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Die Unsichtbaren: Roman
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eBook145 Seiten2 Stunden

Die Unsichtbaren: Roman

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Über dieses E-Book

Ein Ich führt ein ganz gewöhnliches Leben, Beziehung, Büro, Freunde und Bekannte, man isst Paella mit Kaninchen, man feiert den Geburtstag eines Kollegen. Und doch scheint das Leben nicht echt, nicht wahr.
Menschen sehen aus wie Schauspieler, bewegen sich wie in Rollen, man kippt in Musikvideos, alle reden und reden und der Erzähler sieht nur die sich bewegenden Lippen, als sähe nur er die Wirklichkeit hinter den Fassaden. Etwas in seiner Wahrnehmung – oder überhaupt – stimmt hier nicht.
Da liegt eine Notiz auf seinem Schreibtisch: Du sollst K. anrufen! K., ein alter Freund, ist im Krankenhaus. Der Erzähler bricht auf, besucht den Freund in seiner Kindheitsstadt – die Zweifel lassen sich nicht mehr beiseitewischen: Was ist wahr und wichtig? Ist überhaupt etwas wichtig? Ein trübender Nebel liegt über allem, der immer weitere Rätsel freigibt, wenn er sich lüftet: Die Wirklichkeit könnte genauso gut eine Fototapete sein, deren Details man erkennen würde, käme man nur etwas näher heran …
SpracheDeutsch
HerausgeberLimbus Verlag
Erscheinungsdatum19. Dez. 2019
ISBN9783990390887
Die Unsichtbaren: Roman

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    Buchvorschau

    Die Unsichtbaren - Otto Tremetzberger

    Otto Tremetzberger

    Die Unsichtbaren

    Roman

    I

    1

    Rotes, warmes Licht strahlt von der Decke.

    Stiller Alarm?, mein erster Gedanke.

    Ich komme aus der Kantine, aufgekratzt vom Kaffee und der zuckrigen Nachspeise, von Cola und Orangensaft. Die Flasche mit der farblosen Flüssigkeit: als Einziger habe ich sie nicht angerührt. Auf der stand zu lesen: Jekaterinburg. Jekaterinburg! Ich war mit Boris dort, meinem Vorgesetzten, letztes Jahr im Herbst. Es hat mir nicht gefallen. Die Kälte, beinahe Winter. Sinnlose Gespräche! Unsere Partner verstanden kein Englisch. Die Dolmetscher waren lausig. Immerzu das Gerede von Titan. „Titanium, sagten sie, woran uns nichts lag. Das Casino. Der Nachtclub im Atlantic Hotel. Die wässrige, im fahlen Diskothekenlicht schimmernde Haut der Frauen. „Ukrainerinnen, sagte Boris. Im Hotel die Minibar: leer, eine einzelne Kakerlake, tot oder festgefroren.

    Wodka. Ich hätte mich übergeben heute. Um diese Zeit! Boris und die anderen drängten: „Trink! Trink! Auf dem Tisch in der Kantine die mitgebrachten Gläser mit den Hundert-Gramm-Markierungen. Vier, vor jedem eins, das meine leer. Duty free in Moskau-Domodedowo. „Trink! – „Nein, nicht heute." Wofür die mich halten?, dachte ich.

    Ich drücke die Taste mit der Zahl 13. Der Aufzug beschleunigt; ein Surren, mehr ist es nicht, Gummilager dämpfen die Vibration. Man spürt kaum, in welche Richtung man fährt, nach oben oder unten. Die Kopfschmerzen! Gestern und noch heute Morgen, halbseitig, über dem einen Auge. Ich weiß … ich weiß, was es ist. Das Fieber. Ich greife mir an die Stirn. Kühler Schweiß – Jetzt? – Nein. Über mir tropft die Klimaanlage. Ich blicke auf die Uhr: 13.27. Die goldene Constellation, Geschenk meines Vaters zur Promotion, Wien 1993. Das entspiegelte Saphirglas wirft einen regenbogenartigen Lichtreflex gegen die Kabinenwand. Die Seele eines Verstorbenen.

    Es ist spät, der Nachmittag hat schon begonnen. In den Büros der ACIM Technical Solution GmbH, den Gängen, den Pausenbereichen, den Sitzungszimmern ist es ruhig. Angenehme, gedrosselte Geschäftigkeit erfüllt die Räume. Als säße irgendwo einer, ein Regisseur, der gesagt hat: „Ruhe jetzt!" Nur die Kopiermaschinen rattern von Zeit zu Zeit; die Xerox in meinem Stockwerk.

    Ich ziehe den Ärmel über das Armband der Uhr, bis zur Daumenwurzel. Ich habe das Bild meines Vaters vor mir. Die Uhr meines Vaters verschwindet unter der Manschette. Mein Vater ist verschwunden. Wohin? Das Gebäude, in dem er gearbeitet hat, hat man abgerissen. Es hatte einen Namen, aber ich erinnere mich nicht. Meine Schwester und ich, wir waren Kinder. Manchmal denke ich: Wie war das eigentlich? Zu seiner Zeit, vor fünfunddreißig Jahren: Arbeiten? Ohne Computer und Mobiltelefone. Die ersten Kopiermaschinen kamen 1982 – die Rank Xerox. Es hieß, sie habe Millionen gekostet. Millionen? Unvorstellbar war das. Wir Kinder legten unsere Gesichter auf das Glas. Der Laser strich uns über die Haut. Ein verbotener Schmerz, angenehm und betäubend. Die Sicherheitsmaßnahmen waren lächerlich.

    Im Spiegel, das bin also ich. Man könnte glauben, ein Arm, der rechte, wäre länger, und auch sonst wären die Größenverhältnisse durcheinandergeraten: ein Bein kürzer, die linke Gesichtshälfte größer, sie sieht geschwollen aus; wie von einem Unfall, einem Hieb ins Gesicht. Ich drücke die Schultern nach unten, als fürchtete ich schon den nächsten Schlag eines unsichtbaren Gegners.

    Aber ich sehe ja lächerlich aus! Ich muss an Pauls Sohn denken, Konrad, den Sechzehnjährigen mit Trisomie 21. Meine Schwester und ich, wir schrecklichen Kinder, hätten geschrien: „Mongo!" Konrad trägt Pauls alte Anzüge; knöchellange Hosen, in denen der rotgesichtige Junge an Marcel, den finnischen Clown, erinnert. Oder hieß der anders? War Marcel am Ende kein Clown? Und überhaupt: Ein finnischer Spaßmacher? Aber mir kommt ein seltsamer Gedanke: Ich, ich jedenfalls wäre vielleicht gerne ein Clown; nicht der, der ich bin, der im Spiegel – ein Schiffskapitän, Soldat in prächtiger Uniform, Offizier, Priester oder Schauspieler, Zauberkünstler wie Magic Christian. Ich bekomme sogar ein wenig Lust, herumzublödeln; Grimassen zu schneiden. Wann habe ich das letzte Mal eine Grimasse geschnitten? Oder jemandem die Zunge gezeigt? Den Mittelfinger ausgestreckt? Aber in der Kabinenwand sind Mikrofone, in den Deckenpaneelen ist eine Kamera eingebaut. Die Aufzüge werden seit dem Auffliegen einer Betriebsspionage überwacht. Jemand säße im Keller, würde mich am Bildschirm beobachten. Was ich tue, was ich sage, jede Geste, jeder Blick würde aufgezeichnet. Mir blieben nur die Gedanken, die doch frei sind, sagt man. Nach achtundvierzig Stunden würden die Bänder vernichtet. Natürlich behält man sie länger. Alles andere ergäbe keinen Sinn. Wo steckt die Kamera? Im Spiegel? In den Lichtleisten? Verborgen hinter dem milchigen Plexiglas? Ich nehme jetzt eine andere, eine gleichgültige Pose ein, und ich lehne mich, gleichsam als Provokation, lässig gegen den Handlauf und streiche über das silberne Bedientableau, das – wie kann es auch anders sein? – sich anfühlt wie Haut.

    Bis nach oben sind es vierzehn Stockwerke. Ich betrachte die Blindenschrift auf den Tasten. Das Logo des Herstellers. Schindler steht da. Und eine Tafel mit der Warnung: 800 kg Maximallast. Ich stelle mir vor: zehn Personen oder mehr dicht gedrängt auf vier Quadratmetern. Die digitale Standortanzeige: dieser umgekehrte Countdown, der mich immer an den Start einer Rakete erinnert.

    Obwohl niemand zusteigt, hält die Kabine in der siebten, der neunten und in der elften Etage. Irgendwelche Leute haben den Rufknopf gedrückt, dann sind sie doch zu Fuß gegangen. Aber niemand, den ich kenne, benutzt die Treppen. Die Wege dorthin sind alarmgesichert.

    Vom Stiegenhaus sehe ich bloß einen Ausschnitt, wie der Blick durch ein Fenster. Sobald sie öffnet, rücke ich automatisch einen Schritt von der Tür weg. Aber da ist niemand; und ganz bestimmt hält sich auch im toten Winkel keiner versteckt. Man würde es spüren. Und doch stelle ich mir jedes Mal vor: Jemand würde sich im letzten Moment noch in die Kabine zwängen. Die Tür wäre einen Augenblick blockiert, und die Person, wahrscheinlich ein Mann, steckte fest, so lange eingeklemmt, bis der Berührungssensor die Tür noch einmal öffnen würde. Die Person würde sich bei mir für die Verzögerung entschuldigen, die drei, vier Sekunden. Ihm und mir wären sie wie eine Ewigkeit erschienen. Ich würde zuerst nichts darauf sagen, mit der Schulter zucken, allenfalls höflich nicken und auch in der Folge ein Gespräch vermeiden. Die Kabine (als hätte eine unbekannte Mechanik erst noch seine Entschuldigung abgewartet) würde sich daraufhin wieder in Bewegung setzen, natürlich, als wäre gar nichts geschehen. Und es ist wahr. Nichts ist geschehen.

    Aber der Aufzug könnte beschädigt sein und, wenn nicht sofort, so doch ein anderes Mal zwischen zwei Etagen anhalten. Der Fremde, den ich vom Sehen flüchtig kennen würde, und ich, wir wären vielleicht schon im nächsten Moment eingeschlossen. Wer weiß, wie lange es dauern würde, bis die Feuerwehr käme und uns aus dieser Lage befreite. In der Abteilung wäre deswegen eine Aufregung wie selten zuvor; das meiste übertrieben, wie Schulkinder in Ferienlaune. Sirenen, das Fußgetrampel in den Gängen, Männer in schweren Stiefeln und olivgrüner Schutzbekleidung, die mit dem Brecheisen oder einer Axt die Tür aufzwängen. Es wäre laut und überall im Gebäude wüsste man über „die Eingeschlossenen" Bescheid, zerbräche sich den Kopf über uns, und es wäre bestimmt schrecklich, Gegenstand einer solchen allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein.

    Aber am meisten würde mich der Gedanke quälen, von uns Gefangenen wäre einer gezwungen, in der Kabine seine Notdurft zu verrichten. Die andere Person – wie wenn uns dieselben Überlegungen beschäftigten – benähme sich wie ein Eindringling. Und in seinem Verhalten würde sich ein wenig von der Angst offenbaren, etwas getan zu haben, das falsch sei, das bestraft werde, für das er verantwortlich gemacht werde. Und zwar nicht vor dem Gesetz, sondern vor dem Schicksal. (Denn im Grund wäre es ja einfach nur Pech, das Im-Aufzug-Steckenbleiben, wofür niemand etwas kann.) Der Mann wäre außerdem kleiner als ich, eine Kopflänge oder mehr. Schon deswegen empfände ich eine Mischung aus Mitleid und Geringschätzung ihm gegenüber. (Sind nicht alle Führungskräfte der ACIM großgewachsen, außerdem schlank? Eine Art Garde in schwarzen, grauen oder dunkelblauen Anzügen?)

    Zugleich beschäftigte mich die Sorge, es könnte sich um einen Spion (wie vor einem Jahr in dieser Ungarnsache, ein einziger und kaum verständlicher Zeitungsartikel dazu war erschienen – „Ist ihnen passiert", sagte Paul) oder gar einen Attentäter handeln, sodass, wenn er sich mir vorstellte, ich mir für mich selbst einen falschen Namen überlegen müsste – Noah oder Konstantin.

    Während ich über alles das nachdenke und mir den Kopf zerbreche, fällt mir das Manager Magazin ein, das seit einigen Tagen, vielleicht Wochen, aufgeschlagen auf Pauls Schreibtisch liegt. Diese eine, offenbar besondere Ausgabe hat den Titel: Ich bin stark und du bist schwach. Ich wollte Paul schon längst darauf ansprechen, was es damit auf sich hat; der Titel, die Zeitschrift, die Tatsache, dass dieses Heft auf seinem Schreibtisch liegt; man kommt gar nicht umhin, sich zu fragen, was er damit sagen will. Heute nicht, aber ein anderes Mal werde ich ihn fragen.

    Die Person, mein wenig geliebter Mitfahrer, würde vor mir aussteigen. Alles andere hielte ich für unmöglich. Er wäre ja gewissermaßen meine Figur. Meine Erfindung! Wir würden einander zum Abschied einen guten Tag wünschen. Ich – oder wir beide: Wir wären wahrscheinlich froh darüber, wenn uns für eine Unterhaltung dann doch keine Zeit geblieben wäre, dass es nichts zu sagen gegeben hätte, dass wir in stillem Einvernehmen auf Plattitüden verzichtet hätten.

    Im Kopf zähle ich die verbleibenden Stockwerke mit: vier, dann drei, dann zwei. Der Aufzug wurde im letzten Monat erneuert, aber auf einer Tafel neben dem Bedientableau steht immer noch 1974. Wie das alte, verbogene Nummernschild an einem fabrikneuen Auto. Ich rieche den frischen Klebstoff, die neuen, auf Glanz lackierten Holzteile, den getufteten Spannteppich. Paul meint, die Kabine habe den Neugeruch eines Autos, womit er recht hat. Das sei ein Geruch, den er nie leiden habe können.

    Ich mag das minimalistische, klare Innendekor der Kabine. Die gerade Linienführung, den sandfarbenen Boden. Die cádiz- und nicht einfach nur himmelblauen Wände. Den Spiegel – natürlich den Spiegel! Er reicht vom Boden bis zur Decke, man kann seine Schuhe darin sehen. Das gerundete Metall der Handläufe ist bakterienabweisend. Wer zum ersten Mal davon erfährt, legt neugierig sofort die Hand auf das Metall, als gelte es, den Unterschied zu spüren. Aber ich weiß gar nicht, worin der bestehen soll, ob man ihn mit den Händen überhaupt fühlen könnte. Besäße ich eine Wohnung mit Innenaufzug, ich würde eine ähnliche Ausstattung wählen. Anna meint, der Gedanke an einen eigenen Aufzug sei komisch. „Was heißt überhaupt komisch, sage ich. – „Dann lieber ein Ferienhaus auf Korčula, sagt sie. – „Aber wozu? Mit deiner Sonnenallergie."

    Ich schüttle den Kopf und wickle dabei den Zahnstocher, den ich mir aus der Kantine mitgenommen habe, in mein Taschentuch. Ich stecke mir das Taschentuch in die Hose. Ich rücke mir Hemd und Jackett zurecht und ziehe die Krawatte straff. Die Spannung am Hals empfinde ich als angenehm. Als werde einem der Rücken gestreckt und der Körper wie ein Bogen gespannt. Derart aufgezogen (wie ein Spielzeugauto) könnte ich sofort wieder an die Arbeit gehen. Und obwohl ich in der Kabine doch kaum einen Schritt nach vorne setzen könnte, stelle ich mir vor zu laufen: Ich laufe geradeaus, stundenlang, in eine Richtung; atemlos, keuchend würde ich mir den Schweiß von der Stirn wischen. Mein Herz pochte in der Brust. Meine Beine wären nach einer Weile tollpatschig und die Bewegungen ungelenk, wie die eines Betrunkenen. Ich erinnere mich an den Zieleinlauf eines Stadtmarathons, genau so erschienen

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