er nur mit einem verächtlichen „Schnauze!" aus zuckendem Mundwinkel. Und zieht laut schnarchend die Nase hoch.

    „Hau rein, Walli, Zickenzunder!," kläfft der Kleinste und wohl Jüngste, der am weitesten weg steht, ein drahtiger Bursche etwa Ende dreißig mit rotbrauner Stoppelfrisur,.

    „Immer der Reihe nach, verkündet der blonde Walli vor mir. „Der Wicht hier kriegt gleich die doppelte Ladung.

    Sehr dumm. Hat mich eh nicht gemeint; ich bin einmetersechsundsiebzig groß. Mich anzusehen, findet er überflüssig.

    Sehr schön.

    Statt auszuspucken blökt er seine Gelüste in rotzigem Ton raus.

    „Du da, Rotfuchs?! Schau mich gefälligst an! Die Not hat ein Ende. Dein Retter ist hier! Wetten, deinen superheißen Löchern fehlt ein richtig praller Schwanz. Habe ich gleich gecheckt. Ein Hammerschwanz, der es dir ordentlich besorgt, von vorn und von hinten, von oben und von ..."

    „Hey, Bruder, bollert der Schwarzhaarige mit den kleinen Augen, „lass für uns noch was übrig.

    Bleibt nachzutragen, Mona hat faszinierend grüne Augen und knapp schulterlange, seitlich ein wenig fransige, mahagonirote Haare. Und, wie eingangs erwähnt, sie kennt sich aus mit dem angesprochenen Sachverhalt unerwünschter männlicher Machtausübung. Die mag für den Blonden zum Alltagsbenehmen gehören. Doch Mona damit zu kommen, läuft auf die Bitte um eine unerwartet überzeugende Erwiderung hinaus. Die selbst dem härtesten Macho-Kerl zu denken gibt; sofern er überhaupt – oder anschließend noch – dazu fähig ist.

    „Was sein muss, muss sein," tönt es aus der zweiten Reihe.

    In rockerbrüderlicher Verbundenheit erwarten seine drei feixenden Kumpels Wallis Bekräftigung des geschlechtsspezifischen Angebots.

    Allerdings – dazu kommt es nicht mehr.

    Das checken die Typen durchaus. Einige Kopfschmerzen später. Ob das, was Wallis Augen erfassen, Zeit hat, zum Resthirn vorzudringen, bleibt unwichtig.

    Knappes Nicken des Rotfuchses; eine schlagähnliche Armbewegung in Richtung Wallis linke Brustseite, reine Ablenkung; eine Hüftdrehung, dazu ein herzhaftes „Uaah". Der Rocker-Arsch begreift das Geschehen bereits, als der Kopf noch zeitverzögert abwärts folgt. Seine plötzlich großen Augen bestätigen: Der Kerl ist mächtig beeindruckt.

    Geschwindigkeit ist  alles. Und alles geschieht gleichzeitig. 

    Monas linker Fuß reißt ihn weg; von den zu dünnen Beinen, verglichen mit dem massigen Körper. Der kippt zur Seite, steif wie eine hölzerne Kleiderpuppe. Der Rocker rollt sich noch nicht am Boden, da landet mein linker Unterarm am Hals des Kumpels hinter ihm, meine rechte Handkante fliegt auf dessen Nase. Augenblicklich quillt Blut hervor.

    Samira hinter uns schreit erschrocken auf.

    Uns kümmert das nur am Rande. Noch während Mona, Feuer in den Augen, mit beiden Händen auf die Knie gestützt und tief atmend, fragt: „Na los, ihr Schlappsäcke, wer wagt ’s als nächster?", ertönt halbrechts das unschöne Klick eines aufklappenden Springmessers. Aus den Augenwinkeln sehe ich den schwarzhaarigen Anführer mit vorgestrecktem Arm einen kurzen Sprung nach rechts machen.

    Auf Mahina und Janina zu.

    5

    Unverzeihlicher Fehler.

    Wie sie es macht, bleibt in solchen Augenblicken nebensächlich.

    Um so besser erinnere ich, was sie macht.

    Keine Zehntelsekunde nach dem Messerklicken.

    Mahina fliegt, beide Beine voraus, fast waagerecht durch die Luft, rammt dem mittelgroßen Schwarzhaarigen ihre linke Schuhsohle gegen den Brustkorb, ihren rechten Tennisschuh gegen die Innenseite des Unterarms mit der Messerhand, dreht sich um ihre Längslinie, fängt sich katzenähnlich geduckt, springt vom Betonboden auf, wirft sich dem zurücktorkelnden Mann mit Wucht gegen die Brust, die beiden angezogenen Knie voraus. Federt zurück, richtet sich auf und atmet durch.

    Ihre Art, solche Fehler zu beheben.

    Zeitbedarf, geschätzt: drei Sekunden.

    Mit einem hohlen „Plonk" prallt der stämmige Kerl fast zwei Meter weiter seitwärts gegen einen geparkten Kombiwagen, rutscht haltsuchend am Kotflügel entlang abwärts. Beim Abstützen des Falls ist das Brechen des rechten Oberarmknochens zu hören. Der Rocker jault gepresst in sich hinein, schnappt hoch in eine halb sitzende Haltung, sinkt röchelnd in sich zusammen. Glotzt mit verständnislosem Blick in großen Augen auf die Gestalt in schwarzen Jeans und grauem Sweatshirt, die sich beinahe gleichzeitig über ihn beugt und mit knackigem Handkantenschlag auf das linke Schlüsselbein seinen Abstieg besiegelt.

    Als müsste sie um Verständnis werben, erklärt Mahina mit kurzem Blick über die Schulter:

    „Das Schwein wollte eines unserer Mädchen schnappen."

    Zwei Sekunden später und einen schnellen Sprung weiter verpasst sie dem schockstarren Rocker mit den rötlichen Stoppelhaaren einen satten Handflächenstoß gegen die Stirn. Es wirkt wie eine beiläufige Geste. Aber sicher ist sicher.

    „Extra thank you, Mister Rattenmaul, für hinter uns schnüffeln," gibt sie ihm mit. Der Kerl verdreht die Augen, als ob er Sterne sieht, greift sich mit zitternden Armen an den Kopf, geht stöhnend in die Knie.

    Ein wenig außer Atmen klingt Mahina jetzt schon.

    *

    Mona hat den Vor-Rocker mit der blonden Mähne ruckzuck umgehauen; und vor den Kumpels mächtig gedemütigt. Allerdings; das eigene Anliegen hinterfragen und treffende Gegenargumente anerkennen, sprich nachgeben? Ausgeschlossen für einen echten Rocker. Wallis Grimasse verrät flammende Wut. Beachtlich schnell kommt er wieder hoch, das Kinn nach vorn gereckt, den Blick starr auf Mona gerichtet. Er knickt zwar kurz im rechten Bein ein. Doch seine linke Faust hält einen schwarzen Schlagring mit spitzen Zacken.

    Noch bevor Walli Luft holen und zum Rundschlag ansetzen kann, trifft der angewinkelte Arm meiner Lederjacke seine Faust. Schnelligkeit ist keine Sache des Alters sondern der Aufmerksamkeit, des Willens und des Trainings. Ich spüre einen leichten Druckschmerz, rucke Wallis Arm abwärts. Fast gleichzeitig dresche ich meine rechte Handkante auf den Mundwinkel des Rockers. Sein Unterkiefer schiebt sich gehörig zur Seite, ich spüre etwas darin nachgeben.

    Der Typ bekommt Augen groß wie Boskop-Äpfel, versucht eine Kaubewegung. Die geht in einem Hustenanfall unter. Dabei spuckt er erst Blut in seine zum Mund gesprungene Handfläche; dann folgen zwei mittelgroße Zähne. Damit endlich Ruhe ist, schicke ich den Blonden mit einem schnellen Tritt in die linke Kniekehle erneut zu Boden.

    Richte mich auf, hole kräftig Luft, nehme den Schlagring an mich.

    Ich – wütend auf den Kerl? Nicht die Spur. Der Anblick seines Schlagrings hat lediglich in mir einen kreativen Schub ausgelöst.

    Erst drehe ich mich nach den „Töchtern" um; Janina und Samira verfolgen das Geschehen aneinandergedrückt mit ängstlichen Augen. Dann schaue ich nach meinen Frauen. Mahina zupft die Ärmel ihres Lederblousons zurecht, den am Arm ramponierten Rocker beständig im Blick.

    „Was habe ich gesagt? Organspender!"

    Mona schüttelt die Schultern aus, streicht ihr dünnes Jackett glatt, blickt in die Runde und bricht in enttäuschtes Grinsen aus.

    „Schade, kaum komme ich in Schwung, geht das Training zu Ende."

    Beginnend mit Wallis Pöbelei dürfte der ganze Vorfall gerade mal gut zwei Minuten gedauert haben.

    Der militärische Fachausdruck lautet Blitzkrieg.

    Beim Anblick der Gasse zwischen den Autos verflüchtigt sich die gewohnte Vorstellung von Parkhaus. Vier schwere Motorräder stehen wie eilig verlassen rum; ein Stück davor, halb liegend und stöhnend, hocken drei der Kerle am Boden, haben Mühe sich zu bewegen, fragen sich bestimmt, wo ihre Kopf- und Gliederschmerzen herrühren.

    Das denkwürdigste Bild gibt der rotgesichtige Schwarzhaarige mit dem gebrochenen Arm ab. Fassungslos erstaunt starrt er mit schmerzverzerrter Miene auf den Griff seines Springmessers. Dessen Klinge steckt mehrere Zentimeter tief in seinem rechten Oberschenkel. Um die Einstichstelle herum beginnt seine verwaschene Jeans, sich dunkelrot zu färben.

    An der Zufahrtseite rollt langsam ein hellgrauer Mercedes vorbei; am Steuer eine wohlfrisierte ältere Dame. Auf der Suche nach einer Parklücke stoppt sie kurz, erblickt statt dessen eine Szene wie nach einem Grananteneinschlag, reißt ungläubig die Augen auf und gibt Gas. Ihr verstörter Blick bringt mich zurück auf Normalbetrieb.

    *

    Wir waren vorgewarnt. Auch wenn Eins und Eins erst zusammenkamen, als der Donnerlärm im Parkhaus heranrollte.

    Wenn Menschen etwas bewusst anschauen, strahlen sie Aufmerksamkeitsenergie aus; wie lebende Sendemasten. Folglich auch, wenn sie andere Menschen beobachten. Hegen sie dabei missgünstige Absichten, senden sie stärkere Energie aus als bei freundlichen Gedanken. Das liegt in der menschlichen Natur.

    Meist bemerke ich, ob mich jemand von hinten anstarrt. Mit einem Kribbeln im Nacken oder im Dritten Auge hinter der Stirn. Wenn ich nicht gerade mit den beiden Mädchen und Essstäbchen rumalbere.

    Mahinas Wahrnehmungsschwelle für höhere Schwingungsenergie ist, wie gesagt, niedriger als meine. Wenn sie darauf einstellt ist, fängt sie fremde Gedankensignale mühelos ein.

    Zum Essen hatten wir einen Tisch unter einem beigefarbigen Sonnenschirm gefunden; wie ein riesiger Pilz mit einem dicken Metallpfosten in der Mitte. Auf einem halbrunden Platz, umgeben von Boutiquen und weiteren Restaurants. Und breiten Wegen, auf denen die Besucher des Ladenzentrums um die Tische im Freien herumschlendern.

    Diesmal zahlte sich Mahinas Scheu vor belebten Plätzen voll aus.

    Mit gewohnt ruhiger Miene hat sie sich zwischen ein paar Bissen Lachs in meine Richtung über den Tisch gebeugt, die Augen seitwärts gerollt und geflüstert:

    „Bear, pay attention für den Mann an dem Eingang von das Jeans-Geschäft. Mit schwarze Lederjacke ohne Ärmel und großer Adlerkopf auf dem Rücken."

    Ich habe nur lächelnd genickt. Eine Weile später wie zufällig zur Seite geschaut. Vor dem Laden stand ein mittelgroßer, stämmiger Rocker mit rotbraunen Haarstoppeln. Der spätere Mister Rattenmaul.

    „Okay, habe ihn gesehen. Was ist mit ihm?"

    „Ist schon zweimal hin- und zurückgegangen, schaut immer zu uns, hat telefoniert, wie bei ein Report."

    „O...kay? Was sollen wir tun?"

    „Warten. Erst wollen wir das schöne Essen genießen. But something is wrong; der Adler-Mann. Er ist nicht allein."

    „Danke, geliebte Mond-Königin, wir sind auch zusammen."

    „Sure, my man."

    „Hey, ihr zwei, unterbrach Mona, ganz strahlende Heiterkeit, uns von der Vorseite des Tischs her. „Wir sind auch noch da. Turteln könnt ihr heute Abend.

    6

    Eine in Jahrtausenden gefestigte Erfahrung menschlichen Daseins besagt: Das Gesetz der Stärke herrscht bevorzugt da, wo eher wenige Gehirnregungen dazwischenfunken.

    Auf die Gegenwart bezogen gilt: Je weniger, desto Rocker. Für diese gesellschaftlichen Kreise eine hinreichend zuverlässige Faustregel. Was noch? Ganz einfach: Gesetze wurden gemacht, um sie nach Belieben zu brechen. Und um die dummen Anderen im Zaum zu halten. Wir leben nach eigenen Regeln. Die Weich-Eier von Ordnungshütern sind allenfalls lästig; scheiß drauf. Auf einer Harley gehört dir die Welt. Greif zu und bedien dich. Wem das nicht passt, der wird uns kennen lernen.

    Live free, die hard.

    Das heutige Ergebnis entsprach folglich nur bedingt den Erwartungen.

    Aus Rocker-Sicht.

    Wir dagegen?

    Was blieb uns anderes übrig?! Wir haben es versucht, mit verbindlichem Dialog. Andererseits, kleinlich zu sein widerstrebt uns, wenn Angebot und Nachfrage von Gewalt derart ungleich verteilt sind. Aus unserer Sicht – die Harley-Kerle protzen mit mächtigem Motorengedonner. Das hätte ihnen reichen sollen.

    Zu blöd, wenn man nur die eigene Faustregel draufhat. Dass die vier frohgemut in ein Inferno rollen könnten, das gewöhnliche Zentrumsbesucher ihnen bereiten, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft.

    Wir sind eine friedliebende Familie, wirklich und wahrhaftig.

    Weil wir wissen, wovon wir reden.

    Nicht nur aufgrund eigener Erfahrungen mit krimineller Gewalt.

    Und dank Monas Mutter Hauptkommissarin.

    Wir sind bekennende Anhänger der wehrhaften Demokratie. 

    *

    „Fa Jin ist die anspruchsvollste und gefährlichste Form des „Ba-Gua Quang. Beides betreibt Mahina seit über fünfzehn Jahren mit Inbrunst. Es hilft ihr vortrefflich, Aufmerksamkeitsenergie zu bündeln und den Eigenwillen ihres Hochleistungskopfs zu zügeln.

    Im Westen ist diese traditionelle chinesische Kampfkunst, hergeleitet aus dem Tao-Element des Wassers, wenig bekannt. Auch in China hat sie eine eher kleine Anhängerschaft. Gepflegt wird sie hauptsächlich – als Königsweg zur Selbstbeherrschung – in einzelnen Mönchsklöstern. Und – weniger spirituell – bei Elite-Einheiten staatlicher Sicherheitsdienste.

    „Fa Jin" treibt die Tao-Grundidee auf die Spitze: Energie ist alles und Atem das wertvollste Lebensmittel des Menschen.

    Es braucht jahrelanges, geduldiges Training, bevor du die ungeheueren Kräfte meisterst, die dabei aufgebaut werden. Und den festen Glauben an einen Vorgang, der anfangs schwer zu begreifen ist.

    Vergiss massiges Hantelstämmen für üppigen Muskelaufbau.

    Geist und Wille liefern deine Waffen.

    Durch bewusstes Atmen füllst du eine orangefarbige Energiekugel hinter dem Bauchnabel. Wenn der Druck darin groß genug ist, entlädst du ihn schlagartig mit gezielter Willenskraft sowie kleinen Hand- und Fußbewegungen. Nicht harte Fäuste und dicke Muskeln erledigen den Angreifer, sondern die durch Handkanten und -ballen oder Fußbogen gelenkte Energie; scharf gebündelt wie ein Stecheisen oder die heiße Flamme eines Schweißbrenners. Unterstützt von Bewegungen, die unerwartet und so schnell ausgeführt werden, dass sie leicht zu übersehen sind.

    Mag reichlich seltsam klingen.

    Dachte ich auch. Bis voriges Jahr in San Francisco Mahinas Lehrmeister vor mich trat. Ein fast kahler, schmächtiger Chinese, der wie eine greisenhafte Kung-Fu-Karikatur aussah. Wenige Augenblicke später flog ich gut einen Meter rückwärts gegen eine Matte. Ich könnte schwören, der Mann stand weitgehend reglos knapp zwei Meter entfernt und hat mich nicht berührt, weder mit Händen noch mit Füßen. Selten veränderte sich eine meiner Überzeugungen dermaßen schnell und gründlich wie bei der Gelegenheit.

    Ob die Rocker, wenn sie zur Besinnung kommen, einen ähnlichen Lerngewinn verbuchen?

    War das ungehörig, was wir getan haben? Ungerechtfertigt voreilig?

    Wenn es nicht die eigenen, möglichst superblonden Busenköniginnen sind, werden Frauen von Rockern liebend gern mit zotigen Sprüchen und schweinischen Gesten beleidigt, aber eher selten körperlich angegriffen. Einen Herrn Unscheinbar jenseits der Fünfzig fegen diese hochnäsigen Typen üblicherweise mit wenigen seitlichen Armbewegungen aus dem Weg. Selbst schuld, wenn man sie blöd anlabert.

    Und dann das.

    Zugegeben, Mona hat als Erste getreten.

    Aber Walli hat zuerst reingehauen; mit Worten, die mehr verletzen können als ein gehöriger Tritt in die Knie. Damit erübrigen sich Spitzfindigkeiten wie die Frage, wer angefangen hat. Bei diesen Kerlen tut man ohnehin gut, nicht abzuwarten, wann oder ob sie halt machen.

    Ganz nebenbei: Es fühlte sich einfach gut an. Bei passender Gelegenheit. Betätigung im Freien bringt bekanntlich mehr als Üben daheim auf der Matte. Und ein zufriedenstellendes Ergebnis lohnt manche Mühe.

    Ich arbeite nun mal als Verhaltens-Coach.

    Mich dabei vielseitig fortzubilden, ist Teil meiner Berufsauffassung. Die Saukerle nehmen sich das Recht, einem den ganzen Nachmittag zu verderben. Danke, meine Herren. Seit dem eher ungeschickten Zweikampf mit einem jungen Chinesen, der mir in San Francisco die kleine Janey entreißen wollte, hat sich meine Schlagfertigkeit beachtlich erhöht. Zumal alltagspraktische Lebensberatung mein Fachgebiet ist. Auch wenn meine sonstige Kundschaft etwas kultivierter auftritt und sich eher selten derart ungestüm aufdrängt.

    Wie gesagt, San Francisco und die weitreichenden Folgen.

    Kurz nachdem sich Mahina bei uns heimisch fühlte, brachte sie Mona und mir umsichtig, aber mit Nachdruck die Grundlagen und wirksame Techniken des „Ba-Gua bei. Allen voran das satte Atmen in den Bauch und das Bündeln von Willensenergie. Das haben wir nun davon. Mehrmals pro Woche gehören gut zwanzig Minuten Kraftgymnastik und „Ba Gua zum Tagesablauf; wie die regelmäßigen Mahlzeiten.

    Die Fans von Kung-Fu-Filmen berauschen sich an Szenen voll bedrohlicher Gebärden und Kampfgebrüll sowie Schlägen, Tritten und Ballett-Verrenkungen der Darsteller; je länger desto lieber.

    Derartige Flausen trieb Mahina uns schnell aus dem Kopf.

    Allem voran steht die Einsicht: Der kluge Kämpfer vermeidet den Kampf. Wird der jedoch unvermeidlich, gilt: Deine oberste Pflicht ist, das eigene Leben zu schützen. Allein dafür kämpfst du. Kämpfe niemals, um Wut freizusetzen, Strafe auszuteilen, Ruhm zu erlangen oder etwas so Dummes wie die Ehre zu verteidigen. Wenn es sein muss, kämpfe wachsam, gezielt und unerbittlich hart.

    Dem gemäß trimmte Mahina uns auf Schnelligkeit und Genauigkeit bei einer Handvoll Bewegungen, die es in sich haben. Der Rocker mit der blutenden Nase kann froh sein, dass ich ihm den Kehlkopf nur kurzzeitig verschoben habe, statt ihn zu zermatschen. Dem schwerfälligen Walli zwei Zähne ausschlagen, ohne dass meine Handkante auch nur schmerzt – eine meiner leichteren Übungen. Wir sagen es nicht gern laut, aber jede unserer Kampfbewegungen, mit etwas mehr als sportlichem Einsatz ausgeführt, kann schädigende, gar lebensgefährliche Folgen haben. Für den, der getroffen wird. Weil sie sich gegen Schwachstellen des Körpers richten und tief unter seine Oberfläche reichen können. Um so mehr lernst du Selbstbeherrschung und Verantwortung für das Leben zu schätzen.

    *

    Ich will einfach nur weg von hier.

    Okay, Schultern kräftig ausschütteln, die unerfreulichen Teile des Erlebten fallen lassen wie welkes Laub, Bauchenergie auffrischen, den Kopf freimachen. Ich bin nicht nachtragend.

    Zugegeben; die Auseinandersetzung ist etwas heftig geraten. Keiner der vier Biker würde dem widersprechen. Na und?! Kommt hin und wieder vor in ihren Kreisen. Beißt man einfach die Zähne zusammen, macht aber kein großes Aufheben darum.

    Im Gegenteil; viel Feind, viel Ehr’.

    Mir ist es ebenfalls recht. Schließlich haben die Typen uns eine Gelegenheit zum Üben geboten und einen wertvollen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Familie geleistet.

    Ganz zu schweigen von dem Lerngewinn für alle Beteiligten. Wären die Rocker bloß vorbeigedonnert, hätten wir uns wohl kurz über den Krach ihrer Maschinen geärgert, die Kerle aber gleich darauf vergessen. Statt dessen laden sie uns zu einem anregenden Meinungsaustausch ein. Die dabei vorgetragenen Standpunkte mögen auf unterschiedliche Aufnahmebereitschaft gestoßen sei, lohnen aber, länger bedacht zu werden. Zumindest kann nun jeder Anwesende anschaulich nachvollziehen, dass man mit Höflichkeit und Zurückhaltung gesünder lebt.

    Was willst du mehr?!

    Am liebsten möchte ich meine vier

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