SPAZIERGANG AM ABEND: Der Krimi-Klassiker aus Paris
Von J. L. Rousseau
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Über dieses E-Book
Der alte Tourneur macht seinen gewohnten Abendspaziergang durch die Straßen des Pariser Vororts Herblay. Plötzlich taucht ein Auto auf, das in rasendem Tempo auf ihn zu schießt. Er wird zu Boden gerissen und bleibt tot liegen. Der Fahrer des Wagens ist auf unerklärliche Weise verschwunden. Die seltsamen Umstände stellen Polizei und Versicherung vor die Frage: War es ein Unfall – oder wurde Tourneur vorsätzlich getötet?
Spaziergang am Abend von J. L. Rousseau (* 21. Januar 1932; † 10. November 1998) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1967.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Buchvorschau
SPAZIERGANG AM ABEND - J. L. Rousseau
Das Buch
Der alte Tourneur macht seinen gewohnten Abendspaziergang durch die Straßen des Pariser Vororts Herblay. Plötzlich taucht ein Auto auf, das in rasendem Tempo auf ihn zu schießt. Er wird zu Boden gerissen und bleibt tot liegen, Der Fahrer des Wagens ist auf unerklärliche Weise verschwunden. Die seltsamen Umstände stellen Polizei und Versicherung vor die Frage: War es ein Unfall – oder wurde Tourneur vorsätzlich getötet?
Spaziergang am Abend von J. L. Rousseau (* 21. Januar 1932; † 10. November 1998) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1967.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
SPAZIERGANG AM ABEND
Die Hauptpersonen dieses Romans
Joseph Tourneur: Rentner.
Pierre Lemarchat: Arbeiter.
Yvette Lemarchat: seine Frau.
Harry Hurter: ein amerikanischer Sergeant.
Gerd Kegel: Versicherungsinspektor.
Johannes Kern: Versicherungsdirektor.
Phenn-Siu: ein Koreaner.
Dieser Roman spielt in Paris und Umgebung.
Erstes Kapitel
Quietschend drehte sich das schmiedeeiserne Gartentor in den Angeln. Der Mann blieb einen Augenblick stehen und blickte die Straße entlang;
Kein Stern blitzte am nächtlichen Himmel, der ganz von dunklen Wolken bedeckt war. Nur der schwache Schein der weit auseinanderstehenden Laternen malte gelblich schimmernde Lichtreflexe auf den Boden. Sonst war alles in tiefe, beunruhigende Finsternis gehüllt.
Der Mann zog die Tür hinter sich zu und trat auf die Rue Carnot hinaus. In den Häusern an dieser Straße des Pariser Vorortes Herblay sagte man sich: Aha! Vater Tourneur ist wieder unterwegs zu seinem Stammlokal.
Es konnte sich gar nicht um eine andere Person handeln. Der alte Mann hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren, und bei jedem seiner Schritte hallte das Aufsetzen seines Holzbeines auf dem harten Asphalt wider. Aber trotz der schweren körperlichen Behinderung ließ er es sich nicht nehmen, Abend für Abend den fast zwei Kilometer langen Weg zu dem kleinen Bistro einzuschlagen, das in der Nähe des Gemeindehauses lag. Es entsprach seiner Gewohnheit, dort in aller Ruhe ein Gläschen Cognac zu trinken.
Plötzlich wurde die Straße in eine Lichtflut getaucht. Der Mann mit dem Holzbein sah, wie sein Schatten sich vor ihm grotesk in die Länge zog, ins Riesenhafte verzerrt. Ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern war hinter ihm aufgetaucht.
Trotzdem marschierte er seelenruhig in der Mitte der Fahrbahn weiter.
Für ihn war das eine Sache des Prinzips, und er war nicht geneigt, sich in dieser Hinsicht jemals belehren zu lassen. Wenn man das stattliche Alter von siebzig Jahren erreicht hatte, wenn das Haar weiß geworden war, und wenn man zu der drückenden Last des Alters auch noch Invalidität in Kauf nehmen musste, dann hatte man es nicht nötig, wie ein verängstigtes Tier zur Seite zu springen, um den jungen Taugenichtsen Platz zu machen, die, hinter das Steuer ihres Autos geklemmt, glaubten, alle Privilegien für sich in Anspruch nehmen zu können.
Die beiden Lichter kamen rasch näher. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis der Fahrer gezwungen sein würde, jäh und heftig zu bremsen, um einen Unfall zu vermeiden. Bei diesem Gedanken breitete sich ein schadenfrohes Lächeln auf den Zügen des Invaliden aus. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen ganz eigener Art, hinter sich das Knirschen der Bremsen und das Kreischen der blockierten Räder zu vernehmen. Und wenn sich dann der Fahrer gar noch aus dem Wagen beugte, um ihn zornig zu beschimpfen, dann erreichte seine Freude ihren Höhepunkt.
Gerade an diesem Abend befand er sich in ausgesprochen angriffslustiger Stimmung. Dieser eingebildete Geck würde sein blaues Wunder erleben! Er würde ihm ganz gehörig die Meinung sagen.
Mit allem Nachdruck würde er ihm erklären, dass die junge Generation den Veteranen des Großen Krieges Respekt und Achtung schuldete, dass...
Das Lächeln des alten Mannes machte plötzlich einem Ausdruck verständnisloser Überraschung Platz. Bevor er wusste, wie ihm geschah, spürte er einen furchtbaren Schlag im Rücken. Der alte Mann wurde nach vorn geschleudert und schlug dann hart auf die Straße.
Zweites Kapitel
Das Knattern des Mopeds wurde lauter und brach dann unvermittelt ab. Das Ächzen der schweren Tür des Mietshauses klang herauf. Die junge Frau, die über das Spülbecken gebeugt stand, drehte sich um, strich sich mit der feuchten Hand eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und rief den beiden Kindern - einem Jungen und einem Mädchen die gerade anfangen wollten, sich zu balgen, zu:
»Seid brav jetzt, ihr beiden. Papa kommt.«
Draußen knarrten die Stufen der Holztreppe. Gleich darauf öffnete sich die Wohnungstür, und ein noch junger Mann, mit einer braunen Lederjacke bekleidet, die an einigen Stellen schon abgewetzt war, trat über die Schwelle.
Er schien müde und erschöpft. Langsam ließ er seinen Blick durch die Wohnung streifen, die seit fünf Jahren sein Zuhause war: ein einziges Mansardenzimmer. Durch das schmale Dachfenster drang ein letzter Schimmer des Tageslichts. Der Raum war überfüllt mit den Möbelstücken, die für eine fünfköpfige Familie unentbehrlich sind. Ja, seit vor drei Monaten Josette geboren worden war, zählte die Familie fünf Mitglieder. Die beiden Geschwister des Neugeborenen waren Catherine, die vor kurzem sechs Jahre alt geworden war, und Daniel, der dreizehn Monate nach seiner älteren Schwester geboren worden war.
»Na, kommst du rein oder nicht? Was ist denn mit dir los?«, fragte die junge Frau.
Er schien wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Knallend schlug er die Tür hinter sich zu.
»Was machst du nur für ein komisches Gesicht! Hast du in der Fabrik Krach gehabt?«
»Ach, hör auf, Yvette! Lass mich in Frieden.«
Sie beugte ihren blonden Kopf zu ihrem Mann hinunter, der sich in einen Sessel hatte fallen lassen.
»Jetzt hör mir einmal zu, Pierrot! Du legst wirklich ein höchst eigenartiges Benehmen an den Tag. Immerhin bin ich deine Frau und habe ein Recht, zu wissen, was für eine Laus dir über die Leber gelaufen ist. Hast du vielleicht mit eurem Vorarbeiter, diesem Cro... na, wie heißt er denn schnell, einen Streit gehabt?«
»Mit Cornorin? Du kommst auf die abwegigsten Gedanken! Wir verstehen uns jetzt ausgezeichnet.«
Mit einer hastigen Bewegung schenkte er sich ein Glas Wein ein und trank es mit einem Zug leer.
»Trink nicht so viel vor dem Essen!«
Ohne ein Wort der Erwiderung warf er wütend das Glas an die Wand, wo es in tausend Scherben zersprang.
»Aber was ist denn nur mit dir los, Pierrot?«, stammelte die junge Frau verständnislos, den Tränen nahe. »Bist du plötzlich wahnsinnig geworden? Da, jetzt hast du’s erreicht, die Kleine weint!«
»Die Kleine weint«, echote er. Er schien auf einmal ruhig geworden zu sein, als habe ihn dieses Argument seiner Frau besiegt. »Gut, sprechen wir einmal von der Kleinen.«
Die Mutter, die sich über den Stubenwagen gebeugt hatte, um ihr Jüngstes zu beruhigen, hob den Kopf.
»Was willst du damit sagen?«, fragte sie überrascht.
»Ja«, brüllte er plötzlich wieder aufgebracht. »Sprechen wir von der Kleinen... und von ihren beiden Geschwistern. Du findest wohl, sie sind hier bestens aufgehoben, was? Und ich? Abends komme ich todmüde von der Arbeit heim... Heim! Dass ich nicht lache! Nennst du das ein Heim?«, schrie er. Mit einer weit ausholenden Armbewegung umschloss er den ganzen Raum.
»Wunderbar ist das! Seit fünf Jahren hausen wir in einem einzigen Zimmer. Und du schreist mich an, weil die Kleine weint. Sie wird noch öfter weinen.«
»Das ist es also. Das ist also der Grund«, murmelte die junge Frau, die plötzlich verstand.
»Jawohl, genau das ist es. Ich habe jetzt restlos- genug, verstehst du! Genug, genug, genug«, brüllte er, während er seine Worte mit heftigen Faustschlägen auf den Tisch unterstrich. »Und wenn ich in meiner eigenen Wohnung nicht einmal mehr einen Schluck Wein trinken kann, wenn mir danach zumute ist, dann...«
»Bitte, Pierrot, beruhige dich«, flehte die junge Frau. »Sei doch vernünftig! Mit Ungeduld kommst du nicht weiter. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir früher oder später das Haus haben werden.«
Mit einem nervösen Auflachen schnitt er ihr das Wort ab.
»Früher oder später... Wann? Wann denn? In zwanzig Jahren vielleicht? Ich habe den Vater Tourneur erst vor kurzem getroffen. Der alte Knacker hat es nicht im geringsten eilig. So wie er gebaut ist, kann er hundert Jahre alt werden. Mit Leichtigkeit! Und wir haben das Nachsehen!«
»Sprich nicht so, Pierrot! Das wird sich eines Tages rächen.«
»Ich bin jetzt an einem Punkt angelangt, wo mir alles egal ist«, gab er zurück.
»Aber hör mich doch einmal an! Als du damals mit ihm vereinbart hast, das Haus von ihm auf Leibrente zu kaufen, da wusstest du genau, dass...«
»Was wusste ich genau? Ich weiß nur eines: dass ich nämlich damals die größte Dummheit meines Lebens begangen habe. Aber zu der Zeit sahen wir ja alles durch die rosarote Brille, wir waren jung und optimistisch. Ich war zweiundzwanzig, du hast Catherine erwartet, wir wollten heiraten, die ganze Welt schien uns offenzustehen. Der Alte muss damals ungefähr fünfundsechzig Jahre alt gewesen sein. Für mich war das etwa das gleiche, als wenn er schon tot gewesen wäre. Ohne zu zögern, habe ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen; sie schien mir einmalig. Wir sollten ihm bis zum Ende seiner Tage eine kleine Rente zahlen und dafür nach seinem Tode das Haus erben.«
Er unterbrach sich und schlug krachend mit der Faust auf den kleinen Tisch, der unter dem Schlag zusammenzubrechen drohte. Dann fuhr er mit zornbebender Stimme fort:
»Und jetzt warte ich seit fünf Jahren. Seit fünf Jahren schufte ich wie der niedrigste Sklave, damit dieser gerissene alte Kerl einen angenehmen Lebensabend verbringen kann, und jeden Abend sehe ich dich hier mit den Kindern. Ja meinst du denn, ich könnte diesen menschenunwürdigen Zustand noch lange ertragen? Hast du dir schon einmal überlegt, dass es mir möglicherweise blüht, dreißig Jahre meines Lebens Abend für Abend Überstunden zu machen, um dem alten Schmarotzer seine Rente bezahlen zu können? Angenommen, er wird fünfundneunzig Jahre alt, dann bedeutet das für mich dreißig Jahre, Yvette. Stell dir das doch einmal vor, dreißig Jahre! Bis dahin sind die Kinder längst erwachsen und brauchen uns nicht mehr. Vielleicht sind sie sogar schon verheiratet.«
»Das Haus ist dann eben für die Kinder...«
»Das Haus? Ja, natürlich! Nur werden sie dann drei Häuser brauchen.«
»Ach, Pierrot, nimm doch endlich Vernunft an! Was kannst du denn daran ändern? Wir müssen uns eben gedulden. Man kann ja schließlich nie wissen. Vielleicht passiert ihm plötzlich etwas!«
»Für mich ist jetzt der Zeitpunkt gekommen«, murmelte er mit düsterer Miene, »wo ich es so einrichten werde, dass ihm etwas passiert.«
»Pierrot«, rief sie entsetzt aus. »Ich bitte dich! Du sprichst doch nicht im Ernst!«
»Doch, das ist mein völliger Ernst. Die Lust zum Scherzen ist mir vergangen. Sag doch einmal selbst, glaubst du denn nicht, dass es für alle Beteiligten am besten wäre, wenn ihm etwas zustößt?«
»Du bist ja wahnsinnig geworden. Du hast vollkommen den Kopf verloren. Man wird dich ins Gefängnis stecken, wenn...«
»Es genügt, sich nicht erwischen zu lassen...«
»Sei ruhig. Ich will das nicht mehr hören. Wenn die Nachbarn dich hören...«
»Na und? Meinetwegen gern, mir ist das absolut gleichgültig. Was können denn die lieben Nachbarn schon an der Sache ändern? Was können sie tun?«
»Sie werden sagen, dass du ihn umgebracht hast, dass sie dich gehört haben...«
»Ich habe ihn ja noch gar nicht getötet«, erwiderte er, ruhiger geworden. »Ich habe das alles nur so dahingesagt, um meinem Ärger Luft zu machen.«
»Das will ich auch hoffen«, gab die junge Frau beruhigt zurück.
Sie kannte die plötzlichen Wutausbrüche ihres Mannes, und einen Augenblick lang hatte sie tatsächlich befürchtet, dass er den Worten die Tat folgen lassen würde. Aber nein, das war ja lächerlich, im Grunde genommen war Pierrot doch ein vernünftiger Mensch. Er würde niemals...
»Wohin gehst du?«, rief sie ängstlich, als sie ihn auf die Wohnungstür zugehen sah.
»Ich habe keine Zigaretten mehr«, beruhigte er sie. »Ich will nur schnell zum Tabakgeschäft um die Ecke.«
»Du wirst doch nicht...«
»Was werde ich nicht?«
»Nun, was du eben gesagt hast. Wegen Vater Tourneur... ein Unfall...«
Anstelle einer Erwiderung zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern.
»Du brauchst das doch nicht alles gleich für bare Münze zu nehmen! Wie soll ich denn so einen Unfall herbeizaubern? Soll ich den Mann in die Seine werfen? Ich habe dir doch gesagt, dass ich mir einmal meinen Ärger von der Seele reden musste.«
Ohne ein weiteres Wort schlug er die Tür hinter sich zu. Sie legte schweigend die Tischdecke auf, um den Tisch für das Abendessen zu decken.
Drittes Kapitel
»Kommen Sie herein«, rief Yvette, als sie das Klopfen an der Tür vernahm.
Ein junger Mann mit Brille und einem kleinen Bärtchen, der einen weiten Dufflecoat trug, trat über die Schwelle.
»Guten Tag«, sagte er voller Wärme und Herzlichkeit. »Nun, wo fehlt es denn?«
»Ich mache mir Sorgen um Daniel, Herr Doktor«, erklärte die junge Frau. »Er hat erhöhte Temperatur und hat die ganze Nacht gehustet.«
Der Arzt stellte sein Köfferchen auf dem Tisch ab und öffnete es, während er mit nachdenklicher Miene den kleinen Jungen betrachtete, der in seinem Bett lag.
»So, kleiner Mann«, forderte er den Jungen freundlich auf, um ihm seine Angst vor