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Die Entleerung des Möglichen: Prosa-Revue
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eBook1.077 Seiten14 Stunden

Die Entleerung des Möglichen: Prosa-Revue

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Über dieses E-Book

Eine Gruppe Passanten findet sich auf der Flucht vor Terroristen in einem Haus zusammen, wird dann von den Kriminellen gekidnappt und in den Keller gesperrt. Dort beschließen die Gefangenen, sich die vor ihnen liegende Nacht mit dem Erzählen von Geschichten zu vertreiben. Zeitrahmen: 1950-2019.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Feb. 2021
ISBN9783753181400
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    Buchvorschau

    Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel

    Intro

    Alles begann verhalten, unbetont, ja, leise.

    Da wandert man also, den Taktgeber im Rücken, im Kopf, im Nacken oder sonstwo, wandert vereint durch Stunden, Tage, Jahre. Das Gedächtnis, das eigene und mit ihm das restliche Ich. Und man duzt einander. Das war nicht immer so.

    Selbstgespräch: Schau nur, was dort hängt? Etwas, das vorher dort nicht gehangen hat… Es sind, so ließe sich vereinfacht sagen, bruchstückhaft permutativ, sowie mehr oder minder pastos eingefärbt - bereits verloren geglaubte ungetrübte Begleitumstände. Jedoch um die soll es an dieser Stelle nicht gehen…Ja, und dann wäre da noch die…Zeit. Sie fliegt und fliegt und fliegt - vielleicht, weil sie Langeweile hat - (kleiner Scherz am Rande (des sichtbaren Spektrums)). Denn, wie ein jeder weiß oder wissen sollte, nicht sie ist es, die vergeht. Wir vergehen. Ich entsinne mich an dieser Stelle aber auch eines Spruchs auf der Puderdose meiner Großmutter: Wenn die Zeit gute Laune hat, streut sie Goldstaub in die Augen des Raumes.

    Fußnote - Und dann die alten, die uralten Fragen, die sterben, wie sie gelebt haben, oft ungeliebt: Wer war man eigentlich, ehe man wurde, was man ist?

    Eine Streulinse? Eine Nacktschnecke? Ein Niob? Ein halb voller Aschenbecher? Eine Luftblase? Ein Schattenriss in der Menge? Ein Volksempfänger? Eine Mumie? Ein fehlender Buchstabe? Eine verpasste Gelegenheit?

    Eine, wie mancher glauben mag, rein karitative Frage. Kann man auch anders sehen - nach dem, was geschehen ist. Auf jener, sagen wir…Reise. Einer langen, umwegigen Reise. Kein Blindflug im Plastiksarg der Gezeiten. Und jetzt, so raunen innere Stimmen, findet sich die Gelegenheit, in der Sache Stellung zu beziehen. Gut, gut, so mag es denn geschehen. Einiges wird wohl ungenau bleiben - doch bei aller Unschärfe - es gilt, gewissermaßen etappenweise, jenes Material zusammenzutragen, welches sich eignet, eine große Leinwand zu kleiden. Und das fallweise, in einem kleinen Reigen handgeschöpfter epischer Passpartouts

    Der neue Tag, noch unbekleidet, meldete sich mit einem zarten Weckruf aus der Kehle des Nichtstuns. Es war ein Tag aus Altsilber, nein, eher ein nasser, ein graulederner, ein verfrühter Vorwintertag, durchzogen von weichen, unpräzisen Nebelstreifen, und die Feuchtigkeit, die sie verströmten, konnte man förmlich riechen. Selbst hier, im Herzbeutel der Stadt.

    Eine Frau mittleren Alters auf dem Gehsteig gegenüber - sie hatte einen weißen Pudel im Schlepptau. Und sie trug eine braune Nerzstola. Und sie war eben einer cremefarbenen Limousine entstiegen, der Pudel, wie Hunde es tun, mit einem raschen Sprung hinterdrein. Der Schritt der Frau wirkte leichtfüßig. Ihre Bewegungen zeigten aber, so mein vorläufiger Befund, obschon geschmeidig im Ablauf, eine gewisse einstudiert wirkende Eleganz.

    Allein, ein Pelz, murmelte ich, während ich mit der interesselosen Gefallsucht eines Hustenbonbons an meiner Zigarre sog, ein Pelz macht noch keine Dame. Warum bewegte gerade diese Szene etwas in mir? Hätte es nicht ebenso gut etwas anderes sein können, ein Schatten auf dem Mars beispielsweise? Ich hatte keine Ahnung.

    Ich betrachtete diese Person, bis sie aus meinem Gesichtsfeld entschwunden war, indessen ich, was mich selber anbetraf, einem vagen Empfinden folgend, weitgehend weltvergessen, der Überlegung nachhing, ob ich wohl für das, was die Zukunft für mich bereit hielt (was immer das sein mochte), vielleicht so etwas nötig haben würde wie eine, wie soll ich mich ausdrücken… Seelen-Diät? Dieser Gedanke, mochte er gleichwohl unbotmäßig sein, ging mit dem Lidschatten eines dunklen Gefühls einher, und das, soviel stand für mich fest, war herzmuskeltief.

    Machen wir einen Ausfallschritt. Nicht, um dem eigenen Zwergen-Schicksal auszuweichen. Auch nicht, um Mitglied des Hosenbandordens zu werden. Vielmehr fallweise introspektiv. Man spürt da sein Eigengewicht. Das meine beträgt an guten Tagen 87 Kilo.

    Das Café übrigens, in dem ich meine Verabredung hatte, lag - wie so manches Glück oder Unglück dieser Erde - gleich um die Ecke. Ich hatte es infolgedessen nicht weit. Und ich schätze es, es nicht weit zu haben. Ja, ich schätze eine gewisse Art von Nähe. Diese Art von Nähe. Ich vermutete, Carl würde schon vor mir da sein. Ich war pünktlich. Carl war, falls der Ausdruck gestattet ist, überpünktlich.

    G. Antheil: Symphony for Five Instruments (Second Version)_ III. Presto - die ersten Takte - das war der Klingelton (ein "Geschenk") Ich holte das Smartphone aus der Tasche. Viola (die Schenkerin) war am Apparat.

    "Wo bist du?"

    "Auf dem Weg… zu einer Verabredung."

    "Mit wem?"

    "Kennst du nicht. Sein Name ist Carl. Carl Vieleck."

    "Und wo?"

    "In einem Café. "

    "Kenne ich das denn?"

    "Ich denke nein. Es heisst Stofinger."

    "Seltsamer Name."

    "Seltsame Fragen… Wir sehen uns, Schatz. Später. "

    "Ja."

    "Also. Bis dahin."

    Ich beendete das Telefonat. Schaute nach oben. Das Wetter änderte sich. Ich schätzte, dahinter verbarg sich gerade keine Navier-Stokes-Gleichung, sondern vielleicht nur eine mittlere Schnapslaune der Schöpfung.

    Ich blickte um mich herum. Vor zwanzig Jahren gab es hier wie andernorts sehr viel weniger Fremde. Es war folglich bunter jetzt, ein kunterbuntes Farbenspiel…Die wundervollste Musik, sagte Carl neulich, sei in den menschlichen Sprachen zuhause. Sehe ich ebenso. Zu guter Letzt aber, auch das darf nicht unerwähnt bleiben, endet alles auf dem Gottesacker. Wäre ich Cherub oder Zauberer, überlegte ich, wäre mir das herzlich egal.

    "Ich habe im Grunde nie recht verstehen können, wie ein Mensch sich anmaßen kann, einen anderen Menschen zu verurteilen."

    "Du meinst, von Amts wegen?"

    "Vorderhand."

    "Und mir will es nicht in den Kopf, wie ein Mensch glauben kann, dass ihm, indem er ein Grundstück auf unserem Planeten käuflich erwirbt, dieses Stück Erde von Stund an als sein persönliches Eigentum betrachten kann. Ist das nicht infam?"

    "Monogam infam."

    "Horch! Hörst du? Die Vögel?"

    "Nein… Warte… Ja, doch."

    "Eine alte Regel besagt, dass man während der Mahlzeit nicht trinken soll."

    Sondern?

    "Danach."

    "Aha."

    "Wolltest du nicht einst die Welt verändern, Castor?"

    "Ja… Und?"

    "Die Welt hat dich verändert, nicht wahr."

    "Das ist wohl richtig."

    "Mein Vater äußerte - als er noch lebte - oft und gerne den Satz: Aus dir, mein Sohn, hätte etwas Großes werden können. Leider besitzt du das Talent, deine Chancen gründlich zu verschlafen."

    "Hm."

    "Von mir heisst es übrigens auch, ich sei eine Steißgeburt gewesen…Wie war das bei dir?"

    "Keine Ahnung. Ich habe, glaube ich, an dem Tag gefehlt."

    Gedächtnis-Protokoll; eines Gesprächs mit Carl… Gesprächsfetzen. Etwas wirr. War es neulich? Gleichviel.

    Sagte ich nicht vorhin, das Café, in dem ich verabredet war, läge gleich um die Ecke? Was aber, wie ich lernen musste, nicht zwingend zur Folge hat, dass man in Kürze an seinem Ziel ist, nicht, wenn sich unangemeldet eine Spalte vor einem auftut. Und das an einem Tag, der wie geschaffen schien für Gruppensex unter Stockrosen oder Ölsardinen.

    Zunächst gab es da einen Schusswechsel. Auf offener Straße. Bleidunst. Lärm. Schreie, Chaos… Tödliches Spiel? Ein Attentat? Ein Überfall? Eine Maskerade? Jemand zerrte mich in einen nahen Hausflur. Eine fremde männliche Hand. Ein bärtiges Gesicht.

    Was mir sofort ins Auge fiel: Der Mensch in dem sandsteinfarbenen Safari-Look, der mich unaufgefordert in den leichenblass beleuchteten Hauseingang manövriert hatte, humpelte auf dem rechten Bein. Ich zeigte darauf.

    "Sind Sie verletzt?"

    "Nein. Stammt von einem Unfall… Als ich elf war."

    "Was geht hier vor?"

    "Keine Ahnung."

    "Und wer sind Sie?"

    "Ein Passant, wie Sie."

    Der Dialog stoppte an dieser Stelle, da zwei brandneue unbekannte Personen die örtliche Bühne betraten. Ein Mann. Eine Frau. Ein Paar, wie ich zunächst anzunehmen geneigt war.

    "Wir sollten besser verschwinden! Und zwar rasch! Sie werden jeden Moment hier sein."

    So sprach der männliche Neuankömmling. Sein Tonfall wirkte unentschieden und hastig. Und er machte, vermutlich angesichts widriger Umstände, keinen sehr entspannten Eindruck. Er schien mir jung, im Dämmerschein des Hausflurs, hatte jedoch kaum Haare auf dem Kopf (oft aber täuschte ich mich in den Menschen, nicht allein, was das Alter anbelangte). Er trug eine Hornbrille. Ich trat auf ihn zu, schaute ihn an, als hätte ich eine Frage. Ich hatte eine Frage.

    "Wer wird jeden Moment hier sein?"

    "Diese Meute. Diese Verbrecher und Mörder."

    "Haben Sie denn die Schüsse nicht gehört?"

    "Doch, ja."

    Es war die Frau, eine zierliche, unruhige Person, die, nicht weniger angespannt als ihr bebrillter Begleiter, zuletzt gesprochen hatte. Meine Erwiderung fiel sparsam aus, denn jetzt öffnete sich abermals die Haustür, (besser gesagt, sie flog, als wäre sie von einem Kinnhaken getroffen, mit einem Stöhnlaut auf) und weitere Gestalten, männlich, wiederum zwei an der Zahl, drängten herein.

    Einen Moment lang dachte ich, dass … doch nein, es handelte sich, wie sich erweisen sollte, nicht um die erwähnten zwielichtigen Subjekte, sondern um Personen, die auf der Flucht waren. Sie wirkten auf mich bidirektional und in Teilen (die Älteren im Publikum werden sich eventuell erinnern) wie Pat&Patachon. Bei dem Kleineren stand, was ich infolge meiner umher wandernden Blicke zufällig gewahr wurde, der Hosenstall offen. War der passende Quellcode dafür Schrecken, Platzangst (¿), Wirrnis, Chaos, Panik? Er sprach jedenfalls mit einem bebenden Unterton in der Stimme. Und das in meine Richtung.

    "Wir müssen einen Ort finden, wo man sich verstecken kan!"

    "Hier? Im Haus?"

    "Natürlich. Raus können wir nicht. Viel zu gefährlich."

    "Wir sollten vieleicht die Treppe nach oben nehmen."

    "Keine ganz so schlechte Idee."

    "Und wir könnten an den Wohnungstüren klingeln."

    "Hat niemand ein Handy?"

    "Ich habe eines."

    Seltsamerweise besaß, wie sich zeigte, nur ich den gefragten technischen Gegenstand. Während um mich herum ein Bienenschwarm an Stimmen nervös durcheinander summte, zog ich mein Smartphone heraus. In der Eile glitt es mir allerdings aus der Hand und fiel zu Boden. Die Unruhe der anderen hatte mich offenbar angesteckt. Ich bückte mich, sammelte das Teil wieder auf.

    "Soll ich… die Polizei rufen?"

    "Unbedingt. Und machen Sie um Gottes Willen rasch!"

    "… Oh, tut mir leid. Das Gerät muss Schaden genommen haben. Es funktioniert nicht mehr."

    "Du lieber Himmel."

    Wir - also jene zusammengewürfelte Schar, die unsere überschaubar kleine Truppe ausmachte - waren mittlerweile auf dem Weg in die oberen Stockwerke. Der Kleinere des männlichen "Komiker-Duos" teilte sich mit der Frau die selbst gewählte Aufgabe, beiderseits an den Wohnungstüren zu klingeln. Aber vergebens. Niemand öffnete.

    "Weiter, Leute, weiter!"

    Der Mensch, der mich vorhin in dieses Gebäude geschubst hatte, war offenbar entschlossen, eine Art Führungsrolle in unserer Gruppe zu übernehmen. Es war dies nicht die erste Anweisung, die, begleitet von einer energischen Handbewegung, von seinen Lippen abhob. Sein dunkler, kräftiger Bariton mochte immerhin für eine solche gehobene Laufbahn geeignet sein.

    "Teufel, was war das?"

    "Das war die Haustür…"

    "Heh! Wer immer da oben ist, kommt jetzt mal schön langsam herunter! Und keine Tricks, verstanden! Wir verstehen nämlich absolut keinen Spaß!"

    Wir blickten einander im halben Dutzend der Reihe nach an. Verunsichert. Verstimmt. Ratlos. Einige ängstlich. Es waren Leute im Haus. Neue Leute. Bedrohliche Leute. Die Männerstimme, die eben von unten zu hören gewesen war, ließ sich kaum denen zurechnen, die dazu angetan sind, einem das Herz zu erwärmen. Was würde als nächstes folgen?

    Zunächst einmal folgte etwas, dass unverhofft einen Funken der Erleichterung, ja, fast schon einen Lichtstrahl der Zuversicht in das sich verdüsternde Ambiente unseres Sechser-Klubs einbrachte …Polizeisirenen. Vor dem Haus schien ein Einsatz-Kommando Position zu beziehen. So hörte es sich für meine Person, die sich der Lösung des Rätsels, was hier eigentlich vor sich ging, langsam ein Stück näher glaubte, jedenfalls an.

    Unterstützt hatten mich dabei auch jene Kommentare aus der Runde, die sich der Frage widmeten, wer dort draußen mit welchen dunklen Absichten unterwegs war. Etwa, um eine Kapuze aus Unheil über unser aller Alltagswirklichkeit zu ziehen? Über eine Welt namentlich, der urplötzlich etwas seltsam Fremdes wie gleichermaßen Unheimliches anhaftete?

    So war beispielsweise das vermeintliche Paar, bevor es sich in dieses Haus geflüchtet hatte, nach eigener Aussage Augenzeuge geworden, wie rabenschwarz vermummte Gestalten mit gezogenen Waffen im Laufschritt die Strasse überquerten, dabei Passanten ins Visier nehmend, um auf diese wiederholt Schüsse abzufeuern. Das zuletzt zu unserem Kreis gestoßene Männer-Duo ergänzte dieses blutrünstige Szenario durch die Beobachtung, dass die Kriminellen (und um solche musste es sich ja wohl handeln) auch versucht hätten, Geiseln zu nehmen.

    "Wann sieht man endlich mal was von euch Wichsern? Wir sind nicht hier, um Plätzchen zu backen!"

    "Hopp, hopp, hopp! Sonst gibt es heute noch massiv Ärger!"

    "Wir tun besser, was sie sagen."

    Der den letzten Satz äußerte, war der Mensch mit dem schütteren Haar, und er äußerte ihn mit unerwartet gelassener Stimme. Er stand nahe bei mir, und ich hatte mittlerweile feststellen können, dass er nicht der junge Mann war, für den ich ihn zunächst gehalten hatte. Aber er hatte ein junges Gesicht, eines, dass mich mit seinen Sommersprossen entfernt an einen Marienkäfer erinnerte.

    "Er hat recht. Gehen wir also."

    Das hätte, in parahistorischer Verschränkung, auch ein Sekundant des Grafen von Monte Christo sagen können, es sagte aber hier&jetzt der Kleinere unseres Männer-Duos, sich dabei liebevoll über sein brikettschwarzes, urwalddichtes, geöltes, an den Schläfen mausgraues, negroid krauses Haupthaar streichend. Er sagte es sonderbarerweise zu mir gewandt. Als hätte ich ihn dazu aufgefordert. Was, bei Wittgenstein, nicht der Fall war. Sein Partner respektive Begleiter hatte bislang noch kaum einen Laut von sich gegeben. Trotz seiner hoch aufgeschossenen schlaksigen Figur besaß er einen Bauch, der, gleich einem runden Schiffsbug, seinem Eigner dominant vorauseilte.

    Im Nachhinein stellte sich immerhin die Frage, ob man nicht besser geblieben wäre, wo man war oder doch wenigstens den Versuch gemacht hätte, einen Notausgang zu finden. Denn das Los, dass unsere verlorene Truppe in der Folge erwartete, bot wenig Spielraum und noch weniger Freiheitsgrade. Man mag ja, in schwermütigen Augenblicken, der Auffassung zuneigen, dass das Schicksal jeden von uns ohnehin in Geiselhaft nimmt, hier verhielt es sich aber ganz simpel so, dass wir Artgenossen krimineller Prägung dafür als Pfand dienten, dass die außerhalb des Hauses in Stellung gegangene Staatsmacht sich abwartend verhielt, jedenfalls vorerst keinen Versuch unternahm, das Haus zu stürmen.

    Man sperrte uns in den Keller. Es gab Licht, aber keine Sitzgelegenheit. Und es schien, als würde uns eine lange, ungewisse Nacht bevorstehen. Über unsere Aufseher ließ sich nicht viel sagen. Sie waren ja maskiert. Und sie blieben, da sie uns ihre Gesellschaft vorenthielten, ohnehin bis auf weiteres unsichtbar; was in unserem Kreis allerdings niemand ernsthaft als Verlust wahrnahm.

    Wie oft war es mir nicht schon widerfahren, dass ich mich gefragt hatte - im Bus, im Flugzeug, im Kino oder im Wartezimmer eines Arztes sitzend - angesichts des Umstandes, einen wenn auch nur kurzen Abschnitt meiner Lebenszeit mit mir unbekannten Personen zu teilen (Personen, denen ich vermutlich nie wieder begegnen würde) wie es wohl wäre, etwas über deren Wünsche, Träume, Hoffnungen, Vorlieben oder Abgründe in Erfahrung zu bringen. Jetzt befand ich mich also an diesem ungastlichen Ort in einer ähnlichen wenn auch nicht unbedingt vergleichbaren Situation und würde vielleicht Gelegenheit haben, dergleichen Allzumenschliches näher in Augenschein nehmen zu können.

    Unfreiwillig zu einer Art Boden-Personal mutiert und vom Unglück in andere Umstände versetzt, fand sich unsere Gruppe trächtig wie einträchtig, die eigenen Jacken oder Taschen als Sitzunterlage nutzend, im Halbkreis zusammen. Wenigstens war es nicht frostbitterkalt. Die Kellerbeleuchtung passte hingegen zur Situation. Sie war spakig und trübe.

    "Schätze, es ist an der Zeit, dass wir einander vorstellen."

    In der Tat war es in den Turbulenzen der zurückliegenden Zeiteinheiten bislang versäumt worden, eben das zu tun. So wurde es auf Anraten des Bartträgers mit dem Unfall-Bein nun also nachgeholt. Den, wie ich es sah, farbigsten Namen trug die einzige weibliche Person unter uns, ein Wesen ungewissen Alters, das von seinem Äußeren her ein wenig verschattet wirkte. Sie hieß Melissa Freudenberg.

    "Wir sollten uns irgendwie die Zeit vertreiben, solange man uns hier im Ungewissen schmoren lässt. Es könnte vielleicht helfen, nicht nach und nach komplett die Nerven zu verlieren."

    Der Beitrag stammte vom Begleiter Melissa Freudenbergs. Im Trümmerlicht der Deckenlampen wollte es mir scheinen, als hätten dessen Sommersprossen vorübergehend das Erscheinungsbild von Blutmalen angenommen. Dabei machte der von der Taille aufwärts leicht übergewichtige Mann mittlerweile einen recht ausgeglichenen Eindruck. Sein Name lautete Arndt Andersen. Er fuhr fort:

    "Wie wäre es, liebe Mitgefangene, wenn wir zu diesem Zweck uns gegenseitig Geschichten erzählen."

    Indem er aus dem Schatten seines überlangen Freundes heraustrat, stellte Hans Pauli, der Kleinere des Männerduos Pat&Patachon die folgende Zwischenfrage:

    "Geschichten? Was für Geschichten?"

    "Das liegt, denke ich, im Ermessen des Erzählers."

    Nach dieser Antwort und einer kurzen Bedenkpause folgten die ersten Reaktionen. Der Giraffenmann, der, wie man inzwischen erfahren hatte, auf den Namen Walter Steinkorn hörte, machte den Anfang.

    "Mein Freund und ich, wir schließen uns dem Vorschlag an, nicht wahr, Hansi?"

    "Soweit keine Einwände."

    "Melissa, du bist ja sicher auch mit von der Partie?"

    "Bin ich."

    "Ich mache ebenfalls mit."

    "Willkommen im Klub, Castor. Bleiben noch Sie übrig, Max."

    "Weiß zwar nicht, wohin uns die Sache genau führen wird. Aber einverstanden. Will mich nicht ausschießen."

    Nach Wortbeiträgen von Arndt Andersen und meiner Wenigkeit bekräftigte der Kamerad mit dem rostroten Vollbart, der sich der Gruppe als Max Kohlmunk vorgestellt hatte, und, wie von mir unlängst vermutet, so gerne "Leader of the Pack" gewesen wäre, seine letzten Worte, die anfängliche Skepsis zurückstellend, mit einem zustimmenden Kopfnicken. Damit war das Vorhaben formell abgesegnet…

    "Verehrtes Publikum, ich bringe, aus gegebenen Anlass, ein - ich nenne es hier mal - kleines Demi-Monde-Epos zu Gehör."

    Mit dieser Eröffnung gab, was ich so nicht erwartet hatte, Walter Steinkorn den erzählerischen Auftakt. Bevor er aber ansetzte, wandte er er sich erst noch - und das in einem komplizenhaften Ton - an seinen Freund:

    "Oder als was würdest du die Geschichte bezeichnen, Hansi?"

    "Ich? Nun… als, ich würde sagen, Räuberpistole."

    Chronochrom

    Kapitel 1

    Als er aufwacht, ist er fünfzig. Die See ist nah. Er hört ihr silbernes Rauschen. Es geht Wind, Nord-Nordwest. Er ist nicht allein. Aber er fühlt sich so. Constanze ist sicher vor ihm aufgestanden, um etwas vorzubereiten, um ihn zu überraschen. Er streckt die Beine im Bett. Sie schmerzen. Er macht sich nichts aus Geburtstagen. Schon als er noch Kind war, war das so. Er hat nie eine Party gegeben. Jedenfalls kann er sich an keine erinnern. Ein Vogel fliegt wie etwas Fremdes am geöffneten Fenster vorbei. Es ist keine Möve. Ihn friert.

    Die Läden haben heute geschlossen. Weil Sonntag ist. Es ist noch nicht spät. Wer schläft noch? Es scheint, als atme die Zeit, verkehrt herum ausgestreckt, mit schlaffen Wangen. Ein Wachtraum? Im Ort läuten keine Kirchenglocken. Haben sie je geläutet? Er dreht sich auf die andere Seite. Sein Kissen ist nass.

    Manche Tage, von denen man glaubt, sie könnten schlimm werden, werden das gar nicht. Andere dagegen sind bereits so geboren. Dieser Gedanke kommt ihm nicht, er ist ihm quasi eingeflüstert worden, gestern, kurz vor dem Einschlafen, während auf Gräsern, Steinen und Laub noch letztes mondsüchtiges Licht lagerte, das in Perlschnüren erlosch, ehe flüsternde Stimmen darüber hinweg gingen.

    Er hatte sich zeitig hingelegt. Constanze war zu den Nachbarn gegangen. Sie wusste, er fühlte sich nicht. Und sie wusste ebenso, dass ihm nicht nach Gesellschaft zumute war. Sie hatten nachmittags gemeinsam einen ersten Spaziergang gemacht, am Wasser, nicht für lange, denn es stürmte. Es gib keine Fischernetze mehr dieses Jahr entlang der Küste. Das fiel ihm sofort auf. Wahrscheinlich ein Opfer, dachte er, das man den Touristen gebracht hat.

    Sie trug, als sie einander zum ersten Mal begegneten, weiße Schuhe mit Pfennigabsätzen, sie ließen ihre Waden hervortreten, es machte ihre sanft gebräunten nackten Beine noch begehrenswerter. Es waren perlweiße Schuhe, vorne offen, man sah die rot lackierten Nägel ihrer Zehen. Auch die waren begehrenswert. Alles an ihr war begehrenswert. Er sieht das, obwohl es lange vorbei ist. Er schließt die Augen. Die innere Zeit. Sie fließt so anders.

    Er fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Sie fühlen sich rau an. Er schließt den Mund. Er schließt das Fenster. Ich sitze, denkt er, gleichsam in einer geschlossenen Welt. Er wird sich jetzt bald in Bewegung setzen und hinuntergehen in den großen Wohnraum. Alles wird vorbereitet sein, alles wie gewohnt. Er empfindet Freude bei dieser Vorstellung. Aber das ist nur ein Gefühl unter vielen. Er bräuchte Stauraum für seine Gefühle und eine Ablage für seine Gedanken. Er denkt kurz an Scylla, denkt es beiseite. Sein Atem bleibt flach. Sein Herz tickt diskret. Er geht ins Bad. Sie haben dieses Jahr ein geräumiges Ferienhaus mit zwei Ebenen gemietet. Es könnten mühelos mehrere Familien darin Platz finden. Es hat eine feste Garage, einen Kamin, liegt ein wenig im Hinterland und unweit der nächsten Ortschaft. Das Dach decken rote Schindeln, das Haus ist aus weiß verputztem Stein. Es besitzt Schwere. Wilder Ginster wächst im Vordergarten. Der Rasen, den es auch gibt, ist verbrannt. Man habe bereits sonnenreiche Tage gehabt, so hörten sie es von den Nachbarn, die regelmäßig hierher kommen wie sie, jedoch üblicherweise länger bleiben.

    Der Mann im Haus nebenan, ein Brite, war vormals Geschäftsführer einer Firma für Segler- Bedarf. Seine Frau ist klein, quirlig und Westfälin. Beide haben aschgraues Haar und keine Kinder. Beide sind gut zehn Jahre älter als Constanze und er. Für sie sind es kategorisch ‘Die Alten’ von nebenan, was ein wenig übertrieben erscheint. Man grüßt einander höflich, trinkt auch schon mal abends im Freien ein Glas Wein. Als der Nachbar vorvergangenes Jahr in Pension ging und aus diesem Anlass zu einem Abendessen lud, kam man etwas ausführlicher miteinander ins Gespräch. Die Frau kocht sehr ordentlich. Ihr Gatte sagte zwischenzeitlich beim Essen:

    "Man ist vielleicht irgendwann oben, aber man bleibt nicht dort."

    Dieser schmale Satz, nicht bitter, eher mit Gleichmut ausgesprochen, ist Oskar irgendwie haften geblieben.Vielleicht deshalb. Oder weil er im Englischen metallischer klingt.

    Die Nachbarin, so eine Randnotiz zu vorgerückter Stunde, arbeitete dereinst als Tänzerin. Man sieht es ihr nicht mehr an. Und sie war, wie sie mit einem Pas-de-deux-Lächeln ihrer Mundwinkel preisgab, in erster Ehe mit einem Spion verheiratet, mit einem Ostspion. Sie erzählte davon, als schildere sie ein Kochrezept, Sie selbst habe zeitweise auch ein kleines bisschen spioniert, doch sei ihr nichts passiert, ihr Mann dagegen wäre im Gefängnis gelandet.

    "Und was ist Ihr Geheimnis?"

    "Oh, ich glaube…also, ich wüsste jetzt gerade… gar keines."

    Die Frage der Extänzerin und Exspiongattin richtete sich an Constanze. Oskar erinnert sich an den Ausdruck im Gesicht seiner Frau. Etwas wie parasexuelle Schamröte gepaart mit sanftem Bedauern lag darin. Man trennte sich an jenem Abend fast freundschaftlich, was sich in der Folge wieder etwas verlor. Es sind immerhin nette Leute, ihre Nachbarn, nur eines störte Oskar von Anbeginn: Der Mann mäht jeden zweiten Tag das Gras im Garten hinter dem Haus, mit einem kreischenden, stinkenden Rasenmäher. Er müsste es gar nicht. Jedoch tut er es trotzdem. Constanze nahm ihn zunächst dafür in Schutz. Dann jedoch störte es sie eines Morgens ebenfalls.

    An diesem Wochenende herrscht Ruhe. Es wird nicht gemäht. Der Elektromotor des eitergelben Monsters ist offenbar defekt. Die Maschine steht vor dem Schuppen, und der Nachbar bastelt daran herum. Er flucht stellenweise laut, und plötzlich setzt er sich in seinen Wagen und fährt davon. Oskar beobachtet das vom Badezimmer aus, das neben den Schlafräumen liegt und ein Fenster hat. Weinranken wuchern am Fensterkreuz. Das sieht man hier in der Gegend eher selten. Oskar nimmt einen Schluck Wasser aus der Leitung. Er hat einen trockenen Hals. Das Bad ist riesig wie alles im Haus. Er bleibt darin länger als gewöhnlich.

    "Das, was du gesagt hast, hat mich verletzt."

    "Das sollte es."

    Sie haben sich gestritten, auf der Herfahrt. Es war ein heftiger, ein böser Streit. Constanze wollte schon aussteigen, sich auf die Bahn setzen und heimkehren. Sie ließ, nur weil Oskar einlenkte, von diesem Vorhaben wieder ab. So stellte sie es dar. Sie haben den Streit nicht begraben, sie haben ihn lediglich mit trockenen Zweigen notdürftig zugedeckt. Die letzten hundert Kilometer sind sie offen gefahren, Oskar wollte es so, obwohl es nicht sehr warm war und Constanze kein Kopftuch dabei hatte. Sie beklagte das, aber er setzte sich durch. Letztes Jahr haben sie den Urlaub getrennt verbracht. Sie brachen eine eherne Regel, die Regel, jeden Sommer gemeinsam an die französische Atlantikküste zu fahren.

    Er sieht eine Bildseite aufklappen, eine Bild-Doppelseite: Ein Badeort, der wie ein langer, buckliger Schatten daliegt. Ein Strand, der etwas Ödes hat. Steine, die uralten Staub ausschwitzen. Kein Lüftchen zittert. Keine Knospe liebkost diesen Nachmittag. Er ist in die Kirche eingetreten, auf der Suche nach Abkühlung und möglicherweise nach etwas anderem noch, von dem er nicht sicher weiß, was es sein könnte.

    Als er vorhin im Hotel die Treppe hinabstieg, folgte ihm ein junges Pärchen. Und überholte ihn. Man grüßte ihn nicht. Der Junge lachte. Das Mädchen kicherte. Unten blieben die jungen Leute kurz stehen und küssten sich. Er fing einen Blick auf, den des Mädchens, er ging spöttisch durch ihn hindurch, es traf ihn in Höhe der Leiste. Oskar beschleunigte seinen Schritt. An diesem Morgen musste man die Treppe benutzen, weil der Aufzug außer Betrieb war.

    Im Innern der Kirche sah er eine Greisin, sonst niemand. Sie kniete vor einer Bank und hielt die Hände gefaltet. Sie trug ein braunes Kopftuch. Es klebte an ihr wie Packpapier. Und ihm war, als wäre Braun die einzige Farbe dieses Tages. Er verließ das Gotteshaus ohne innere Einkehr. Machte es Sinn, weiter durch den Ort zu ziehen? Er hätte sich noch hinunter an den Strand begeben können. Doch schreckte ihn die Leere dort. Und seine Füße flüsterten ihm etwas zu von: Pause machen. Es war ein Uhr. Er würde sich in der Nähe ein schattiges Café suchen.

    Er hatte Abstand gewinnen wollen, deswegen war er nach Biarritz geflüchtet. Er hatte ihn gefunden, aber anders als gedacht. Der Einfall, diesen Ort zu wählen, war nicht der seine gewesen. Er hatte zu jener Zeit keine Einfälle. Zuhause, kurz vor seiner Abreise, war zweierlei geschehen: Er hatte sich entschlossen, vorübergehend aus der gemeinsamen ehelichen Wohnung auszuziehen und war dabei unerwartet auf etwas gestoßen, das ihm streckenweise so etwas wie Richtung und Inhalt gab für sein ziellos vagabundierendes Denken. Man konnte es, wie er im Nachhinein befand, als die Fabel des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes bezeichnen.

    Oskar hat seine Morgentoilette beendet. Er löscht das Licht, das er versehentlich einschaltete, als er das Bad betrat, und ebenso die Bilder des letzten Sommers, die begonnen haben, seinen Kopf zu fluten. Er wird nach unten gehen. Er wird sich nicht erst ankleiden, sein Morgenmantel genügt. Es ist keine Nachlässigkeit. Es ist eine Art Urlaubs-Angewohnheit. Außerdem, er hat ja Geburtstag.

    "Alles Liebe und Gute für dich und dein neues Lebensjahr!"

    "Danke, Stänzchen."

    Er nimmt ihre Umarmung entgegen. Sie hat schon unten an der Treppe gestanden und gewartet. Kerzen brennen. 2 x 25 weiße und rote Kerzen. Der Tisch ist geschmackvoll gedeckt. Sie hat überhaupt einen guten Geschmack. Constanze hat die Vorhänge zugezogen, vermutlich damit die Kerzen eine Chance haben gegen das gleißende Tageslicht. An einer undichten Stelle dringt ein Streifen Morgensonne hindurch. Es ist, als käme er von einem anderen Stern.

    Sie trägt ihr rapsgelbes Sommerkleid und das weißblonde Haar offen. Es hat nicht mehr ganz die Weichheit von früher, aber immer noch die alte Fülle. Sie hat Lippenrot aufgelegt und duftet nach dem Parfüm, das er an ihr am liebsten hat. Sie lächelt, er setzt sich.

    "Geht es dir besser? Hast du einigermaßen gut geschlafen?"

    "Danke. Du hast ja sogar schon frisches Backwerk geholt!"

    "Und Milch. Und Honig."

    "Sehr schön… Dabei wäre das ja doch eigentlich meine Sache gewesen."

    Er fährt, wenn sie hier Ferien machen, allmorgendlich zur Boulangerie im Ort. Seine Frau schläft für gewöhnlich länger als er. Sie haben getrennte Schlafzimmer. Manchmal macht er unterwegs Halt bei einem Bauern, um frische Eier zu kaufen. Er nimmt dazu das Fahrrad. Er liebt es, zwischen den blumenbestickten Wiesen zu radeln, ganz früh am Morgen, wenn noch Tau auf den Gräsern glänzt, oder durch die zarten, weißen Bodennebel warmer Tage, denen Regen vorausging. Man kann Pferde auf der Weide beobachten und Raubvögel unter dem Himmelsblau. Heute also war sie es, die mit dem Fahrrad losgefahren ist, um das Nötige einzukaufen. Er dachte sich das natürlich irgendwie. Es ist kein stochastisches Ereignis.

    Selbstverständlich frühstücken sie nicht innerhalb des Hauses, sondern setzen sich, nachdem er seine Geschenke ausgepackt und die Kerzen ausgeblasen hat, auf die breite Terrasse. Das mit dem gedeckten Tisch drinnen geschah jetzt nur wegen der besonderen Atmosphäre. Er hilft ihr beim Heraustragen und kümmert sich um die Eier. Er kocht sie auf den Punkt, ohne Uhr.

    Darauf versteht er sich. Ein Geschenk hat er gleich umgelegt. Es ist eine dünne Halskette aus Silber mit einem Stein. Es ist ein schwarzer Onyx. Er hatte schon einmal einen solchen und hat ihn dann leider beim Baden verloren. Constanze hat ihrer Gabe ein paar reizende Zeilen beigelegt.Als sein Blick darüber hingleitet, rührt es sein Herz. Sie hat eine sehr saubere Handschrift, die sich leicht nach links neigt.

    Sie sprechen zunächst wenig. Üblicherweise liest Oskar beim Frühstück die Morgenzeitung. Es gibt hier keine deutschsprachigen Zeitungen, dafür englische. Er kauft stets zwei Exemplare, eine für den Nachbarn, die er ihm für gewöhnlich vor die Haustür legt. Heute fällt die Lektüre allerdings aus. Constanze hat vergessen, das Druckwerk mitzubringen. Er beschwert sich jedoch nicht. Das zweite Geschenk, das sie ihm gemacht hat, ist ein Büchlein für persönliche Aufzeichnungen. Es hat einen blauen Ledereinband. Oskar hat einmal in einem Nebensatz davon gesprochen, er denke daran, wieder Tagebuch zu führen, so wie früher, zur Schulzeit. Constanze hat es sich gemerkt.

    "Es geht dir immer noch sehr nah, stimmt’s?

    "Ja, Stänzchen, das stimmt."

    Sie hat Recht. Der Tod der Katze… Er hat unruhig geschlafen. Er trauert. Und die Trauer ist ihm in den Schlaf gefolgt. Scylla ist erstickt. Sie ist gerade einmal vier Jahre alt geworden. Das Tier hatte bereits seit Tagen Probleme mit der Atmung gehabt. Dann verschlimmerte sich ihr Zustand kaskadisch. Man konnte nichts tun. Oskar war verzweifelt. Es war Sonntag. Er war allein zuhause. Er wollte mit ihr in die Tierklinik. Es war zu spät. Es ging alles zu rasch. Während er bebend den Leib des Tieres hielt, kämpfte dieses wehklagend, aber tapfer mit rasselnden Atemstößen um sein Leben, doch es kämpfte vergebens.

    Kleine Schneeflocke, murmelte er, schmilzt du...? Ja, sie schmolz. Unter seinen unruhigen Händen. Nach einer letzten Zuckung sank sie in sich zusammen, ruhte nun still, erlöst, das Haupt auf den weißen Vorderpfoten. Er wollte es nicht wahrhaben. Kein Blick mehr aus ihren leuchtend großen Augen, niemals mehr ihr leise raunendes Mauzen, ihr dunkles Schnurren, ihr anschmiegsamer Leib.

    Das liegt nun gut eine Woche zurück. Oskar trinkt einen Schluck Café au lait. Er hält die Tasse, als hielte er sein Schicksal, mit beiden Händen. Es wird langsam warm auf der Terrasse. Ein Duft von Ginster und Heide reist mit dem Wind. Nebenan fährt ein Auto vor. Es ist der Nachbar. Er steigt aus, winkt kurz herüber. Sie winken zurück. Dann öffnet er die Tür zum Kofferraum und wuchtet etwas Schweres ins Freie. Es ist ein Rasenmäher.

    "Siehst du das?"

    "Ja...Warum hat er den nur mitgebracht? Er hat doch schon einen."

    "Der andere ist defekt."

    "Ah ja?"

    "Er muss sich diesen irgendwo ausgeliehen haben, dieser Verrückte."

    Oskar setzt die Tasse ab. Sie klirrt heftig, als er das tut. In Constanzes Augen steht, als hätte sie das Ausknipsen vergessen, noch immer ein Fragezeichen. Besser, sie verlassen bald das Haus.

    Die ersten Jahre haben sie ihre See-Urlaube auf der Höhe von La Baule verbracht. Dort hatten sie ein kleineres, einfaches Domizil, das aber ganz und gar für sich lag. Dann beschlossen sie irgendwann, weiter südwärts zu urlauben, der Natur wegen, die sich hier wilder zeigte. Oskar fasst sich an die Nase, die von der Sonne gerötet ist. Eventuell, überlegt er, war das ja doch keine so brillante Idee.

    Anruf aus London. Es ist David, ihr Sohn. Er ist neunzehn und überrascht mit der Ankündigung, er überlege sich, das zu werden, was der Vater ist, Architekt. Seltsam. Neulich wollte er noch Rockmusiker werden. Er ist auf Besuch bei einem Freund in der britischen Hauptstadt. Er erkundigt sich, ob bei ihnen alles in Ordnung sei? Er sagt, ihm selbst gehe es gut. Good is not good enough. Oskar ahnt, dass er Geld braucht. Er fragt diskret nach und findet seine Ahnung bestätigt. Er wird David eine Geldanweisung schicken. Constanze spricht dann mit ihm, etwas länger als Oskar. Der steht auf, trägt das Geschirr ins Haus. Man könnte eine Radtour machen, denkt er, obwohl seine Frau, wie er vermutet, einen Tag am Strand vorziehen wird. Aber heute hat er drei Wünsche frei.

    Oskar leert in der Küche den Abfalleimer und trägt die volle Tüte durch den Vordergarten zum Müllcontainer. Er sieht gewohnheitsmäßig nach der Post. Es ist, wie nicht anders zu erwarten, nur Werbung gekommen. Einen Moment bleibt er unter der hohen alten Zypresse stehen, die vor dem Gartentor ihren Schatten wirft. Es wird heiß werden. Es ist Ende Juli. Er kehrt langsam ins Haus zurück. Wie oft ist er diesen Weg schon gegangen? Wie viele Schritte, seit Constanze und er erstmalig hierher gekommen sind? Eine Zahl, sanft ansteigend, unterwegs zu Googol?

    Sie lagen unter Bäumen. Er auf dem Rücken, sie auf dem Bauch. Sonnenboten spähten durch dichtes Blattgrün. Wind murmelte im Laub. Lichtreflexe schmiegten sich in die Höhlung ihrer Kniekehlen. Es kam alles zusammen. Die Natur, die Liebe und ein Gefühl geschenkter Zeitlosigkeit. Sie sprachen nicht, hielten einander an der Hand. Sie wusste nicht, was er dachte. Hätte sie es gewusst, hätte sie sich erschrocken. Am Vortage hatte er mit dem Gedanken gepokert, sich abzuschaffen. Eine blasse Kopie davon machte jetzt noch einmal die Runde durch seinen Schädel. Doch er war glücklich für den Augenblick. Zweimal am Tag, räsonnierte er, bin ich ohne Mut, zweimal am Tag schöpfe ich Hoffnung.

    Sie machen die Radtour, kürzen sie aber ab. Der Tag bringt Hitzekämme. Selbst nach Einbruch der Dunkelheit ist es weiterhin drückend heiß. Es gibt einen Ventilator im Haus. Aber der ist defekt (wie der Rasenmäher des Nachbarn). Schade. Man hätte jetzt gut einen heilen gebrauchen können. Tief in der Nacht schreckt Oskar aus dem Schlaf auf. Er hört eine Tür im Wind schlagen. Auf einmal ist ihm merkwürdig bang.

    *

    Wasser sprudelte, um Lumpen herum, über den Rinnsteinen der Stadt. Die Häuser standen so eng beieinander, als frören sie, sie standen da in ihren verwaschen mausgrauen Einreihern, schläfrig, und verströmten einen verrauchten, leicht süß parfümierten Duft, der noch der eben abgeträumten Nacht entstammen musste.

    Als er aufwachte, war er fünfzig. Das war am Ende nichts Besonderes. Dennoch, dieser späte Morgen tickte wie ein Nachruf zum Fenster herein, das offen stand. Ein Rest an Schlaf rollte über seine Augenlider ab. Der große Zeiger der Uhr zog an der Elf vorbei. Das Wetter zeigte sich wechselhaft. Im Radio liefen die Nachrichten, und eine tiefe männliche Stimme meldete Unruhen in Algerien. Er hatte vergessen, das Gerät auszuschalten, gestern Abend.

    Oscar von der Höh ging, als er ins Bad ging, barfuss. Er fand seine handgenähten Hausschuhe nicht. Er musste sie verlegt haben. Oder hatte er sie, im Blindflug verflossener Stunden, aus dem Fenster geworfen? Wenn ja, waren sie vielleicht jetzt zwei Sterne Erster Ordnung.

    Auf dem Weg durch den Flur fiel sein Blick auf einen Brief, den jemand unter der Wohnungstür hindurch geschoben hatte. Das war hier immer so, wenn Post kam. Er hatte keinen Briefkasten. Er hob den Brief auf und legte ihn, ungelesen, auf die Kommode. Er schaute nicht einmal auf den Absender. Das konnte warten, wie manches andere.

    Jemand hustete im Treppenhaus. Er zuckte leicht zusammen. Ein notorischer Reflex. Doch musste er heute nicht fürchten, dass, wenn es klingelte, auf der anderen Seite der Tür der Mann stand, der die Kuckucks klebte. Nicht nur, weil Sonntag war. Er hatte seine Adresse gewechselt, und er hatte sie gründlich gewechselt. Er befand sich sozusagen in einer neutralen Zone, er befand sich im Ausland. Trunkenheit am Steuer plus Fahrerflucht. Ein halbes Jahr eingesperrt. Und nicht lange, nachdem er aus der Haft entlassen war, saß er bereits erneut in der Falle… War er abermals flüchtig? Oder noch immer? Man konnte das so sehen. Und gewisse Personen sahen das sicher so.

    Jeder, stellte er für sich fest, hat eine Lebenslinie, die er nicht überschreiten sollte. Das Problem ist indessen, sie zu kennen. Er bezog den Gedanken nicht auf die monetäre Seite seiner Lage, die verheerend war. Nein, der Gedanke kam lediglich als eine Art Windbö daher, ohne festes Ziel. Er schaute kurz aus dem Fenster. An diesem Ort schien alles anders, außer es regnete. Denn regnete es, konnte, fand er, selbst Paris trübsinnig wirken. Die Erfahrung machte er, als er hier eintraf. Die ersten sieben Tage schüttete es nämlich ohne Pause. Es war seine Hotelgast-Periode. Es war tief im November…

    Sein erster Gang führte ihn morgens für gewöhnlich zur Boulangerie um die Ecke. Ein frisches demi baguette zum Kaffee. Mit das Angenehmste, fand er, was man sich für den Tagesauftakt wünschen konnte. Seine irdische Existenz hatte unerwartet (unerwartet für ihn) eine gewisse Ordnung sowie einen veränderten Rhythmus angenommen.

    "Ich rate Ihnen: Regeln Sie endlich einmal Ihre Angelegenheiten:"

    " Ja, vielleicht, wenn es die letzten sind."

    Das war ein Schlussdialog, der sich unvermittelt in seine Erinnerung schlich, ein Dialog, gewechselt an einem anderen Frontabschnitt.

    Oscar legte den Kamm beiseite und bleckte die Zähne, während er einen prüfenden Blick in den Spiegel warf. Komme mir vor, murmelte er düster, wie Pippin der Ältere. Er verließ das Bad. Gleichmut rann durch seine Adern. Ich könnte, dachte er, die Welt mit den Augen eines Zoologen betrachten, für eine gewisse Zeit. Er summte galaktisch lautlos vor sich hin, einen selbst verfassten Zweizeiler:

    Bin kein kleiner Junge mehr.

    Bin fast tausend Jahre schwer.

    Er streckte seine Finger. Es war eine Weile her, dass er sein Geld mit Pianospiel verdient hatte. Er betrachtete seine Hände. Es waren schöne Hände. Das bestätigten ihm nicht allein die Frauen. Er lächelte. Ihm schien, sie hätten neuerdings Ringe, seine Finger... Jahresringe. An einem hatte kürzlich noch ein Ehering geglänzt. Er hatte ihn, bei der Überfahrt nach New York, in einem Ansturm ethanolgetränkter Tollwut über Bord geworfen. Wie könnte, überlegte er, ein Steckbrief seiner Persona ingrata lauten? Mann mittleren Alters, kein Einkommen, keine Aussichten. Not Wanted.

    Er kleidete sich an. Wie üblich schlüpfte er in einen seiner zwei Anzüge. Heute war es der hellgraue, dazu passend die rauchgrauen Lederschuhe, aus Echsenleder, eine Kostbarkeit aus der Schweiz, handgefertigt. Zuvor bürstete er ausgiebig, ebenfalls aus Gewohnheit, beides, Anzug wie Schuhe. In diesem Punkt herrschte bei ihm strenge Sorgfalt.

    Fügung ist die Gouvernante des Zufalls oder umgekehrt. Was war es in seinem Fall? Er hatte seit neuestem die Möglichkeit, sein still gelegtes Talent zu reanimieren. Er hatte einen Kontakt knüpfen können, beiläufig, in einer Brasserie ganz in der Nähe, mit einem Ungar namens Attila Ferenczy, der unterhalb von Montmartre eine Art Tanz-Lokal führte. Der Ungar suchte dringend einen Musiker, einen Bandoneon Spieler.

    "Sie können das? Dann sind Sie vielleicht der richtige Mann für mich."

    Jawohl, dachte Oscar, ich werde das schon können. Kann ja immerhin Noten lesen und vom Blatt spielen.

    Ehe er die Wohnung verließ, streifte er sich seine weißgrauen, transparenten Plastikhandschuhe über. Er ging niemals ohne diese Handschuhe aus dem Haus, genauer, er ging nie ohne diese Handschuhe einkaufen. Er vermied es, unverpackte Waren oder Wechselgeld mit bloßen Händen zu berühren. Und er war bestrebt, keine, schon gar nicht eine fremde Person, mittels Handschlag zu begrüßen, etwas, wozu er sich hier, unter Franzosen, allerdings selten genötigt sah.

    "Du bist mir etwas zu alt."

    "Da geht es dir wie mir."

    Sie lächelte bei dieser Erwiderung, doch hätte es, wenn es nach ihm gegangen wäre, vollmundiger ausfallen können, ihr Lächeln und verbindlicher. Nähern wir uns, dachte er, dieser Fragestellung doch einmal von hinten. Würde sie ihn mehr schätzen, wenn sie ihn als Musiker erlebte? Sie war die Tochter von Ferenczy. Sie war zwanzig. Sie war, und das, so urteilte Oscar, konnte man vorbehaltlos sagen, eine Perle negroider Schönheit, viel Auge, viel Mund, eine dunkle Brombeere. Ihre Mutter kam aus dem Tschad. Ehe Saloua sich wegdrehte, schob sie, unbetont lässig, das Kaugummi in die andere Gaumenhälfte. Er sah ihr nach. Er hatte sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, jemanden wie ihn zu lieben. Es war keine Fangfrage gewesen, sondern ein ebenso diskret wie scherzhaft eingekleidetes Anliegen, dem Motiv nach sogar eine Art Fürbitte.

    Saloua verließ das Haus. Er verließ es nach ihr. Die Sonne stach mit Zahnstochern durch das dichte Gewölk. Er ging Richtung Chateau Rouge. Die Straße war kurz. Die Häuser äugten bleich. Hier wohnten die Ferenczys. Die Geschäfte in der Nachbarschaft wurden von Arabern und Ostjuden geführt. Man schloss in dieser Gegend keine Wetten ab auf die Zukunft.

    Aber was das Beste war: Man traf selten auf Aufzüge. Oscar mochte nämlich keine Aufzüge. Nach seinem Amerika-Aufenthalt, wo er diesen technischen Dämonen kaum auszuweichen vermocht hatte, nach Panik-Attacken und erhöhten Transaminase Werten, deren Ursachen allerdings auch anderswo zu suchen gewesen wären, fühlte er sich jetzt froh und erleichtert, an einem Ort zu weilen, der ihm die Freiheit ließ, Transportmittel dieser Art gezielt zu umgehen. Sein Ausflug nach New York war, im Wortsinn, einer Schnapslaune entsprungen. Als er ankam, wusste er nicht mehr, was er dort wollte. Er hatte es vorher schon nicht richtig gewusst. Und er blieb nicht lange.

    Oscar stieg nicht die Stufen zur Metro Station hinab. Er gedachte den Bus zu nehmen, denn er war nicht gern Untertage. Er hatte die Hände in den Taschen und seinen Vertrag. Es würde ihn nicht reich, jedoch seine Not erträglicher machen. Der alte Ferenczy, der nicht wirklich alt war, er war Oscar nur um ein paar Jährchen voraus, der aber mit seiner väterlichen Glatze, den Augensäcken, dem Kugelbauch älter wirkte, als er war, der alte Ferenczy also hatte ihn engagiert. Oscar von der Höh hatte Arbeit. Er fühlte sich nun sicherer und geradezu als Neubürger dieser Stadt.

    "Ich hasse diese Stadt, doch kann ich nicht von ihr lassen. Überall morsche Steine, und ich bin einer davon."

    So sah Ferenczy die Sache. Aber er hatte Frau und Kind und das Rapzodie. Er lebte seit zwanzig Jahren in der Seine Metropole. Er war hier verwurzelt. Oscar hatte auch Frau und Kind, aber er hatte die Familie sitzen lassen. Und stromerte jetzt ziellos umher. Doch waren sie beide, Ferenczy und er, Nachtmenschen. Und Nachtmenschen, fand er, gehörten in eine Großstadt.

    Auf halbem Wege zur Bushaltestelle überlegte Oscar es sich anders. Er entschied, noch ein wenig spazieren zu gehen. Ihm war danach, frei zu improvisieren. Er hatte einen freien Tag. Es hatte für ihn bislang viele freie Tage gegeben. Doch nun, wo er bald wieder in Lohn und Brot stehen würde, kam ihnen eine andere Bedeutung zu.

    Als erstes suchte er, was er nicht gerne tat, eine Zelle auf, eine Telefonzelle. In seiner Mansarde gab es kein Telefon. Er musste folglich, wenn er telefonieren wollte, hinunter auf die Straße. Er hatte das bislang stets nach Einbruch der Dunkelheit getan. Nicht zuletzt, weil er am Tage meist im Bett lag. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Seine Lebensuhr tickte gewissermaßen intravasal. Denn es gab den einen oder anderen billigen Rotweinrausch, den es auszunüchtern galt. Er war dann, wie er selber es nannte, mit der Dunkelheit verabredet oder mit den vorbeiziehenden Regenwolken.

    Die Unterkunft war ihm von Ferenczy vermittelt worden. Das Haus, meinte dieser, gehöre einem Mann, mit dem er befreundet sei, Ungar wie er. Oscar hatte den Hausbesitzer nicht kennen gelernt, nur mit ihm telefoniert. Auch das entscheidende Gespräch mit Ferenczy über sein Engagement im Rapzodie fand am Telefon statt. Erstaunlich, dass über einen mageren Draht soviel beleibte Worte fließen konnten. Da hätte es natürlich noch manches Beispiel gegeben, auch im negativen Sinne. Wenn er etwa zurückdachte an sein verunglücktes Eheglück...

    Oscar kreuzte den Boulevard Barbès. Er ging weiter, Straße um Straße. Er war verwundert, wie gut er zu Fuß war und darüber, wie wenig er bisher von der Stadt gesehen hatte. Die Sonne funkelte kühl. Es gefiel ihm. Er dachte an das viele Tageslicht, das er lange nur durch Vorhänge oder Jalousien an sich herangelassen hatte. Zuweilen hätte er die Sonne am liebsten gekauft, um sie in einen Tresor zu sperren. Egal, der Himmel war nicht bestechlich. Und er nicht liquide.

    Gelegentlich perlte zwischen den Häusermasken die weiße Zuckerwatte Sacre Coeurs hervor, und er warf flüchtig einen oder anderthalb Blicke hinauf zu Montmartre. Heute schienen ungewöhnlich viele Menschen diese Stätte zu bevölkern. Er erkletterte den Hügel nicht, weil er nicht von dem Gewimmel dort oben zerpulvert werden wollte, aber immerhin gefiel ihm erstmalig, seit er in der Stadt war, dessen Anblick.

    Doch irgendwann war es damit genug. Oscar winkte heran, was er sich im Grunde nicht leisten konnte, ein Taxi. Früher war er viel mit dem Taxi gefahren, in anderen Städten. Er hatte, neben dem Vertrag, einen kleinen Vorschuss in der Tasche. Der wurde nun, sei es drum, angebrochen. Der Taxifahrer war Algerier.

    Der Mann wirkte eigentümlich erregt. Bei Fahrtbeginn redete er unaufgefordert und unablässig, in einem Kauderwelsch aus Arabisch und Französisch, das kaum zu entziffern war, von dem Oscar eben soviel mitbekam, als dass der Fahrer offenbar entschieden darauf aus war, La Grande Nation seinen ganz privaten Krieg erklären zu wollen. Ebenso ansatzlos, wie sie begonnen hatte, endete die Brandrede. Von nun an beäugte der Algerier seinen Fahrgast wortlos im Rückspiegel, mit Blicken, die diesem das Gefühl gaben, er sitze im Feuerhof einer scharfgemachten Handgranate, so dass er, da es ihm irgendwann zu ungemütlich wurde, sich vorzeitig absetzen ließ.

    Nachdem er ausgestiegen und ein paar Schritte gelaufen war, spürte Oscar etwas Feuchtes am Kinn. Er blieb stehen, fasste sich ins Gesicht. Es war Blut. Er hatte, wie er feststellen musste, Nasenbluten. Er brachte seinen Kopf in erhöhte Schräglage und suchte nach einem Taschentuch. Was ihn am meisten entsetzte, war die Vorstellung, dass ihm das Blut den Anzug verschmieren könnte. Er würde ihn in die Reinigung geben müssen.

    *

    Pepe war ein Streichholz.

    Man mochte kaum glauben, dass der Argentinier imstande war, ein Bandoneon länger als zehn Minuten zu halten? Aber er war sehnig. Und zäh. Im Armdrücken hatte Oscar nicht den Schatten einer Chance gegen ihn. Pepe vermittelte einen ruhigen, ja, fast lautlosen Eindruck. Sein Blick war dunkel, doch warm, sein Mund schmal, seine Ohren dagegen riesige Lappen. Er hatte schulterlanges, kohlschwarzes Haar. Über Wange und Hals zogen sich lange Narben. Das, so erfuhr Oscar von Saloua, wäre die Peitsche seines Vaters gewesen. Pepe war mit 23 nach Paris gekommen. Er lebte hier illegal. Jetzt war er zwei Jahre älter.

    Sie hatten sich vorgestern zum ersten Mal gesehen. In einem Abbruchhaus im Osten der Stadt. Es war möglicherweise gar kein Abbruchhaus, aber Oscar kam es so vor. Es hausten dort Menschen, die im Untergrund lebten.

    "Du musst keine Angst haben, ich kenne mich hier aus."

    "Ich habe keine Angst."

    Oscar folgte Saloua in einen düsteren Hausflur. Dann betraten sie ein nahezu kahles Zimmer, in dem ein Dutzend Personen auf alten Matratzen zusammenhockte. In einer Ecke wurde gekocht, auf einem Gaskocher mit Rostfraß. Es roch nach Huhn, nach Reis, nach scharfen Gewürzen. Eine nackte Glühbirne, die unter der Decke steppte, erhellte den Raum. Eine einzige Person stand. Es war Pepe. Während die übrigen, überwiegend Schwarze, munter miteinander schwatzten, hielt er schweigsam seinen Posten, rauchte und starrte zum Fenster hin, das mit Holzlatten vernagelt war. Als er Saloua sah, löste er sich aus seiner vereisten Haltung, kam zu ihr herüber, sie umarmten sich.

    "Das ist Pepe."

    "Pepe, das ist Oscar."

    Oscar machte einen halben Schritt zurück, hob, in einer Grußgeste, die Hand geöffnet, den rechten Arm. Er tat es rasch. Er wollte, wie gewöhnlich, jeden Händedruck vermeiden. Meistens, so wie hier, gelang ihm das auch. Er wirkte in dieser exotischen Runde selber ein wenig exotisch, in seinem korrekt gebügelten dunkelgrauen Anzug, den schwarzen Lackschuhen. Niemand schien jedoch für dergleichen ein Auge zu haben.

    Sie verweilten nicht lange. Sie gingen in ein Bistro. Saloua erklärte die Lage. Pepe nickte zweimal mit dem Kopf. Es hatte etwas von einem Hund. Ansonsten blieb er vorerst stumm. Auch Oscar blieb vorerst stumm. Sie trafen eine Verabredung für den nächsten Montag, Oscar und der Argentinier. Pepe würde, so vereinbarte man es, in seine Mansarde kommen. Ganz umsonst würde es nicht sein. Ein paar Scheine, gab Saloua ihm zu verstehen, müsste Oscar dafür, dass er Pepes Hilfe in Anspruch nahm, schon hinblättern. Nach dem knapp gehaltenen Gespräch trennten sich die drei. Saloua und Pepe gingen zurück zu der Hausruine, Oscar stieg am Père Lachaise in den nächsten Bus.

    In der Dämmerung, wenn alte und nicht so alte Lichter verspätet den CanCan im Petticoat tanzten, konnte Paris sich unversehens in ein geheimnisvoll illuminiertes Fabelwesen verwandeln. Das war heute der Fall. Was ist schon so wichtig, murmelte Oscar, während er aus dem Fenster des sanft brummenden Verkehrsmittels äugte, dass es unbedingt getan werden muss, außer vielleicht einen Brand löschen, eine Geburt einleiten oder eine Not-Operation durchführen?

    Der Gedanke umkreiste ihn strichweise, kam schließlich näher und wurde zu einem Schnellzug, der jählings von den Schienen sprang. Er fühlte sich gekräftigt und staunte hierüber, ja, er war gar von einer dunstigen Zuversicht erfüllt und gedachte der Zeiten, zu denen er im seelischen Schneckengang voran gekrochen war.

    "Gütiger Himmel! Junge! Du bist gesund, du hast zwei Arme, zwei Beine, bist talentiert. woran leidest du eigentlich? "

    Kummer, Jammer, Schwermut. Selbstmitleid und Seelenpein. Als Knabe fühlte er sich öfter krank, ohne es zu sein. Seine Mutter hoffte, aus ihm könnte eines Tages ein Konzertpianist werden, der in allen bedeutenden Häusern der Welt auftrat, eine Berühmtheit, etwas ganz Großes. Sein Vater war Musiklehrer und schwach. Dann gab es da noch den Hausarzt, die einzige männliche Person in seiner Umgebung, die Oscar Eindruck machte. Er war es, der eines Tages obige Worte sprach. Eines anderen Tages erfuhr Oscar, dass seine Mutter mit dem Arzt heimlich ein Verhältnis hatte. Das bewirkte, dass Oscar zeitweilig eine Art katatones Verhältnis zu Ärzten der Allgemein-Medizin und zu Ärzten im Allgemeinen entwickelte.

    Oscar entstieg dem Bus. Die Vergangenheit hatte viele Arme, kurze oder lange. Er schritt durch das Dunkel und dachte daran, dass er noch vor Tagen, unter Kopfschmerzen, stundenlang auf diesem elenden Instrument geübt hatte, das ihm von Ferenczy zur Verfügung gestellt worden war. Es war ein bisschen geflunkert, als er anfangs verkündet hatte, er beherrsche es. Er hatte angenommen, er käme müheloser damit zurecht. Schließlich sah er ein, dass er noch eifrig würde üben müssen, um für das, was auf ihn wartete, gerüstet zu sein.

    Dann hatte er Saloua ins Vertrauen gezogen. Es war ein Wagnis gewesen, das zu tun. Sie hätte es ja ihrem Vater hinterbringen können. Tat sie aber nicht. Im Gegenteil, sie wollte Oscar unterstützen. Sie kenne jemand, sagte sie, der ein bisschen Hilfestellung geben könne, ein anderer Bandoneon-Spieler. Warum ihr Vater den nicht engagiert habe, wollte Oscar von ihr wissen? Berechtigte Frage. Ihr Vater, lautete die Antwort der Tochter, traue Pepe nicht. Pepe, ihr argentinischer Bekannter, hatte bereits mehrmals im Gefängnis gesessen, darunter zweimal wegen Diebstahls.

    "Warum hilfst du mir, Saloua?"

    "Weil ich die Traurigkeit mag, die ich in deinen Augen finde."

    Kapitel 2

    Er sieht sich, wie er den Koffer beiseite legt. Das Gepäckstück hat bis vor kurzem unbeachtet in einer Abseite gelegen. Seine torfbraune, harte Lederhaut ist punktiert mit bunten, jetzt verblassten Aufklebern aus allen Teilen der Welt. Der Vater ist, wie er weiß, eine Zeit lang viel gereist, nach dem Krieg, vor der Geburt des Sohnes. Er ist zur See gefahren. Das war, als er ein junger Mann war. Vor dem Krieg, oder präziser: zwischen den Kriegen, den beiden Weltkriegen. Sie tragen den gleichen Vornamen, beinahe. Ansonsten gibt es, so hat der Sohn es wenigstens bis vor kurzem betrachtet, recht wenig, worin sie einander ähnlich sind.

    Oskar hat vor Tagen begonnen, in Aufzeichnungen und Briefen zu lesen, wahllos zunächst. Die Pariser Blätter finden eher seine Aufmerksamkeit als das Kriegstagebuch. Er kennt Paris flüchtig, war mal für eine Woche dort. Als Soldat war sein Vater in Norwegen eingesetzt. Ein ruhiger Posten. Dennoch, einmal, so erfährt Oskar, wollte er desertieren. Er tat es nicht. Er kam unbeschadet durch den Krieg. Aber er war danach allein. Seine erste Frau hatte ihn, während er fort war, verlassen, hatte sich mit einem Franzosen zu den gallischen Nachbarn abgesetzt. Er hörte nie wieder etwas von ihr.

    Als der Vater in Paris war, war Oskar Junior schon ein angehender Jungmann. Der Vater blieb nicht lange in der französischen Metropole, zwei Jahre. In dieser Zeit lebte er von seiner Familie bereits getrennt. Das ist dem Sohn natürlich geläufig. Wovon er bislang wenig wusste, ist, was der Papa während seines Aufenthalts in der Fremde so getrieben hatte…

    Vergangene Nacht wurde er Zeuge eines Attentats. Es geschah auf einem weiten Platz, den eine dicke Wolke von Menschen füllte. Oskar war darin ein Korn. Er hörte den Schuss. Er sah den Sturz. Das Opfer war ein hochrangiger politischer Amtsträger. In dem nachfolgenden panischen Wirrwarr wurden zahlreiche Personen verhaftet. Darunter, zu seiner grenzenlosen Überraschung, auch er. Man unterzog ihn einem Verhör. Man konfrontierte ihn mit zwei Fotografien, die man übergroß auf eine Leinwand warf. Jedes zeigte ein männliches Gesicht, das von einer Kapuze nur leicht verdeckt wurde. Es waren Aufnahmen, geschossen während der Veranstaltung inmitten der Zuschauermenge.

    Auf dem einen Foto sah man das Gesicht mit geschlossenen Augen, auf dem zweiten starrte es himmelwärts. Zwei Schnappschüsse. In der Tat sah die Person Oskar ähnlich. Und er sah sich plötzlich unter Verdacht. Selbst wenn sich zeigte, dass er unschuldig war, dachte er, fiel nicht dennoch ein Schatten auf sein zukünftiges Leben? Aber immerhin, so dachte er weiter: auf den Fotos sehe ich gut aus. Glücklicherweise kam er bald wieder frei. Das hatte er einem Mann zu verdanken: Mohun. Wie er das anstellte, erfuhr Oskar nicht. Er wurde von Mohuns Leibwächter Joe le Brie mit dem Wagen abgeholt. Als sie ans Ziel kamen, erwartete Mohun ihn bereits.

    "Dir fehlt ein starker Wille, Oscar. Dennoch mag ich dich. Ich mag musisch veranlagte Menschen. Du könntest der Rücksitz meines Ichs sein. Ich erkenne das in dir. Wenn du willst, mache ich dich zu meinem Teilhaber, zu meinem geistig-seelischen Teilhaber."

    Es ist gar nicht von mir die Rede, der Angesprochene ist mein Vater, ging es Oskar durch den Kopf, als er aus dem Traum erwachte…

    Die Bilder drehen ab, und Oskar sich auf die andere Seite. Er möchte wieder einschlafen, aber es gelingt nicht. Er steht auf und will die Verandatür schließen. Etwas bewegt sich. Eine pockennarbige Kröte hockt auf der Türschwelle. Er tritt nach ihr, und sie hüpft eilig davon. Draußen ist alles schwarz. Eine fugenlose Wand, die das Haus zu zerquetschen droht, das Haus und seine Insassen. Seine Hand zittert. Er zieht die Vorhänge zu. Eigentlich mag er es nicht, wenn die Vorhänge zugezogen sind. Er tut es dennoch. Constanze würde es gut finden. Sie fürchtet sich unablässig vor Einbrechern, hier draußen, wo die Häuser einzeln stehen und manche leer sind. (Gut, dass sie ihn jetzt nicht sehen kann.) Dabei lauern in den Städten doch weitaus größere Gefahren.

    Er legt sich wieder hin. Er ist zum Schlafen nach unten auf die Couch gewechselt, weil es, wie er hofft, an diesem Ort etwas kühler ist. Er hat Constanze all die Zeit über nichts von seinem Fund erzählt. Und er hat nicht vor, es zu tun. Er nennt es seine Biarritz Connection. Denn dort, innerhalb weniger Tage, las er fast alles, was sich in dem Koffer fand.

    Einige Zeilen gehen ihm nach, während eine erschöpfte Müdigkeit seinen Atem langsamer und seine Glieder schwerer werden lässt, Zeilen aus den väterlichen Skizzen, Zeilen, die sich wie die Coda einer unvollendeten Erzählung in seinem Kopf formieren.

    Ich ahnte, ich hatte einen Fehler begangen, doch war es zu spät, ihn zu korrigieren. Das Blau des Himmels, das sich beim letzten Mal in ihren Augen gespiegelt hatte, war mir blass erschienen. Ich wollte heimkehren, voller Geschichten, nur wer würde meine Geschichten hören wollen? Farben, Klänge stiegen in mir auf und erloschen wieder - abschiedsschwer. Und mit ihnen erlosch ein Teil meines müde gewordenen Selbst…

    *

    "Schreib ein Lied für mich, Oscar. Seit ich vierzehn Jahre alt war, wünsche ich mir das."

    Die Stimme kam aus dem Off. Oscar dachte an diese Worte, die die letzten gewesen waren, ehe sie sich trennten. Er hatte Mohun in aufgeräumter Stimmung angetroffen, den Blick, wie stets, stahlgrau, glänzend und echsenhaft wachsam auf totes wie auf lebendiges Material gerichtet.

    Der Tag trug keinen Minirock, aber schon etwas Ähnliches. Er begann leer, geruchlos wie eine noch ungebrauchte Strumpfhose und erinnerte ihn, warum, war ihm nicht so ganz klar, an sein erstes Zusammentreffen mit Mohun und gleichermaßen an sein Debüt im Rapzodie.

    Ersteres trug sich zu an einem staubtrockenen Morgen gegen neun Uhr mitteleuropäischer Zeit im Hauseingang vor Ferenczys Tanzladen. Unrat bedeckte den Bürgersteig. Die Stadtreinigung war aus unveröffentlichten Gründen nicht in Aktion getreten.

    Ein kleiner Mann mit einem großen Gesicht. Mohun, ein von Gestalt kräftiger Mensch, stand, beide Hände in den Taschen seines Kamelhaarmantels, so lässig wie breitbeinig da, ein Wesen, seiner selbst, wie es den Anschein hatte, vollkommen gewiss. Er trug einen Hut mit schmaler Krempe, aus torfbraunem Wildleder. Wenn er diesen lüftete, rückten eine mondähnliche Stirn, die sich über einer leicht gebogenen Nase wölbte, sowie zu den Seiten hin ozeanisch gewelltes, dunkelbraunes Haar vor das Auge des Betrachters. Er trug das Haar kragenlang. Seine Haut besaß eine Tönung wie von geröstetem Sesamöl. Er war Mitte Vierzig. Er rauchte nicht. Er trank nicht. Er war Vegetarier.

    Über seine Vergangenheit sprach er nur ungern. Seine Mutter kam aus Indien, sein Vater war Sachse und Kneipier. Sein eigentlicher Name war Frank Freyer, doch trat er, den Mädchennamen seiner Mutter mit einbeziehend, als Freyer-Mohun auf, die Menschen in seiner Umgebung nannten ihn in der Regel abgekürzt Mohun. Das schien eine der wenigen Regeln zu sein, die zu akzeptieren er sich bereit fand.

    Frank Mohun schloss die Tür auf, er hatte den Hauptschlüssel zum Rapzodie. Sie blieben ungefähr eine halbe Stunde.

    "Riecht nach Frauen hier, nicht wahr?"

    "Ja… wann soll das Ganze, ehm, über die Bühne gehen?"

    "Wenn die Dinge wieder im Fluss sind."

    "Ah, bon."

    "Was denkst du inzwischen darüber?"

    "Nichts. Ich habe das Denken eingestellt."

    "Ich sehe es dir an. Die Sache missfällt dir, nicht wahr? Aber betrachte es doch einmal so herum: Der Mann genießt meinen persönlichen Schutz. Es gibt hier eine Menge finsterer Gestalten. Und auf diese Weise kann ihm kaum etwas passieren."

    "Wenn du es sagst."

    "Und außerdem, es geht weniger schief."

    "Ich bin es gewohnt, dass Dinge schief gehen."

    "Schenk uns noch ein Glas ein, Oscar… Man sollte sich, mein Lieber, nie mit Verlierern zusammen tun… schon gar nicht, wenn man selber einer ist."

    "Danke für den Rat."

    "Noch etwas, Oscar. Ich kann, ohne dass man mir Widerstände entgegensetzt, nicht leben. Bei dir verhält es sich umgekehrt. Du scheinst mir süchtig nach Ausgleich."

    Ehe sie den Laden verließen und sich trennten, tranken sie einen weiteren Cognac aus einer Flasche, die Mohun zuvor einem abschließbaren Barschrank entnommen hatte.

    Vor der Tür wartete Joe le Brie mit dem weißen Citroën seines Herrn. Sein eines Auge, es war das linke, war nicht in Ordnung. Es irrlichterte. Joe war riesig, stammte aus dem Elsaß, und war Mohuns Leibschatten. Die beiden Männer bildeten eine Einheit. Ja, sie schienen miteinander verwachsen zu sein. In Joes mächtiger Brust, sagte Mohun gern, schlage ein butterweiches Herz…

    Irgendwann, viel zu spät, ging sein erster Arbeitstag zu Ende. Mit faulem Nachgeschmack. Schon ein Voraus-Kommando seiner Erwartungen hatte Schiffbruch erlitten. Als Ferenczy ihm gegen Mittag einen Rohrpostbrief zukommen ließ, erfuhr Oscar, dass die Heizung im Rapzodie ausgefallen war. Und das an diesem frostkalten Wochenende. Bereits seine Mansarde hatte sich als schlecht geheizt erwiesen. Oscar musste sich bislang so manche Nacht in den Tiefschlaf frieren. Jetzt also zusätzlich dieses malheur an seinem neuen Arbeitsplatz. Ein unfroher Auftakt.

    Das Interieur war von Plüsch dominiert, spermafarben. Es gab keine Bedienung. Ferenczy selber sorgte für den Ausschank der Getränke. Man tanzte Calypso&Tango. Die Begleitmusik kam von Schallplatte. Das würde jetzt, wo Oscar da war, anders werden. Und das Publikum? Viel überreife Weiblichkeit, Ehefrauen,Witwen, die dem néant ihrer irdischen Existenz zu entrinnen suchten und drohten, mit jeder frisch aufgelegten Körperdrehung die wehrlose Eleganz dieser beiden stolzen Tänze zu erdrosseln. Es gab sogar einen Gigolo, denn es herrschte Männermangel.

    Der Gigolo war ein unechter Spanier. Er leistete den Damen Beistand, nicht allein wenn es an der Schrittfolge haperte. Er war Ungar wie Ferenczy, hieß eigentlich Laszlo Varga, trat aber bei Ferenczy unter dem Namen Ramon Garcia auf. Er hatte, wie Oscar hörte, früher in Wien gelebt. Er war ein passabler Tänzer, doch wirkte er wie ein Restposten. Er hatte sicher einmal bessere Tage gesehen, jetzt bröckelte der Putz. Es war ein zierlich gebauter Mensch, vieles an ihm

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