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Bin ich Pollnick, oder was?
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eBook335 Seiten4 Stunden

Bin ich Pollnick, oder was?

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Über dieses E-Book

Joe ist jung, lebt in Frankfurt und ist ein sympathischer Chaot. Und er ist Künstler, vornehmlich allerdings Lebenskünstler. Er liebt kalte Margaritas und coolen Jazz und steht geregelter Arbeit eher skeptisch gegenüber. Aber er hat einen Traum: er will Maler werden. Nur traut er seinem Talent nicht über den Weg. Also hält er sich mit IT-Jobs über Wasser und verschiebt täglich den Beginn seiner Karriere als Maler auf morgen - oder spätestens übermorgen.
Bis ihm dann endlich eine Frau auf die Sprünge hilft. Sie ist cool und schlagfertig. Sie weiß genau was und zeigt Joe, dass er doch mehr drauf hat als Cocktails zu mixen und flotte Sprüche rauszuhauen.
Aber eigentlich sind es zwei Frauen, die sich diese Aufgabe teilen.
Und in einer von ihnen findet Joe auch in anderer Hinsicht den perfekten Match, sogar ganz ohne Tinder. Ein echter Glückspilz!
Joe lässt uns mit viel Wortwitz, Ironie und vor allem Selbstironie sozusagen live an dieser entscheidenden Phase seines Lebens teilhaben, in der er es endlich schafft, sein Talent zu nutzen und das zu werden, von dem er immer träumte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. März 2023
ISBN9783347911291
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    Buchvorschau

    Bin ich Pollnick, oder was? - Karl Denkel

    1

    Wo ist dieser verdammte Schuh? Ohne den Schuh kann ich nicht zu meiner absolut lebenswichtigen Verabredung gehen, denn das Paar Schuhe, dessen eine Hälfte ich in der Hand halte, während die andere Hälfte die an kosmischen Entropiegesetzen ausgerichtete Unordnung meiner Wohnung ausnutzt, um mit mir Versteck zu spielen, ist das einzige Paar in meinem Besitz, das eine Chance hat, dem Frankfurter Matschwetter zu trotzen.

    Gefühlte Ewigkeiten habe ich bereits mit der Suche nach diesem Schuh verschwendet, und jede weitere Minute erfolglosen Suchens geht auf Kosten von Quality Time mit Samson, meinem Freund und Bro Numero Uno, der so ungefähr ab jetzt in der Tequila Cantina y Bar wartet, um mit mir der alten Menschheitsfrage nachzugehen, wie viele Margaritas nötig sind, um das menschliche Gehirn zu maximaler Leistungsfähigkeit hochzupuschen.

    Was nutzt das Rumgejammere, ich muss weitersuchen, denn irgendwo muss der Schuh ja sein, wobei irgendwo" fünfunddreißig Quadratmeter wildwuchernde Wohnlandschaft bedeutet, die zu durchsuchen die Fähigkeit eines erfahrenen Archäologen verlangt.

    Ein Durchschnittsbürger auf der Suche nach seinem Schuh würde sicher zuerst im Schuhschrank nachsehen und danach vielleicht unter dem Bett. Macht hier aber keinen Sinn, da ich erstens keinen Schuhschrank besitze - die überschaubare Anzahl meiner Schuhe würde die Anschaffung eines solchen nicht rechtfertigen -, und zweitens mein Bett eine in direktem Bodenkontakt stehende Matratze ist, die anzuheben ich mich scheue aus Angst, was ich darunter finden könnte.

    Ich muss systematisch vorgehen, fange deshalb an der Südwand an - ich nenne sie Südwand, weil der bräunliche Schimmelfleck auf der Wandmitte verblüffende Ähnlichkeit mit dem Umriss von Südamerika hat -, bringe dort ein paar halbmannshohe Zeitungsstapel zum Einsturz und bleibe kurz an einer interessanten Schlagzeile hängen („Misstrauensantrag erfolgreich – Kohl wird Kanzler), entwirre eine Pyramide aus ausgedienten Elektronikbauteilen, über deren Herkunft nur mein Vormieter etwas sagen könnte, zerstöre versehentlich die sensible Konstruktion meiner Installation „Merkur in Bewunderung der Venus – sagte ich schon, dass ich bildender Künstler mit abgeschlossenem Hochschulstudium bin? Also abgeschlossen im eher übertragenen Sinn, nämlich dass ich damit abgeschlossen habe -, wühle mich ohne viel Hoffnung durch weite, hügelartige Landschaften schmutziger Wäsche und finde dort zwar keinen Schuh aber endlich mein zerfleddertes Exemplar von Nietzsches „Übermensch" – literarisch ganz schwerer Tobak, aber schließlich braucht jeder Mensch Vorbilder -, inspiziere sogar verzweifelt den Kühlschrank, dessen Inhalt mich an den Versuch eines irren Wissenschaftlers erinnert, künstliches Leben aus Abfall zu züchten, um schließlich auszurutschen und mit dem Gesicht in etwas zu landen, das vielleicht mal eine Papiertüte mit Tomaten gewesen ist.

    Ich gebe auf. Der pflichtvergessene Schuh hat gewonnen. Stöhnend lasse ich mich auf meinen durchgesessenen Fernsehsessel fallen. Warum ist alles im Leben so kompliziert? Warum geht nicht mal etwas von selbst, fügt sich nicht mal eins zum anderen? Warum ergibt sich nicht mal etwas – einfach so? So wie im Leben meines perfekten Bruders? Aber das ist eine andere Geschichte.

    Mir fällt ein, dass ich noch irgendwo ein Paar Sneakers haben müsste, die ein findiger chinesischer Fälscher einer namhaften US-Sportartikelmarke nachempfunden hat. Wo aber, und da sind wir wieder beim alten Problem, ist „irgendwo"?

    Ich denke, hier hilft nur noch Karl Marx (oder Robin Hood?): Wer hat, dem soll genommen werden! Zufällig weiß ich, dass mein Wohnungsnachbar seine Schuhe gelegentlich vor der Wohnungstür stehen lässt. Hofft er, dass der Hausmeister sie putzt? Haben wir überhaupt einen Hausmeister in dieser bewohnten Bauruine?

    Ein rascher Blick in den Flur zeigt, dass da tatsächlich ein Paar Schuhe – auch noch Männerschuhe! - vor der Tür der gegenüberliegenden Wohnung stehen. Ich weiß, dass ich damit auf einem erschreckend niedrigen moralischen Niveau angekommen bin, aber ich habe keine Wahl: ich husche in den Flur, greife mir die zwei schwarzen Halbschuhe und verschwinde wieder in meiner Bude: Aktion „Ausleihe" erfolgreich abgeschlossen! Dass die Schuhe sogar einigermaßen passen, nehme ich als Zeichen, das der Himmels nichts gegen meine Verzweiflungstat einzuwenden hat. Und morgen früh stehen sie ja sowieso wieder vor der Tür ihres rechtmäßigen Besitzers. Ich werde sie sogar vorher putzen.

    Somit steht meinem Ausflug ins Frankfurter Nachtleben nichts mehr im Weg. Ich schnappe mir meine schwarze Lederjacke, die angeblich Marlon Brando als jugendlicher Motorradrocker getragen hat – sagte zumindest der Flohmarkthändler, der sie mir für einen Zehner vermacht hat - und werfe noch einen Blick in den Spiegel. Ich sehe darin einen ziemlich gut aussehenden Siebenundzwanzigjährigen mit dunkelbraunen Augen und genauso braunen Locken, beides ein Erbe meiner italienischen Mutter, deren Gene sich zum Glück gegen das Erbgut meines rodgaustämmigen, treudeutsch aussehenden Vaters durchgesetzt haben.

    Ich ziehe los, in den beiden Knöpfen in meinen Ohren tönt Funkjazz, der meinen Adrenalinspiegel auf einem ausgehkonformen Level stabilisiert und mich darüber hinaus gnadenvoll gegen das Gequatsche meiner Sitznachbarn in der U-Bahn abschirmt.

    Unterwegs hagelt es Textmessages. Samson will wissen, wo ich bleibe. Ich beeile mich also, vom Bahnhof Hauptwache zur nahen Tequila Cantina y Bar zu kommen. Es ist sieben Uhr und noch nicht viel los in der Bar: zwei Typen, die mit ihren strähnigen langen Mähnen in Mittelaltergrau nach übriggeblieben Ex-Roadies aussehen, ein Tisch voll mit schnatternden Büro-Tussies, die mich keines Blickes würdigen, ein Anzugsträger mit Babyface, versunken in den Tiefen seines Laptop-Displays, und natürlich Samson, der an einem der winzigen Hochtische sitzt und leicht depressiv in sein halb leeres Margaritaglas glotzt, die Klotür wie üblich gleich hinter sich („damit man es nicht so weit hat"). Samson ist etwa in meinem Alter, eher der nordische Typ mit blonden Haarwildwuchs und Wikingerbart, immer gut drauf und gibt als Beruf wahlweise freier Journalist, Schriftsteller oder auch neuerdings Blogger an. Früher träumte er von Literaturpreisen, heute von Followern, Klicks und Likes – Traum das eine wie das andere, und Pizza ausliefern und Taxi fahren die Realität.

    Wir haben uns vor Jahren auf einem WG-Fete kennengelernt. Das gemeinsame Interesse an einer Soziologiestudentin im siebten Semester mit glatter Porzellanhaut und John-Lennon-Gedächtnisbrille auf der perfekten Stupsnase hat uns zusammengebracht. Nachdem aber ein tätowierter Dwayne-Johnson-Muskelberg mit Türsteherqualitäten die studentische Stupsnase abgegriffen hatte – im übertragenen wie im eigentlichen Sinn des Wortes -, trösteten Samson und ich uns mit ein paar Flaschen Bier und stellten dabei fest, dass wir dieselbe Art von Humor, ähnlich prekäre finanzielle Verhältnisse und ebenfalls sehr ähnliche, völlig illusorische Vorstellungen von einer Karriere in „irgendwas mit Kunst" hatten.

    Heute, fünf Jahre später, hat sich nicht viel geändert: wir warten noch immer auf die zündende Idee, was wir mit unserem Talent machen sollen, und halten uns bis zum Durchbruch einigermaßen mit Gelegenheitsjobs über Wasser: Texten, ein bisschen WebDesign, und zur Not eben auch Pizzaausfahren.

    „Na endlich, Joe, wird auch verdammt Zeit, dass du auftauchst, knurrt Samson. Joe ist übrigens mein Vorname, in der Originalform Josef, aber welcher Halbitaliener will schon Josef genannt werden? Dann schon lieber Joe, am besten in der Rufform - Hey Joe. Dann hört man gleich im Kopf dieses Hendrix-Gitarrenriff und … where you goin' with that gun of yours?"

    Ich hatte eine Zeit lang versucht, Giovanni als meinen Rufnamen durchzusetzen, aber „Giovanni Weber" (dank sei meinem Vater für diesen wahrhaft deutschen Familiennamen) war auch nicht der Bringer. Deshalb: mein Name ist Weber, Joe Weber…

    „Alter, ich hasse es, alleine hier rumzuhängen, motzt Samson weiter, „ich sehe doch aus wie ein asozialer Loser. Oder wie einsames Freiwild für die Chicks da drüben.

    Klar, jede dieser adrett gekleideten Damen im Business Outfit am Nachbartisch träumt davon, sich an einen behaarten schwedischen Yeti in abgewetzten Knittercordhosen ranzuschmeißen.

    „War schon besorgt, dass du nicht kommst, und ich meine Drinks heute selber bezahlen muss. Würde mir schwerfallen, es sei denn, Blue Hour bedeutet hier, dass die Cocktails verschenkt werden."

    Sofort spüre ich, wie sich mein Zwanzig-Euro-Schein ängstlich zusammenkräuselt. Drauf gehen würde er also für lächerliche zwei, best case drei - weil Blue Hour - Margaritas und einen Teller KäseTortilla-Chips. Aber zwei oder drei Margaritas sind sowieso nichts, sozusagen drei Tröpfchen auf dem heißen Stein, zu wenig für unsere nach Stimulation lechzenden Männerseelen, ein guter Anfang vielleicht, aber bei weiten nicht genug, um unsere Hirne auf das nötige Exzitationslevel zu katapultieren, auf dass wir die Probleme der Welt mit genügendem Schwung erfolgreich einer Lösung zuführen könnten. Zwei, drei Margaritas! Damit werden unsere kampferprobten Lebern in Nullzeit fertig und überlassen uns dann dem Schrecken einer – welch hässliches Wort - nüchternen Realitätsbetrachtung. Nein, das ist kein akzeptables Szenario für einen Abend in der Tequila Cantina y Bar!

    Aber, wie Konfuzius sagt (oder Peter Maffay?): über diese Brücke gehen wir erst, wenn wir davor stehen. Ich bestelle mir rasch eine Margarita bei der auf 450 €-Basis kellnernden Studentin und kippe dieses offizielle Getränk der mexikanischen Götter mehr oder weniger ab, um so mit Samson alkoholpegelmäßig gleichzuziehen.

    Samson eröffnet die Unterhaltung mit einer Klage über Frauen, genau gesagt über deren momentane und für uns unverständliche Abwesenheit in unser beider Leben, und überrascht mich dann doch mit seinem abschließenden Statement: „Ich denke, wenn das so mühsam weiter geht, werde ich schwul."

    Eine wie gesagt überraschende, wenn auch nicht sehr glaubwürdige Wendung. Samson ist so gar nicht der queere Typ, eher der Prototyp des superbinären Cis-Machos. Man könnte sich ihn gut bei „Bauer sucht Frau" vorstellen als naturbelassener Ferkelzüchter, der die Kastration seiner Zuchterfolge mit dem eigenen Gebiss durchführt. Aber ich als Samsons Lieblings-Bro versuche natürlich, ihm beim Coming out mit Rat und…nein, ohne Tat beizustehen.

    „Schwul – why not? Ist eine Möglichkeit, eindeutig. Und, hast du schon ein geeignetes Objekt der Begierde im Auge, das dir beim Umpolen helfen könnte? Ich falle natürlich aus. Wir kennen uns schon zu lange, als dass da „unnerum noch irgendwas gehen könnte. Aber jetzt mal gesprochen von Ästhet zu…naja, zu dir: du weißt, ich habe dich schon nackt gesehen. Und deshalb mein gute Rat: du musst was an deinem haarigen Hintern machen. Waxing zum Beispiel.

    Ich stelle es mir gerade bildlich vor. Was dazu führt, dass ich dringend einen Tequila brauche.

    „Bist du irre? Ich lass mir doch nicht die Haut vom Hintern ziehen. Aber genau genommen ist ‚schwul werden’ auch eher Plan Z – also erst relevant, wenn A bis Y nicht funktioniert haben."

    „Und wo stehst du denn heute? Noch bei Plan A – heißt das nicht bei dir ‚ich versuche die Mitleidsmasche’? Oder Plan B – ‚ich behaupte, dass ich ein Freund von Dieter Bohlen bin und jeden bei DSDS unterbringen kann‘? Oder schon bei Plan V wie ‘Von mir aus auch wieder mit Elsa‘?"

    Elsa Grün ist eine der zahlreichen Ex von Samson. Auf Grund ihrer allzeitigen Verfügbarkeit und niedrigen sexuellen Hemmschwelle reaktiviert Samson sie gelegentlich in Notzeiten. Dann verbringt er ein paar Tage in Elsas Bude, fängt an zuerst sie, dann sich zu hassen und verschwindet wieder.

    „Elsa? Die ist Plan V, V wie Verzweiflung. Nee, dann vielleicht doch lieber schwul."

    „Endlich stehst du zu deiner queeren Neigung. Finde ich toll. Ich hab‘s mir ja schon immer gedacht, so ungeschickt, wie du dich bei den Chicks anstellst. Und wie du hinter mir her geiferst, wenn ich aufs Klo gehe. Ist O.K., kein Problem, nehme ich als Kompliment. Wie wäre es mit einer Runde Margaritas auf dein Coming out?"

    „Mach mal langsam, Alter! Nix gegen edle Männerpaarung, also so generell und für die Allgemeinheit, aber so lange es Hoffnung gibt,…"

    „…und Vera Grün", ergänze ich hilfreich.

    „…bleibe ich noch versuchsweise Hetero."

    „Ist auch O.K., du bist ja kein völlig hoffnungsloser Fall. Voll maskulin: 90 kg geballte Männlichkeit, akzeptabler Bizeps, Bauchansatz, naja, kaum noch zu tarnen, lässt dich aber kuschlig wirken. Auf der Minusseite… steht irgendwie alles andere. Deine Klamotten zum Beispiel, absolut anti-hip: braune Cordhose und Sweatshirt mit Schalke 04-Aufdruck. Geht‘s noch? Dann diese zottelige Gesichtsbehaarung. Und überhaupt, deine Ausdrucksweise - voll prollig."

    „Und du meinst, dein verschnörkeltes Rumgequatsche macht Eindruck bei den Mädels?"

    „Ich denke, meine gut entwickelte Artikulationsfähigkeit ist bei meinem Zielpublikum ein hübsches ‚on top of⁵."

    „On top of was für’n Scheiß?"

    „Hey, ich bin Halbitaliener – dunkle Augen, dunkle Locken, das Versprechen südeuropäischer Feurigkeit, und das dann kombiniert mit intellektuell ansprechender Rhetorik. Ich würde das unwiderstehlich nennen."

    Bevor ich anfange, mich selber toll zu finden, holt Samson mich in die Wirklichkeit zurück: „Du bist, freundlich formuliert, ein halbes Hemd in dreckigen Jeans. Gut, deine Schuhe sehen überraschend neu aus, aber sonst…? Wo sind denn die ganzen Chicks, die du mit deinen komischen Locken und deinem Gesülze weichkochst haben willst?"

    Gute Frage, nächste Frage! Ich lenke ab: „Die Gläser sind leer. Mach was, Alter!"

    Samson ordert neue Margaritas, deren Überlebensspanne dann wieder deprimierend kurz ist. Aber der Abend entwickelt sich großartig. Schauen die Büroschnepfen vom Nachbartisch nicht doch heimlich zu uns herüber? Die Chicks kippen Tequilarunden – vielleicht schaffen sie es ja, sich uns schön zu saufen.

    So wie wir uns mit Margaritas abfüllen, füllt sich auch allmählich die kleine Bar. Wenn hier zum Gequatsche der Leute noch Musik von Bands kommt, die sich alle wie Buena Vista Social Club anhören, wird die Unterhaltung anstrengend. Dabei sind wir gerade dabei, etwas zu entwickeln, dass wir hochtrabend unser „Geschäftsmodel" nennen – zwei Blinde reden von Farbe. Dank alkoholinduzierter Selbstüberschätzung kommen wir überein, endlich Samsons Fähigkeiten (Texten, nicht Taxifahren) mit meinem Designertalent zu kombinieren zu etwas, dass uns berühmt und reich machen wird. Was genau das für ein Produkt sein wird, steht noch zur Debatte – eine App, ein YouTube-Kanal, oder mehr was wirklich Künstlerisches mit Anspruch, Arthousemäßiges. Oder alles zusammen. Egal, morgen können wir uns sowieso an nichts mehr erinnern.

    Zum Beispiel an die gerade geborene Idee, einen Influencer-Kanal einzurichten – Samsons Vorschlag natürlich:

    „Wir werden Biermarken-Influencer. Wir filmen uns, wie wir verschiedene Pilssorten abkippen, und unsere Follower schauen uns dabei zu und schließen Wetten ab, wer von uns eher unter dem Tisch liegt. Voll die Gaudi!"

    „Oder Mode-Influencer: wir bringen deinen Cord-Hosen-Look zurück – beige is beautiful."

    Influencer gefällt mir. Erinnert zwar phonetisch an Grippeinfektion, ist aber faktisch besser als Pizzaausfahren. Darauf und zur Abwechslung mal eine Runde Pils – zum Üben, von wegen Pils-Influencer. Außerdem haben uns die Salzränder der diversen Margaritagläser durstig gemacht.

    Weil wir mit unserem Brainstorming nicht mehr so recht weiterkommen, orientieren wir uns wieder Richtung Bürotussentisch. Aber oh Wunder, die Chicks sind entweder in den letzten Stunden schrecklich gealtert oder aber gegangen und durch eine Gruppe freudloser Besucherinnen eines evangelischen Kirchentages ersetzt worden. Da wir uns einer Diskussion über Klimakatastrophen, veganes Essen oder gar Menstruationstassen nicht gewachsen fühlen, verzichten wir auf eine Kontaktaufnahme. Es ist auch schon knapp vor Mitternacht. Wir beschließen zu gehen, so lange wir noch gehen können.

    Aber da war doch noch etwas, etwas äußerst unangenehmes. Ach ja, die Rechnung! Kein Problem, meint Samson, er kennt den Barkeeper vom Fußballkicken im Ostpark. Samson drückt sich zur Theke durch und kommt nach fünf Minuten mit der überraschenden Nachricht „erledigt" zurück. Ich bewundere ihn, fast macht er mir Angst. Zuerst fabuliert er über eine Influencerkarriere und dann hat er auch noch genug Geld, um eine gefühlte Zigdrillion Margaritas, zweimal Nachos mit Käsesoße sowie diverse Pils zu bezahlen.

    „Hab´ nen Deckel gemacht, klärt er mich auf, „ich musste aber mit meinem Blut unterschreiben, dass ich morgen wiederkomme und zahle. Schätze, wir müssen für die nächste Zeit das Tequila Cantina y Bar aus der Liste unsere Stammkneipen streichen. Und, was hast du morgen so vor?

    Ich hole tief Luft: „Ich werde morgen endlich mit dem Bild anfangen."

    „Haha, und ich gehe ins Fitnesscenter…"

    2

    Ich weiß nicht, was mich letztendlich geweckt hat, der Druck auf meine Blase, die Wüste Gobi in meinem Mund oder dieser bösartige kleine Wurm, der sich durch mein armes Hirn bohrt. Was klar ist: wenn ich jetzt den Fehler mache und die Augen öffne, wird dieser kleine Wurm in meinem Kopf zu einer hochdrehenden elektrischen Bohrmaschine.

    Ich werde einfach noch eine kleine Weile liegen bleiben, so etwa zwei bis drei Stunden. Aber geht nicht, die Blase ist so angespannt wie meine finanzielle Gesamtsituation, wohl ein Vorgeschmack auf die Zeit in etwa vierzig Jahren, wenn mir nachts um drei die Prostata auf die Blase drückt.

    Ich schätze, wenn ich die Augen geschlossen lasse und mich auf allen Vieren bewege, könnte ich es bis ins Klo schaffen. Ich rolle mich also von der Matratze und bewältige den ersten Meter kriechend. Aber dann erhebe ich mich, unsicher noch, schwankend aber stolz wie dieser haarige Ur-Vorvormensch, der irgendwann beschloss, nicht mehr länger ein Vierbeiner zu sein, der sich mutig auf seine Hinterbeine stellte (jetzt Einsatz Richard Strauss: Also sprach Zarathustra – BAMbam BAMbam BAMbam BAM), eine Krawatte umband, seine Aktentasche unter den Arm klemmte und ins Büro ging, womit möglicherweise das ganze Unglück der Menschheit begonnen hatte.

    Seufzend lasse mich auf die Klobrille fallen und entspanne alles, was ich an Schließmuskeln habe – herrlich, maximale Erleichterung von jetzt auf gleich!

    Und ja, ich bin Sitzpinkler, ich stehe beziehungsweise sitze dazu. Warum soll ich irgendwas im Stehen machen, das ich auch im Sitzen erledigen kann? Wie ich nichts im Sitzen tue, was ich auch im Liegen tun kann, oder wie ich etwas gar nicht tue, wenn ich es auch aufschieben kann. Das in Kürze zu meiner Lebensphilosophie!

    Allmählich erwachen meine Lebensgeister, und der Wurm im Kopf gibt endlich Ruhe. Aber um wirklich wach zu werden, braucht mein alkoholvergifteter Körper Koffein, und zwar eine Menge davon. Ich rufe also Richtung Küche: „Liebling, kannst du mir einen großen Cappuccino machen?"

    Natürlich antwortet Liebling nicht. Weil Liebling eher hypothetisch ist, die Platonsche Idee eines idealen Lieblings in einer Schopenhauerschen Welt als Wille und Vorstellung – oder in einfachen Worten: eine illusionäre Wunschvorstellung, denn niemand teilt diese Einraumwohung mit mir, die Silberfische unter der Badematte mal ausgenommen. Aber ich finde es einfach schön, dieses „Liebling, kannst du mir…":

    Das romantische Pärchenleben ist nichts für mich. Es stresst mich, wenn ich lange mit ein und der selben Frau zusammen bin, sogar wenn sie mir tatsächlich einen Cappuccino ans Bett bringen oder sich um meine – Achtung, billiges Wortspiel! – Latte kümmern würde. Ich werde mal mit meinem Therapeuten darüber reden, sobald ich einen habe. Ein paar Stunden mit jemandem zusammen sein, in Ordnung, aber dann wird es stressig. Hey, wie soll man tagelang, wochenlang, lebenslang!! brillant sein, unterhaltsam, charmant, witzig, was weiß ich, was alles so in einer Langzeitpartnerschaft erwartet wird. Das bedeutet doch Dauerstress und Leistungsdruck ohne Ende. Und dann dieser Zwang zur Harmonie – wie, du findest Game of Thrones nicht gut? Was, du willst, dass wir dieses grüne Sofa ins Wohnzimmer stellen? Warum magst du meine Mutter nicht? Nein danke, dann lieber alleine aber glücklich sein.

    Und deshalb gibt es auch heute wieder keinen ans Bett gebrachten Cappuccino, nur einen aromafreien braunen Sud, den ich mit Hilfe eines gestern schon mal verwendeten Kaffeefilters produziere. Das Ergebnis ist eine heiße, braune, Flüssigkeit – nennen wir sie der Einfachheit halber „Kaffee". Der Geschmack allerdings rechtfertigt diese Bezeichnung nicht. Ich muss unbedingt neue Kaffeebohnen kaufen.

    Das erinnert mich an diese eine unglückselige conditio sine qua non, diese schmerzhafte Verknüpfung von Kaufen wollen und Geld besitzen, was sogar mich gelegentlich dazu zwingt, etwas zu tun, das man gemeinhin als „arbeiten" bezeichnet. Zum Glück geht das nicht so weit, dass ich dem nachgehen müsste, das einer geregelten Arbeit nahe käme. Ich habe einen Laptop und ein Handy, also alles, was man braucht, um heutzutage als freier Unternehmer über die Runden zu kommen. Mit den Kenntnissen aus meinem abgebrochenen Kunststudium und einem gewissen autodidaktischen Software-Know-how bastele ich ab und zu Webseiten für IT-mäßig Unbedarfte. Ich kann damit überleben, ohne dass auch nur die geringste Gefahr besteht, so zu übertriebenem Wohlstand zu gelangen.

    Zurzeit habe ich zwei Kunden, Sorgen hinsichtlich eines drohenden Burnouts wären also übertrieben. Der eine Kunde ist ein Schrebergartenverein in Bergen-Enkheim, der zweite ist eine Kundin und heißt Lotte Burmester; ich treffe sie morgen, um herauszufinden, was genau sie braucht. Der Schrebergartenverein hat eine neue Webseite bestellt und dafür schon angezahlt. Also hat dieser Job Priorität. Obwohl ich den Auftrag nicht mag. Genaugenommen mag ich Herrn Dormich nicht, diesen reaktionären Vereinsvorsitzenden. Er rief vor zwei Wochen an, sagte, er hätte meine Nummer von einer Visitenkarte, die ein Vereinskamerad in einer Kneipe gefunden hätte.

    So viel also schon mal zu meiner ausgefeilten Akquisitionsstrategie: ich lasse einfach möglichst viele Visitenkarten an möglichst vielen öffentlichen Orten herumliegen.

    Wir trafen uns für die Geschäftsanbahnung in einer Kneipe. Ich konnte ihn ja schlecht in mein „Büro" einladen. Es war klar, dass ich ihm nicht gefiel. Was hatte er erwartet, Steve Jobs persönlich? Oder wenigstens jemanden, der nicht nach mittelaltem Punk aussieht? So sehen wir aus der IT-Branche eben aus, also die, die ihre Berufs-bekleidung auf dem Flohmarkt kaufen.

    Ich lud Mister Schrebergarten zu einem Bier ein – kein Erfolg ohne Investition -, und nach einem Gedankenaustausch über Eintracht Frankfurt und einem zweiten Bier kamen wir dann zum Geschäft. Er wollte wissen, ob ich denn „so Computerseiten" machen könnte, und ob ich auch nicht zu teuer wäre. Ich versicherte ihm, dass alle meine Kunden mit meiner Preisgestaltung zufrieden gewesen wären, und erkundigte mich nach der geplanten Höhe der Investition. Er dachte so an 600 Euro. Für 600 Euro würde ich ihm die Webseite basteln, sein Auto waschen und den Rasen in allen seinen Schrebergärten schneiden. Heute kann schließlich jeder Halb-Nerd mit minimalen Computerkenntnissen und simplen Tools aus dem Internet eine professionell aussehende Website zusammenbauen.

    Trotzdem merkte ich skeptisch an, dass 600 Euro an sich nicht dem Budget entspricht, für das ich üblicherweise arbeite („üblicherweise" mache ich es für einen Kasten Bier), aber weil ich ein Unterstützer der Schrebergartenbewegung sei, würde ich annehmen, 200 Euro Sofortvorauszahlung vorausgesetzt. Wir wurden handelseinig.

    Da wäre aber noch was, meinte Herr Dormich etwas verdruckst am Ende. Sie wären ja alle im Verein liberal eingestellt, leben und leben lassen und so. Und schon gar nicht hätten sie etwas gegen Flüchtlinge, alles arme Kerle. Aber wenn es ums Feiern ginge, da wären die ja doch anders. Man wolle einfach nicht, dass auf dem Schrebergartengelände dauernd Hammel am Spieß gegrillt würden. Und die Heckenschneideverordnung, verstehen die das denn überhaupt? Dann das Kindergeschrei…, Afrikaner hätten doch so viele davon. Also zwei oder drei gut integrierte Ausländer, deutschsprachig, in Ordnung, aber möglichst nicht so viele davon. Ob ich das irgendwie in diese Computerseite mit einbauen könnte, aber unauffällig, eher so indirekt? Man hätte ja wie gesagt nichts gegen „die". Und man kommt so schnell ins Gerede.

    Das wäre dann der Punkt gewesen, an dem ich hätte aufstehen und gehen sollen. Aber da waren diese schon lieb gewonnenen 200 Euro in meiner Tasche, die ich im Fall eines dissonanten Aufbruchs hätte zurückgeben müssen. Also meinte ich nur, dass ich sehen würde, was ich tun könnte, und ging dann, einen Abgabetermin in drei Wochen in Aussicht stellend. Ich schäme mich noch heute dafür, hatte ich doch an diesem Tag meine Seele für sechshundert Silberlinge verkauft!

    Wie gesagt, meine Lust auf diese Webseitenbastelei hält sich in engen Grenzen. Ich könnte mich nun totstellen und hoffen, dass Herr Dormich

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