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Notaph: Roman
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eBook421 Seiten5 Stunden

Notaph: Roman

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Über dieses E-Book

Nick Mangold, Mitte Vierzig, arbeitet als Projektleiter in einem Hamburger Wasserwerk und führt mit Frau und Kind ein unauffällig bürgerliches Leben. Das ändert sich, als er für ein Jahr beruflich nach Antwerpen versetzt wird. Von nun an lebt er eine Doppelexistenz mit unerwarteten Folgen. Schauplätze der Handlung sind Antwerpen, London und Hamburg. Zeitrahmen ist die letzte Jahrtausendwende.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Dez. 2020
ISBN9783752924169
Notaph: Roman

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    Buchvorschau

    Notaph - Reinhold Zobel

    Kapitel 1

    Trübe Stunden liegen hinter ihm, Stunden wie Abführtee. Er wechselt die Beinstellung, im Fünf-Achtel-Takt. Seine Nase tropft. Er schnäuzt sich. Seit gut einer Stunde wartet er an dem Rastplatz. Und fühlt sich wie ein verirrter Dunkelelf.

    Zunächst hat er sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Restaurants aufgehalten, weil dort die meisten Reisenden anlanden, um Wasser zu lassen, um zu essen, zu trinken oder jedes der drei Dinge zu tun. Später dann begab er sich hinüber zu den Zapfsäulen und versuchte dort wiederholte Male einzelne Autofahrer anzusprechen, während diese Treibstoff einfüllten. Ohne Erfolg.

    Doch dann geschieht etwas, das seinen Umständen eine neue Richtung gibt. Eine Limousine taucht in den unterkühlt bläulichen Lichthof ein, der die Tankstelle aus der nächtlichen Finsternis heraushebt, eine Limousine, die auffällt. Sie fällt auch ihm auf. Marc ist kein Experte für Automarken, aber er kennt ein paar Bond-Filme und weiß, es ist ein britisches Fabrikat.

    "Nehmen Sie mich mit?"

    "Wohin soll es gehen?"

    "Nach Süden, oder sagen wir, Südosten."

    "Steigen Sie ein."

    Nick Mangold hat noch nie einen Anhalter mitgenommen, Marc Kilian ist noch nie in einen Aston Martin gestiegen. Ihre Blicke begegnen sich, als Marc fahrerseitig gegen die Scheibe klopft und Nick den elektrischen Fensterheber betätigt, um das Glas lautlos abwärts surren zu lassen. Sie treffen aufeinander, und in ihrem Schnittpunkt entzündet sich ein schmales bengalisches Feuer aus feinen neuronalen Salzen.

    Marc lässt sich kurz darauf beifahrerseitig erleichtert in den Ledersitz fallen und den Rucksack zwischen seine Beine.

    "Sie können Ihr Gepäck gern nach hinten in den Kofferraum verfr..."

    "Nein, nein, es geht schon. Lassen Sie nur. Hatte bereits die Hoffnung fahren lassen, dass mich jemand mitnimmt, schon gar nicht in einem Gefährt wie diesem. Ich denke, ich habe das Maximum erreicht... für den Augenblick."

    "Ganz wie Sie meinen."

    Nick lächelt versteckt bei den Worten seines frisch gebackenen Weggefährten, während er einige zarte Untertöne herausfiltert. Er hat der Anfrage, ohne lange zu überlegen, nachgegeben. Etwas an dem Jungen gefällt ihm. Er dreht den Zündschlüssel im Schloss, startet den Motor. Sie verlassen den Rastplatz und gleiten hinaus auf die nachtschwarze Autobahn.

    "Sie haben Glück. Eigentlich war vorgesehen, dass ich den Zug nehme. Aber dann kam mein Wagen, eher als erwartet, aus der Werkstatt frei... Danken Sie also der Vorsehung, dass sie sich anders entschieden hat."

    "Okay, das tue ich hiermit. Darf man rauchen?"

    "Bitte. Ich rauche selber... wenn auch nicht während der Fahrt."

    Marc fingert eine Zigarette und Nick den Aschenbecher heraus. Sie sagen einander höflich ihre Namen. Vorübergehend schläft das Gespräch ein. Fahrer wie Fahrgast schweigen, jeder strickt an seinem eigenen Gedankenpullover.

    Nach ein paar Kilometern kommt man doch noch ein wenig ins Plaudern. Nick erkundigt sich nach dem Reiseziel des jungen Mannes. Und erhält zur Antwort, das Reiseziel sei Wien. Danach Italien. Oder andersherum. Er habe einige Wunschziele, so der Junge, sie seien jedoch nicht unverrückbar. Er sei einfach unterwegs und wolle sich überraschen lassen von dem, was da komme.

    Nick überlegt, wie es wäre, führe er heute statt nach Passau nach Wien? Einfach so. Aber er ist nicht nur ein paar Minuten älter als sein Fahrgast - er ist gebunden.

    "Und was machen Sie beruflich?"

    "Raten Sie."

    "Schauspieler?"

    "Treffer. Und Sie?"

    "Ich sorge dafür, dass wir alle sauberes Wasser haben."

    "Der erste Schritt zu einem sauberen Leben, wie?"

    Nick lacht streichholzschmal, während er das Tempo zurücknimmt. Im Licht der Scheinwerfer formieren sich kalte Sendboten der Knallgasreaktion. Es hat zu schneien begonnen.

    Kapitel 2

    Er macht sich auf den Weg zum Hausboot. Er trifft niemanden an. Unschlüssig schreitet er eine Weile am Grand Union Canal auf und ab, schaut einem Bootsbesitzer zu, der damit beschäftigt ist, sein schwimmendes Zuhause mit einem neuen Anstrich zu versehen, in den Farben Karmesinrot und Preußischblau, beobachtet zwei ältere Männer, die an einer freien Stelle von einem Holzsteg aus geduldig Angelruten in staubgraues Wasser halten. Ist es nicht viel zu kalt, um Fische zu fangen? Die Alten sehen allerdings so aus, als säßen sie immer an diesem Steg, zu jeder Jahreszeit – in einer Art Lebensstellung.

    Auf einer grünen Wiese spielt eine Gruppe Jungen Fußball. Auf einer Bank schmust ein Liebespaar. Weil seit gestern mildere Temperaturen herrschen, singen die Vögel - vereinzelt, nicht scharenweise - in dem blassen Winterskelett der Bäume. Die Sonne, die hinter strichdünnen Wolken rudert, hat etwas Unfertiges, als habe sie versäumt, sich an diesem Morgen frisch zu machen. Nick fällt ein, dass er es in dem Pub versuchen könnte, wo er letztmalig mit Hänel gesessen hat. Wäre immerhin denkbar, dass der Mann dort anzutreffen ist…

    Er hat Glück, wenn man es denn Glück nennen will. Der Poet sitzt allein in einer Ecke und brütet in sich hinein, vor sich ein Glas mit - wie Nick schon richtig vermutet hat - schottischem Gerstensaft. Er nähert sich dem Tisch und nimmt gegenüber Platz. Hänel blickt nicht einmal auf.

    "Wer sind Sie?"

    "Sie kennen mich. Ich bin Nick Mangold."

    "Was wollen Sie?"

    "Mit Ihnen reden."

    "Worüber?"

    "Das wüsste ich auch gern."

    Jetzt hebt Hänel den Kopf. Er sieht nicht gut aus. Seine Gesichtshaut wirkt aufgequollen, gerötet, seine Augen liegen tief, sind umringt von Schattengräben. Seine Stimme tönt unterirdisch, heiser, brüchig. Er blickt sein Gegenüber an und schweigt. Es ist ein langer, taumelnder Blick, der in Nick hinein sackt und dort ausfranst – wie eine Schusswunde.

    Das wird ein längerer Aufsatz, denkt Nick und bestellt sich keinen Tee. Er könnte gut etwas Stärkeres gebrauchen. Er bestellt sich einen Weinbrand. Er zieht sich eine Zigarette. Er hat es, wie es noch vor kurzem sein Vorsatz war, aufgegeben, das Rauchen aufzugeben. Er hält Hänel höflich die Packung hin. Hänel schüttelt den Kopf und zieht ein Silberetui hervor, entnimmt diesem eine schmale Zigarre. Seine Hände zittern, wie Nick zu sehen glaubt, ein wenig. Er gibt seinem Gegenüber Feuer.

    Nachdenklich bläst Nick zwei, drei Rauchringe in die gallenbittere Kneipenluft. Es macht wohl nicht viel Sinn, hier länger zu verweilen. Er hat nicht das Verlangen, die Rolle eines Krankenpflegers oder Seelsorgers zu übernehmen. Hänel schweigt weiterhin beharrlich. Er hält das massive Haupt nun wieder abgesenkt. Nick wartet ein paar Minuten, dann steht er auf, blickt sich nach der Bedienung um. Er will zahlen.

    "Warten Sie!"

    Nick hält inne, macht eine Kehrtwende. Es überrascht ihn, den Schriftsteller plötzlich so verändert zu sehen - als sei ein anderer Geist in ihn gefahren. Seine Stimme klingt fest, fest und fordernd. Es ist dies ihr zweites Treffen. Und es ist so gänzlich verschieden von dem vorangegangenen.

    Der Mann hat sich jäh aufgerichtet. Seine Hand umklammert das Glas mit dem Whisky, als wolle er es zerdrücken. Er hält es, aber er trinkt nicht daraus. Nick nimmt seinen Platz am Tisch wieder ein. Er findet die Situation etwas heikel, etwas dunkel. Er drückt seine Zigarette aus, entzündet sich eine neue. Die Bedienung kommt längsseits. Er bestellt sich ein stilles Wasser. Vielleicht ist es besser, nüchtern zu bleiben, denkt er, nüchtern wie der Alltag.

    "Sie sagten, Sie wollten mit mir reden?"

    "Ja...Über den Stella Matutina Orden zum Beispiel."

    "Sie wissen also doch, worüber Sie reden wollen...Und was genau interessiert Sie an dem Thema?"

    "Eigentlich ist es mehr Ihre Person, die mich in diesem Zusammenhang interessiert."

    "Ach, wirklich?"

    "Es gibt Menschen, die geben einem Rätsel oder, sagen wir, Fragezeichen auf. Sie sind ein solcher Mensch. Ich wüsste gern mehr über das hinaus, was ich bereits von Ihnen weiß."

    "Eine launige Begründung. Könnte von mir stammen."

    Man muss nicht zwingend den Eindruck haben, Hänel befinde sich auf dem Weg zurück in eine alkoholfreie Realität - gerade hat er das Glas angesetzt, um sich einen abgrundtiefen Schluck zu genehmigen - doch der taumelnde Ausdruck ist aus seinem Blick gewichen, und die Gesichtszüge wirken nicht länger abgestorben wie noch Augenblicke zuvor.

    "Also schön, stellen Sie Ihre Fragen."

    "Eine Frage hatte ich bereits gestellt."

    "Ah ja, richtig... der Orden. Wer hat Ihnen erzählt, dass ich damit etwas zu tun habe?"

    "Ein Journalist."

    "Ein Zeitungsmann? Es wird viel gedruckt in der Presse, wissen Sie, vor allem viel Unsinn. Ich hoffe, Sie haben da keinen falschen Eindruck mitgenommen."

    "Welches wäre denn der richtige?"

    "Das Interessante an Gesprächen ist, dass man zu Beginn oft nicht weiß, wohin Sie am Ende führen werden, nicht wahr? Ich will Ihnen etwas sagen, Mr. Mangold: Wenn Sie mich besser kennen lernen wollen, sollten sie nicht den Schnüffler spielen."

    "Hm, Sie finden also, dass ich mich so verhalte?"

    "Ja. Und es ist keine Rolle, die Ihnen steht, glauben Sie mir. Sie waren mir bislang sympathisch. Warum wollen Sie das aufs Spiel setzen?"

    "Tut mir leid, wenn bei Ihnen dieser Eindruck entstanden ist."

    "Das sollte es. Immerhin könnte ich Ihnen vielleicht von Nutzen sein, eines Tages."

    "Wie meinen Sie das?"

    "Jeder braucht hin und wieder Hilfe. Dann ist es gut, Menschen zu kennen, an die man sich wenden kann – vor allem in der Fremde."

    Nick lächelt dehydriert. Thema verfehlt. Es sieht nicht so aus, als wenn ihn die Unterredung hier sehr viel weiterbringen würde. Eher scheint eine Art Katz-und-Maus-Spiel daraus zu werden, ein Abtasten, ein sich gegenseitiges Belauern, wobei er zugeben muss, dass sein Gegenüber, trotz eines vermutlich eingeschränkten Wahrnehmungsvermögens, das bessere Blatt auszuspielen versteht.

    Er bereut, erneut eine Zusammenkunft mit diesem Menschen gesucht zu haben. Das Vorhaben, dessen Umsetzung sich ohnehin wenig konkret in seinem Hirn festgesetzt hatte, nämlich den Mann für ein Treffen mit den beiden Journalisten zu erwärmen, wird er fürs Erste wohl ad acta legen müssen.

    Kapitel 3

    Der Nachmittag liegt träge ausgebreitet. Nick hat nichts Entscheidendes vor. Die Luft ist würzig violett, als habe man Oktober, was nicht der Fall ist.

    Erst wollte er sich bei Marc Kilian melden. Ob der Junge ihm böse ist? Wie viel mag er wissen oder ahnen? Wird Marie ihm etwas erzählt haben? Nick hatte bislang keine Gelegenheit, das zu überprüfen. Jener Abend, jene Nacht, sie machen Poch Poch in seinem Blut. Er vibriert, sobald er daran denkt. Auch Marie möchte er wiedersehen. Natürlich. Nur wie? Seine Lebensumstände, so lautet sein vorläufiges Fazit, bedürfen dringend einer Kläranlage. Die Konstruktionspläne dafür wird er seinem Erfahrungsschatz allerdings erst noch hinzufügen müssen.

    Er hat Hauke Morath in Antwerpen angerufen, um sich nach der Situation dort zu erkundigen. Er hat Einzelheiten erfahren über die "Unregelmäßigkeiten" (Originalton Hauke) während des Gastspiels von Prodigium. Und es kursieren Gerüchte, so Hauke weiter, Olga beabsichtige, aus der Truppe auszusteigen.

    Nick hat eine Idee, die, wäre er Sekt-Gourmet, einer Sektlaune entsprungen sein könnte. Er gedenkt einen Abstecher in jene Gegend zu machen, wo der seitens Oliver Beacon erwähnte Maler A.O.Spare die letzten Jahre seines Lebens verbracht haben soll. Vielleicht kann ihn das auf neue Gedanken bringen. Er ist nicht ungerüstet. Er hat zwei Adressen. Damit ist er für die kommenden Stunden zwar nicht am Ziel seiner Wünsche, aber seine Wünsche haben ein Ziel.

    Der eine Wink, der auf das Gespräch mit den Journalisten zurückgeht, beinhaltet eine einstige Anlaufstelle des Malers, der zweite stammt von Katzenstein. Sie trafen sich heute gegen Mittag. Sie aßen eine Kleinigkeit im Bat Eye. Es war kein ausgedehntes Treffen. Der Deutsch-Tscheche hatte nicht viel Zeit. Nick schilderte ihm kurz seine jüngsten Erlebnisse. Es zeigte sich, dass Katzenstein nicht nur Leben und Werk des Malers vertraut war, sondern gleichermaßen mancherlei aus dem kulturgeschichtlichen Hintergrund. Nick erhielt den Rat, einen Buchladen aufzusuchen, dessen Besitzerin Katzenstein vorgab, gut zu kennen, eine Frau namens Laura Wynne Easten; sie könne ihm sicher einiges über Spare erzählen.

    Mit diesem Inventar im Gepäck fährt Nick nach Brixton. Eine Gruppe Muslime schnattert lärmend hinter ihm, während Nick vor einem unscheinbaren Laden für Mal- und Zeichenbedarf Halt macht. In der Auslage, liegen, wie ihm aufgefallen ist, zwei Druckwerke, die den Schriftzug A.O.Spare im Titel tragen. Nach kurzem Zögern tritt er durch die Ladentür. Eine Klingel patrouilliert über seinem Haupt, es klingt, als kugelten Klopfgeister durch künstliche Paradiese. Röhrend, gurgelnd, rasselnd, von Trommeln unterstützt, durchkämmen ihre Klangatome den hell erleuchteten Raum.

    Hinter der Ladentheke wartet ein junger Mann auf Kundenwünsche. Mag sein, dass er auch auf etwas anderes wartet. Den Oberkörper des Jungen deckt ein kurzärmeliges, bunt bedrucktes, hüftlanges T-Shirt, das einen freiwillig unfreiwilligen Blick auf überreich mit Tattoos verzierte, muskulöse Arme gestattet. Sein Kurzhaarschnitt gipfelt in einem rostroten kreisförmigen Mittelfeld, das die Einflugschneise für einen Zwerg-Asteroiden abgeben könnte.

    "Sie wünschen, Sir?"

    Die Stimme, die durch den Raum rollt, klingt dunkel, heiser und irgendwie unbeugsam. Der Jüngling steht lässig da, schaut, während Nick unschlüssig in der Mitte des Ladens verharrt, von unten schräge vom Tresen auf (wo er bis eben mit obskuren Blechteilen hantiert hat).

    "Ja, also... Sie haben da im Fenster ein paar Sachen über oder von Austin Osman Spare. Ich interessiere mich für diesen Künstler."

    "Sie wollen etwas über ihn lesen?"

    "Gegebenenfalls."

    "Spare hat dort, wo Sie gerade stehen, oft gestanden. Hier in unserem Geschäft kaufte er nämlich, als er noch lebte, sein Arbeitsmaterial."

    "Ist das so?"

    Nick zieht die Brauen in die Höhe. Dann macht er leider (unwissentlich) einen Fehler. Er erwähnt Oliver Beacon, spricht davon, dass der Journalist an einer Biografie über den Maler arbeite und fragt den Angestellten, ob ihm der Name etwas sage.

    "Oh, dieser Klugscheißer! Sicher, hier im Viertel kennt man ihn. Er hat sich quasi bekannt gemacht durch seine… Verhörmethoden. Mit solchen Leuten verkehren Sie? Ich warne Sie, es lohnt die Mühe nicht."

    "Und warum nicht?"

    "Ihr Mann hofft offenbar, er könne etwas von jener Wirklichkeit einfangen, die die Existenz einer gewissen Person namens Austin O. Spare bestimmte. Doch wird außer Geschwätz nicht viel dabei herauskommen. Was wissen Leute wie er von Künstlern, wie AOS einer war? Von den Kellern menschlicher Existenz? Von den dunklen Fluren des Daseins? Dass AOS ein karges Leben führte, ein Leben am Rande von Armut und Vergessen, aber auch eines in stolzer, selbst gewählter Abgeschiedenheit, kann das Ihr Tintenkleckser je nachempfinden? Nein, er sieht lediglich die Fassade, den Zuckerguss, aus dem man Legenden strickt, Legenden für das zahlende Publikum. Was jedoch versteht er von den Innenwelten eines solchen Mannes? Von seinen Visionen? Von den Geistern, die er rief, die ihn heimsuchten? Nichts. Rein gar nichts."

    "Hm. Haben Sie vielleicht auch schon einmal von einem gewissen Hänel gehört?"

    "Jesus, noch so ein Schwätzer, der darauf aus ist, das Leben Spares für sich und seine eitlen Zwecke auszuschlachten. Mit den Schätzen, die er im Nachlass von AOS zu heben gedachte, glaubte er wohl, sein eigenes kümmerliches Talent aufpolieren zu können, möchte sich außerdem zum Türsteher irgendeiner kommerziellen Heilslehre aufschwingen. Zum Teufel mit ihm und seinesgleichen! Was soll dieser jähe Rummel um AOS? Der Mann ist doch lange tot! Plötzlich fällt hier jeder über sein Leben her, sucht den verkannten Genius, den großen Magier - Presseleute, Sammler, Pseudoartisten, ein kompletter Käfig sensationsgeiler Narren. Hätte ich eine Flinte, ich würde ihnen das Hirn wegpusten, glauben Sie mir. Selbst Typen aus dem Musikgeschäft bedienen sich mittlerweile seiner Texte, schmücken sich mit seinen Werken, tun, als wären sie seine geistigen Erben, Wegbereiter seiner Lehren, seiner Träume und haben am Ende doch nur die Schleimspur ihrer eigenen Karriere vor Augen."

    Nick, der den Satzkaskaden kaum zu folgen vermocht hat, sagt sich: Anscheinend habe ich da eine Lawine losgetreten. Das lag nun wirklich nicht in meiner Absicht. Der Junge redet anders, als er ausschaut; er redet wie ein Schnellfeuergewehr.

    "Es könnte ja aber vielleicht auch Personen geben, die es ehrlich meinen mit ihren Nachforschungen?"

    "Sicher gibt es die, ich kenne sogar ein paar von ihnen. Doch werde ich ihre Namen nicht preisgeben. Diese Leute brauchen keine Publicity. Sie tun, was sie tun, aus persönlichen Motiven, sie wollen nicht allein das Andenken des Künstlers, sondern auch seine Würde bewahren, und sie wissen, man muss behutsam zu Werke gehen, sehr behutsam, denn man hat es hier mit einem äußerst seltenen Exemplar der menschlichen Gattung zu tun."

    Der Junge nagelt nach seinen letzten Worten die rechte Pranke auf das Holz der Ladentheke und greift sich eines der dort deponierten Blech- oder Plastikteile - was es genau ist, ist aus der Entfernung nicht auszumachen. Er hatte wohl, als Nick das Geschäft betrat, gerade damit begonnen, an etwas herumzubasteln - vielleicht an einer Handgranate.

    Nick seinerseits ist betrübt, dass das Gespräch einen so missglückten Verlauf genommen hat. Indessen scheint der Verkäufer jegliches Interesse an einer Fortführung ihres Dialogs verloren zu haben. Einmal nur hebt er noch flüchtig das Haupt, kneift die Augen zusammen und fixiert sein Gegenüber mit einem teils gelangweilten, teils spöttischen Blick.

    "Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir? Ein paar Dosen Ölfarben vielleicht, Malpinsel, Zeichengerät...?"

    "Nein, vielen Dank. Das war vorerst alles."

    "Dann haben Sie die Güte und lassen Sie mich meine Arbeit tun!"

    Nick verlässt den Laden mit gemischten Gefühlen. Immerhin, sein Interesse ist erwacht. War das jetzt eine Einstiegsdroge? Er möchte mehr herausfinden. Er durchstreift die umliegenden Straßen. Sein nächster Besuch gilt der Buchhandlung, die Katzenstein ihm angegeben hat. Sie befindet sich ganz in der Nähe jenes Basements, das A.O.Spare in seinen letzten Lebensjahren als Aufenthaltsort gedient haben soll.

    Laura Wynne Easten ist eine korpulente Frau in mittleren Jahren. Sie führt das Geschäft offenbar allein. Als Nick eintritt, steht sie neben der Schaufensterauslage und wendet sich ihm mit einer Entschlossenheit zu, als habe sie ihn bereits erwartet. Sie hat die Augen einer Eule sowie eine spröde, maskuline Stimme. Nick kommt ohne Umschweife zur Sache. Er sei auf der Suche nach Informationen über den Maler Austin Spare. Er erwähnt (er weiß gar nicht recht, warum) seinen Besuch in dem Laden für Mal- und Zeichenbedarf sowie sein seltsames Gespräch mit dem hiesigen Angestellten dort.

    "Sie haben also mit Roman gesprochen. Lassen Sie sich nicht von dem rüden Ton des Jungen verschrecken. Er hat eine flinke Zunge und einen raschen Verstand. Er ist Kunststudent. Natürlich hat er keinerlei authentische Informationen. Kann er auch nicht haben. Was er weiß oder zu wissen vorgibt, ist ihm über Dritte zugetragen worden… Gut, der ehemalige Besitzer des Ladens, in dem er arbeitet, hat Spare noch gekannt, lebt jedoch seit Jahren nicht mehr. Ich kann Ihnen immerhin aus sicherer Quelle sagen, dass die magische Weste dieses Malers ganz so fleckenlos nicht gewesen sein kann. In späten Jahren beschäftigten ihn, wie überliefert ist, merkwürdige, ja abseitige sexualmagische Praktiken, die ein nicht gerade schmeichelhaftes Licht auf einen Menschen werfen, um dessen Vita sich in manchen Kreisen ein wahrer Personenkult gebildet hat.... Aber, sagen Sie, Sir, was interessiert sie so an Spare? Seine Malerei?"

    "Nun, ich kenne da ein paar Leute und Geschichten aus seinem Umfeld und würde gerne mehr erfahren, das ist alles."

    "Ach, wirklich?"

    "Jedenfalls danke ich Ihnen für die Auskünfte. Vielleicht komme ich später noch einmal auf sie zurück. Sie scheinen mir ja ein wahres Nachschlagewerk zu sein."

    Kapitel 4

    Der Mann, dessen Notizen er hat, heißt Jakob Spinagel. Er ist Arzt, praktischer Arzt. Worauf Nicks Aufmerksamkeit sich anfangs voller Überraschung richtet, ist die Tatsache, dass der Verfasser, wie er selber, aus Hamburg stammt. Er hat die Stadt, das zeigt sich bei näherer Lektüre, Zeit seines Lebens offenbar kaum verlassen, im Alter, wie es scheint, gar nicht mehr.

    Das lederne Fundstück stammt sozusagen aus der Unterwelt. Nick hat die Bände in einem leeren metallenen Einkaufswagen gefunden, wie man sie aus Supermärkten kennt. Das Rollgestell stand in einem lichtlosen Verschlag seitwärts des Eingangs zu einem Basement, das Spare zuletzt gelegentlich als Arbeitsklause gedient haben soll. Der Raum zeigte sich unverschlossen. Die Tür stand halb offen. Der Einkaufswagen lagerte dort in Gesellschaft einiger Müllsäcke. Den Haupteingang hatte man mit Holzlatten vernagelt. Ebenso eine Fensterluke nebenan. Das Basement war unbewohnt. Ein paar Straßen weiter, heißt es, habe der Maler gewohnt; allerdings - das Haus steht nicht mehr.

    Das gesamte Gebäude machte auf Nick einen verlassenen Eindruck. Und eher zufällig warf er einen Blick in den benachbarten Müllraum. Die ledergebundenen Bände sprangen ihm, nachdem er die Eisentür ganz aufgestoßen hatte, sogleich ins Auge. Sie kauerten so nackt wie verloren auf dem Metallgitter, vom hereinfallenden Tageslicht chirurgisch ausgeleuchtet. Nick trat näher, nahm eines der Bücher von seinem Platz, schlug es auf. Was er sah, waren Worte, Sätze, sauber gesetzt, handgeschrieben, in Deutsch. Kurz entschlossen nahm er alles an sich.

    Ein Tagebuch. Eine einzelne Stimme aus dem Off. Eine arme Kreatur? Ein einsamer Wolf? Die Stimme eines Verblichenen? Könnte sein… Aufzeichnungen, die das Tageslicht womöglich nie mehr erblickt hätten, wären sie nicht durch seine, Nicks Hände gegangen. Er hatte, so wollte es ihm vorkommen, einen Sarkophag geöffnet. Autopsie eines Schicksals. Es waren nicht so sehr die lebensgeschichtlichen Daten, an denen sich sein Interesse entzündete, es war etwas anderes. Das erschloss sich ihm aber erst nach und nach. Es war jedenfalls keine Lektüre zum Tagträumen. Eher ist es, dachte er, ein Fall für den Tierarzt.

    Es berührt schon eigentümlich, überlegte Nick, auf diese Weise Zeugnisse einer fremden Existenz einzusehen, Ich-Protokolle eines unbekannten Geschicks... In der Folge begann sich, ganz ohne sein Zutun, ein Netz konspirativer Fäden zu spinnen, zwischen der Niederschrift und ihm, dem zufälligen Leser.

    Nick nahm zunächst an, dass der Verfasser dieser Bände tot war. Die Eintragungen endeten vor gut drei Jahrzehnten, zu einem Zeitpunkt, als Spinagel knapp über Sechzig gewesen sein mochte. Doch wer weiß, vielleicht lebte der Mann ja noch. Denkbar war vieles.

    Es muss jedenfalls ein zutiefst einsamer Mensch gewesen sein. Keine Familie, Frau, Freunde. Es hat, wie Nick unter anderem lesen kann, einen Halbbruder gegeben, den es aber früh in die Fremde zog. Ein Eigenbrötler also, dieser Arzt, ein Sonderling, ein Kauz. Einer, der über viele Jahre wie besessen aufzeichnete, was ihm widerfuhr, akribisch, minutiös, bis in die Einzelheiten hinein, bis zum täglichen Stuhlgang, zur täglichen Mundpflege.

    Der Mann ist darüber hinaus ein getreuer Stenograph seiner Stimmungen gewesen, die er sezierte, kartografierte, in tausend Schattierungen auffächerte. Das Licht des Weltgeschehens fiel wohl nur selten durch den Vorhang seines Tuns, seiner persönlichen Befindlichkeiten. Und wenn, dann als Demiurg, der seine Kreise störte. Viel Raum nehmen in den Aufzeichnungen private Studien ein, denen der Verfasser nicht allein intensiv nachgegangen ist, sondern über die er sich wieder und wieder in lexikalischer Ausführlichkeit zu verbreiten pflegt. Wie er es selber einmal in einer Fußnote zum Ausdruck bringt, verstand er sich als ‘geistiger Abenteurer’.

    Seine Gedankengänge wirken so faltenreich wie induktiv. Befasste er sich in den Notizen seiner frühen Jahre noch mit allen erdenklichen Phänomen unter der Sonne, die den Eindruck aufkommen lassen, sein Trachten zielte darauf ab, den Wellensalat der Schöpfung in eine musikalische Gleichung zwingen zu wollen, so grenzte Spinagel seinen Entdeckerdrang späterhin zunehmend auf ein einzelnes Gebiet historischer Bedeutung ein, auf das China des 14. Jahrhunderts.

    Nick ist an diesem letzten Abend seines London-Aufenthalts rechtschaffen müde. Er liegt auf der Matratze, lang ausgestreckt, unbekleidet, hat die Decke zurückgeschlagen. Es ist warm und stickig im Raum. Trotz Müdigkeit vermag er nicht einzuschlafen. Seine Gedanken flattern wie Motten um die Glühbirne herum. Und die Glühbirne besteht aus verspiegeltem Glas. Er wird Hauke von dieser Geschichte erzählen. Der hat ein Faible für alles Sonderbare.

    Vor dem Einschlafen liest er rasch noch ein paar Seiten, dann und wann einzelne, die ihm unergiebig erscheinen, überschlagend. Oder er gleitet dort, wo er auf nichts stößt, was ihn fesselt, auf Rollschuhen über das Geschriebene hinweg... Katakomben eines Lebens! Ja, er fühlt sich unwillkürlich als Grabräuber. Und muss an seine eigene Geschichte denken. Er erinnert sich. Wie hat alles begonnen? Und wann eigentlich und durch welche Tür oder Pforte ist er in die bestehende hinein gestolpert? Er nimmt sich, nicht nur weil er sie hat, Zeit für einen Rückblick.

    Kapitel 5

    Im Osten kein Rot. Nicht an diesem Morgen. Nicht einmal für Frühaufsteher. Nur Wind bläst stoßweise von dort herüber, von den Bergen herab, herbstrau, fasst ihm kräftig hinter beide Ohren, die, so scheint es, noch weiter von seinem Schädel abstehen als für gewöhnlich. Und kalt könnten sie in Kürze werden, kalt wie ein ausgekühltes Verlangen. Immerhin, sie blättern nicht ab. Und wehen nicht fort.

    Nikolaus Mangold steht auf dem Balkon. Sein Blick beschreibt einen Halbkreis. Dunst liegt im Tal. Schade, man erkennt die Berghöhen kaum.

    Er hat Zeit. Er wird in aller Ruhe frühstücken können. Ja, er könnte gar - die Stundenuhr erlaubt es - einen kleinen Rundgang machen, hinaus in einen kühlen, spröden Spätoktober. Und genau das wird er jetzt tun.

    Der Weg vom Hotel zur Ortsmitte hin ist steil. Er geht raschen Schrittes. Ziemlich bald schon spürt er die eigene Herz-Lungenmaschine - schlecht austrainiert. Die Luft, die er in kurzen hastigen Stößen einsaugt, sticht wie mit Eisnadeln in seinen Atemwegen. Da wäre, überlegt er, noch etwas, was ihn begleitet: Eine Mattigkeit, umlagert ihn seit Tagen, verhangen, diffus, steril. Gibt es Grund zu Befürchtungen? Gibt sein Allgemeinbefinden Anlass, sich Sorgen zu machen? Nein, im Grunde nicht.

    Und sonst? Irgendwelche chronischen Beschwerden? Keine. Fantomschmerz? Erbkrankheiten? Mitesser? Ebenfalls keine. Er hat vor kurzem erst einen Check-up machen lassen. Blutdruck unverdächtig. Nichts Auffälliges unter den Laborwerten. Der Lebensabdruck eines Mittvierzigers... es könnte also normalverteilt weitergehen.

    Nick hat den Aufstieg vollendet. Er hechelt. Er ist Höhenunterschiede nicht gewöhnt. Er ist Flachländer. Der jüngere Teil des Ortes liegt vor ihm ausgebreitet. Bad Gastein. Es ist hier ziemlich anders als Zuhause. Kaum Leute in den Gassen, zu dieser Stunde, zu jeder anderen vielleicht auch. Er kauft eine Packung Zigaretten in einem kleinen Tabak- und Zeitschriftenladen. Gegenüber findet sich die Bahnstation, dahinter eine Seilbahn.

    Er wendet sich zurück, begibt sich wieder abwärts, hinab in den historischen Ortskern, der sich, in luftiger Höhe oberhalb des Tals, seidenmatt in sprödes Berggestein einschmiegt. Er geht auf der Hauptstraße. Der Lärm, der ihm voraus das Pflaster überbraust, zwischen den Belle-Epoque-Fassaden, rührt von diesem berühmten Wasserfall her. Berühmt? Na ja, sagen wir, weithin bekannt... Ein bündiger Lärm, und das einzig wirkliche physische Lebenszeichen einer, wie es ihm vorkommen will, betagten, nahezu erloschenen Stadt. So sein erster Eindruck. Mag sein, dass in naher Zukunft, etwa wenn Schnee fällt, der Schauplatz verändert erscheint, wintersportlich. Ein Spitzenkoch soll hier gelernt haben. Goethe soll einst hier gewesen sein, ebenso Mendelssohn und einst der Kaiser.

    Gestern war Sonntag. Und zur Kaffeehausstunde brachte man am Platze vor dem Kurmittelhaus einige spätromantische Tondichtungen zu Gehör. Eine kleine, flotte Wanderkapelle, bestehend aus sehr jungen Konzertmusikern, tat es. Es fanden allerdings nur wenige Zuhörer den Weg dorthin. Von der geöffneten Balkontür seines Hotelzimmers aus konnte er den Klängen folgen, hinter sanft wehenden Vorhängen...

    Nick schlägt einen Haken. Er kommt an seinem Automobil vorbei, das in einer Seitengasse parkt. Eine Straße weiter liegt das Spielkasino. Bekränzt von träge rieselndem Restlaub. Borke um Borke. Blatt um Blatt... Er setzt sich in sein Auto, raucht eine zweite Zigarette, schmiegt sich tief in das Connolly Leder, lässt eine Hand aus dem Wagenfenster baumeln; beinahe zärtlich berühren seine Finger das dunkel schimmernde Blechkleid des Cabriolets. In der hiesigen

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