Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Toten vom Petritorwall: Ein Braunschweig-Krimi
Die Toten vom Petritorwall: Ein Braunschweig-Krimi
Die Toten vom Petritorwall: Ein Braunschweig-Krimi
eBook269 Seiten3 Stunden

Die Toten vom Petritorwall: Ein Braunschweig-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der frühere Busunternehmer Wolfgang Bredel wird in seiner Wohnung tot aufgefunden.
Norbert Wenger und Gaby Brandt stoßen bei ihren Ermittlungen auf
einen Strudel aus Lügen, Missbrauch und Erpressung. Bald geschieht im
direkten Umfeld des Opfers ein zweiter Mord. Als die beiden Hauptkommissare
schon fast nicht mehr an die Aufklärung des Falles glauben, kommt ihnen
der Zufall zu Hilfe. Am Ende muss Norbert Wenger bis in das kleine Dorf Kepino in
Niederschlesien reisen, um Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Wird es ihm und
seinem Team gelingen, die Morde aufzuklären?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum31. Okt. 2020
ISBN9783752920611
Die Toten vom Petritorwall: Ein Braunschweig-Krimi

Ähnlich wie Die Toten vom Petritorwall

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Toten vom Petritorwall

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Toten vom Petritorwall - Martina Wolff

    Kapitel 1

    Mai 2018

    Wolfgang Bredel betrachtete neugierig das flache Päckchen in seinen alten Händen. Es war schon am Tag zuvor bei ihm angekommen, aber Johannes hatte ihm am Telefon das Versprechen abgenommen, dass er bis Vatertag mit dem Auspacken warten würde. Er schickte ihm immer etwas zu Himmelfahrt. Er war so aufmerksam. Wie man es sich von einem Sohn eben wünschen konnte.

    Der alte Mann zog die Schleife auf, die um das Geschenkpapier gewunden war. Der kleine Streifen Tesafilm, der das Papier zusammenhielt, riss dabei ein wenig von der Farbbeschichtung herunter. Freudig sah er seine Lieblingspralinen unter dem Papier hervorlugen, die teuren aus Italien, die Johannes ihm immer mitbrachte, wenn er von seinen Geschäftsreisen kam. Gianduia-Pralinen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als er das Etikett las. Italienisch verstand er nicht. Nur dieses eine Wort. Gianduia. Nougat. In dem großen Eiscafé in den Herzog-Arkaden gab es Gianduia-Eiscreme. Manchmal fuhr Wolfgang Bredel dorthin. Nur für das Eis. Oft waren ganze Haselnüsse darin.

    Mühselig erhob er sich aus seinem Ohrensessel aus rotem Samt. Seit Jahrzehnten stand er hier am Fenster. Seitdem er mit Ilse in die schöne Altbauwohnung am Petritorwall gezogen war. Die Villa am Zuckerbergweg hatte er verkauft, obwohl Ilse dagegen gewesen war. Aber sie war zu groß geworden, nachdem die Kinder aus dem Haus gegangen waren. Es war das Vernünftigste gewesen, und schließlich hatte Ilse sich fügen müssen.

    Er ging in die Küche, um eine Porzellanschale zu holen. Es wäre ihm zuwider gewesen, die kostbare Schokolade aus der Verpackung zu essen. Er wollte die Pralinen bei einer guten Tasse Kaffee und einem Glas Cognac genießen. Mit einem Messlöffel füllte er Kaffeepulver in den Filter seiner Kaffeemaschine und schaltete sie an. Sofort fing sie an, leise zu glucksen. Niemand hatte so guten Kaffee kochen können wie Ilse. Seit ihrem Tod musste ein elektrischer Apparat diese Aufgabe übernehmen, auch wenn Wolfgang Bredel das störte.

    Als der Kaffee durchgelaufen war, holte der alte Mann eine Meißner Tasse aus dem Schrank und stellte sie zusammen mit dem gefüllten Cognacschwenker auf den kleinen Beistelltisch neben dem Ohrensessel. Ilse hatte immer Wert auf einen schön gedeckten Tisch gelegt. Das Meißner Porzellan hatte er ihr zur Silberhochzeit geschenkt, die große Feldblume mit zwei Nebenblumen, die sie sich immer gewünscht hatte. Wolfgang Bredel seufzte bei dieser Erinnerung und platzierte die Schale mit den Pralinen zwischen dem Glas und der Tasse. Dann schenkte er sich Kaffee ein. Schwarz mochte er ihn am liebsten. Er setzte sich nieder und legte sich die bunte Patchworkdecke auf die Knie, die ihm seine alte Freundin Wally zu Weihnachten genäht hatte. Draußen waren über zwanzig Grad, aber in seiner Wohnung war es kühl. Die dichten alten Bäume am Petritorwall ließen nur wenig Sonne durch. Obwohl es ihm finanziell gut ging, weigerte er sich beharrlich, nach dem dreißigsten April noch zu heizen.

    Er stieß einen wohligen Seufzer aus und griff nach einer der Pralinen. Er betrachtete sie einen Augenblick, um die Vorfreude zu steigern, dann steckte er sie sich in den Mund und ließ sie genussvoll auf der Zunge zergehen. Sie waren einfach unwiderstehlich. Während er die süße Sünde genoss, hörte er draußen im Treppenhaus ein Geräusch. Er lauschte. Jemand schien sich an der Wohnungstür zu schaffen zu machen. Er schlug die Decke zur Seite und stand auf. Verdammt, wann war er so unbeweglich geworden? Obwohl er mit seinen siebenundachtzig Jahren noch schlank und drahtig war, ließen die Kräfte in seinen Gelenken nach, was er nicht verstand, denn er hatte sein Leben lang Sport getrieben. Er wischte den Gedanken wieder weg. Immerhin konnte er noch eigenständig in seiner Wohnung leben, wo viele seiner Bekannten schon einen Platz im Seniorenwohnheim ihr Eigen nannten oder schlimmer, bereits tot waren.

    Langsam schlurfte er in den Flur. Hinter der Riffelverglasung der Wohnungstür konnte er schemenhaft einen Mann erkennen, der offenbar versuchte, sich Zutritt zur Wohnung zu verschaffen. Wolfgang Bredel atmete schneller und begann zu zittern. Was wollte der Kerl von ihm? So leise er konnte, ging er zurück ins Wohnzimmer. Er hoffte, dass der Fremde ihn noch nicht gesehen hatte, und ging zu dem kleinen Telefontischchen, wo ein uraltes, aber funktionstüchtiges Telefon mit Wählscheibe stand. Die modernen Dinger mit Tasten und ohne Kabel hatte er noch nie leiden können.

    Er nahm den Hörer ab und wählte die erste Ziffer des Notrufes. Weiter kam er nicht. Ein scharfer, spitzer Gegenstand bohrte sich mit voller Kraft in seinen unteren Rücken. Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr ihn, und er versuchte, zu schreien. Vergeblich. Seine Beine gaben nach, und er sank zu Boden. Das Messer wurde aus seinem Leib gezogen. Wieder dieser schreckliche Schmerz! Eine für ihn unsichtbare Hand griff seinen noch immer üppigen Haarschopf und riss seinen Kopf nach hinten. Die Klinge des großen Messers, das sich zuvor in seine Rippen gebohrt hatte, wurde nun an seinem Hals angesetzt. Er konnte noch wahrnehmen, wie das scharfe Instrument seine Kehle durchschnitt, und er versuchte vergeblich, mit der Hand den Blutschwall aufzuhalten, der in nicht enden wollenden Strömen aus seiner Halsschlagader gepumpt wurde. Dann kippte sein Körper leblos nach vorn auf den Boden. Dass sein Mörder ihm noch einen Tritt versetzte, um festzustellen, ob er tot war, bekam er nicht mehr mit.

    Kapitel 2

    Freitag, 27. Oktober 1944

    Langsam rumpelte das Pferdefuhrwerk mit dem behäbigen dunkelbraunen Kaltblüter über das regennasse Kopfsteinpflaster des kleinen Dorfes Kampen. Kurt Bremer saß auf dem Kutschbock und blickte grimmig geradeaus. Er war vierzig Jahre alt, und vom Körperbau her mittelgroß und schmächtig, was nicht in seiner Natur lag, sondern eher einer unregelmäßigen Versorgung mit Nahrung geschuldet war. Sein Gesicht war verhärmt, und auf der rechten Wange trug er eine lange, dunkelrote Narbe, ein Andenken an seinen letzten Abend im Schützengraben, wo der Granatsplitter nur knapp sein Auge verfehlt hatte. Das war nun drei Jahre her. Draußen waren es an diesem kalten Oktobernachmittag kaum fünf Grad, und aus dem wolkenverhangenen Himmel über Niederschlesien fiel Sprühregen.

    Als die schmale Dorfstraße sich gabelte, zog Kurt Bremer an den langen, schwarzen Lederzügeln, um das Pferd zum Stehen zu bringen. Ein Dorfbewohner, der das offenbar beobachtet hatte, kam mit unverhohlen misstrauischem, aber vor allem neugierigem Blick auf den Fahrer zu.

    „Wohin des Weges?", fragte er ihn.

    Dabei spuckte er ein Streichholz, auf dem er zuvor herumgekaut hatte, auf die Straße. Kurt Bremer befestigte die Zügel an einer Stange vor dem Kutschbock, stand mühselig auf und glitt hinunter auf das Pflaster. Dort angelangt, rutschte er mit seinen schweren ledernen Militärstiefeln auf dem glatten Untergrund aus und wäre beinahe gestürzt, hätte der Dorfbewohner ihn nicht in letzter Sekunde festgehalten.

    „Danke", sagte er nur.

    Der Mann aus dem Dorf warf einen Blick auf die Ladefläche des Wagens.

    „Was bewegt sich denn da?"

    Kurt Bremer folgte seinem Blick. In dem Moment kam eine große Schiebermütze unter der grauen Plane hervor. Er lächelte kaum merklich.

    „Das ist mein Sohn Heinrich."

    „Wie alt ist denn der junge Mann?"

    „Zwölf."

    Kurt Bremer war von der langen Fahrt erschöpft und beschränkte sich auf eine kurze Antwort.

    „Ich suche den Hof von Fritz Heckner", erklärte er dem Dorfbewohner.

    „Da müssen Sie hier links runter, bekam er zur Antwort, „es ist der letzte Hof auf der linken Seite. Gegenüber den Insthäusern.

    Kurt Bremer hob die Hand zum Dank und stieg wieder auf seinen Wagen. Er schnalzte mit der Zunge, und der Kaltblüter setzte sich in Bewegung.

    Bald konnte er den Eingang zum Hof erkennen. Ein grünes schmiedeeisernes Eingangstor, das von zwei Backsteinpfosten gehalten wurde, zeigte dem Besucher sogleich, wer hier das Sagen hatte. Auf dem linken Torflügel prangte ein großes, geschwungenes F, auf dem rechten ein H. Ein kräftiger schwarzer Hofhund, der die Fremden bereits lange bemerkt zu haben schien, denn er lief nervös vor dem Tor hin und her, schlug nun lautstark an. Der Lärm des Hundes rief unvermittelt einen etwa sechzigjährigen Mann in dunkelgrauer Arbeitskleidung auf den Plan. „Arko! Sei still!"

    Der Hund sah ihn fragend an und trottete dann davon.

    „Wohin wollen Sie?"

    Der Hofbewohner sah Kurt Bremer nun eher freundlich als misstrauisch an. Dieser deutete wieder ein Lächeln an.

    „Ich soll mich hier als Landarbeiter melden. Mein Name ist Kurt Bremer."

    „Warten Sie einen Moment, ich bin gleich zurück."

    Der ältere Mann ging nach rechts und betrat das Herrenhaus. Bremer betrachtete das Gebäude, in dem der Mann verschwunden war. Es musste mehrere hundert Jahre alt sein, war jedoch in einem sehr gepflegten Zustand. Es war verputzt und in einer Mischung aus hellem Beige und Gelb gestrichen. Die Dachziegel waren rostrot und glänzten vom Regen. Im Erdgeschoss nahm er die Haustür aus dunklem Holz wahr, deren Verglasung durch ein grün lackiertes Gitter geschützt wurde. Auch darin hatte ein Kunstschmied die Initialen des Gutsherren eingearbeitet. Links von der Haustür befand sich ein hölzerner Windfang mit einer weiteren Tür. Kurt Bremer konnte Essensdüfte riechen, die aus dem Windfang kamen. Das musste die Gutsküche sein. Der gesamte Hof machte den Eindruck, dass hier ein wohlhabender Grundbesitzer lebte. Auf dem Gelände standen mindestens zehn in einem eckigen Hufeisen angeordnete, teilweise zusammenhängende Gebäude. Kurt Bremer war beeindruckt. Noch nie hatte er auf einem so großen Gut gearbeitet. Die Insthäuser, wie die kleinen Landarbeiterhäuser genannt wurden, gehörten sicher auch dazu. Ob er mit Heinrich in einem dieser Häuser wohnen würde? Er sah sich weiter um. Die Gebäude, die sich an das Herrenhaus anschlossen, waren offenbar die Stallungen und die Scheunen. Auf der linken Seite des Hofes bemerkte Kurt Bremer ein weiteres, nicht ganz so großes, aber nicht weniger gepflegtes Wohnhaus. Auf dem letzten Hof, auf dem er vor dem Krieg als Knecht gearbeitet hatte, war ein ähnliches Haus gewesen. Darin hatten die Eltern des Hofbesitzers gewohnt. Kurt Bremer vermutete, dass es sich auch hier um so etwas wie ein Altenteil handelte.

    Der Hofbedienstete kam zurück und öffnete das Tor. „Führen Sie den Wagen auf den Hof! Hinten links ist der Pferdestall, dort können Sie Ihren Gaul unterstellen und ihn mit Futter und Wasser versorgen. Den Wagen lassen Sie erstmal da unter dem Walnussbaum stehen, um den kümmert sich nachher ein Helfer. Ich bin in einer halben Stunde wieder da, dann zeige ich Ihnen, wo Sie wohnen werden. Sind Sie allein?"

    Bremer schüttelte den Kopf. „Mein Sohn Heinrich ist bei mir."

    Er deutete nach hinten auf die Ladefläche, wo sein Junge inzwischen aufgestanden war und gerade herunterspringen wollte.

    „Nun, dann mal herzlich willkommen! Wir können jede helfende Hand gebrauchen. Viele unserer Arbeiter sind in den Krieg gezogen und nicht mehr zurückgekehrt. Wie ich sehe, haben Sie Glück gehabt." Der Mann deutete auf Bremers Narbe. Dieser nickte nur bestätigend.

    „Ich heiße übrigens August Joost. Aber alle hier nennen mich nur Gustl. Ich bin der Großknecht und werde sozusagen Ihr Vorarbeiter sein."

    Kurt Bremer lüftete seine alte Feldmütze zum Gruß, packte dann die Zügel seines Pferdes und zog es auf den Hof, gefolgt von seinem Sohn. Während er das Tier in Richtung Stall lenkte, bemerkte er neben der Haustür des Altenteils einen Jungen, der einige Jahre älter zu sein schien als Heinrich. Er war groß und recht gut gekleidet, was Bremer vermuten ließ, dass es sich um den Sohn des Gutsherren handelte. Er sah Heinrich an.

    „Der Junge da ist sicher der Sohn der Herrschaft. Mit dem musst du dich gut stellen."

    Heinrich zuckte die Schultern, riskierte aber dann doch einen Blick zu dem Jungen. Kurt Bremer bemerkte, dass dieser seinen Sohn von oben bis unten musterte und dann spöttisch grinste. Verunsichert sah Heinrich seinen Vater an. Kurt Bremer zuckte die Schultern und begann, das Pferd abzuschirren.

    „Komm schon, hilf mir! Der Gutsherr wartet nicht ewig auf uns."

    Heinrich nahm seinem Vater das Halsgeschirr aus der Hand, legte es auf den Wagen und breitete die Plane darüber aus, um das Leder vor dem Nieselregen zu schützen. Kurt Bremer führte das Tier in den Stall und versorgte es mit Heu und Wasser. Er rieb es trocken, um es bei dem feuchtkalten Wetter vor Verkühlungen zu schützen. Dann warf er ihm eine Wolldecke über und ging wieder zum Ausgang. Er wollte gerade hinaustreten, als er den Jungen von vorher dabei beobachtete, wie er seinem Sohn auf den Rücken schlug.

    „Na, du Hänfling?, sagte er, „du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du und dein narbengesichtiger Vater uns bei der Hofarbeit helfen wollt! Ihr brecht doch schon zusammen, wenn ihr einen Grashalm gepflückt habt.

    Dabei lächelte er kalt und versetzte Heinrich mit den ausgestreckten Fingern seiner rechten Hand einen so kräftigen Stoß unters Schlüsselbein, dass dieser aufjaulte. Kurt Bremer trat aus dem Stall und sah den Jungen an. Doch dieser schien sich davon nicht gestört zu fühlen.

    „Rüdiger! Komm rein, es gibt Kaffee!", rief eine Frauenstimme aus dem Herrenhaus. Erleichtert nahm Bremer wahr, dass der Junge gemeint war, denn der rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, über den Hof zum Eingang des Gutshauses. Kurt Bremer seufzte. Sein Sohn würde auf diesem Hof kein einfaches Leben haben, das ahnte er. Sehnsüchtig dachte er an die Zeit zurück, als seine Frau noch gelebt hatte. Drei Jahre war es nun her, dass er aus dem Krieg zurückgekehrt war. Er war schwer verwundet worden. Aber die Familie war wieder beieinander, das allein zählte. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Geschwisterchen für Heinrich ankündigte. Alle freuten sich auf die Ankunft des neuen Familienmitgliedes, doch wenige Tage nach der Geburt seiner kleinen Tochter Gerda starb ihre Mutter im Kindbett. Auch der Säugling überlebte nicht, und so blieben Kurt Bremer und sein Sohn allein zurück. Der Verlust seiner Frau und seiner Tochter hatte aus ihm einen gebrochenen, schweigsamen Mann gemacht. Jeden Tag vermisste er Hedwig und Gerda mehr. Manchmal wusste er nicht, wie es weitergehen sollte. Er musste sich und seinen Sohn ernähren. So hatte er begonnen, sich als Landarbeiter zu verdingen, weil er Heinrich auf diese Weise in seiner Nähe haben konnte. Er hatte bisher mit seinen Herrschaften Glück gehabt, jedoch konnte er sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal gelacht hatte.

    Kurt Bremer war müde von der Kutschfahrt, aber er musste noch durchhalten. Gustl Joost war inzwischen aus dem Herrenhaus gekommen und wartete bereits am Eingangstor. Kurt Bremer legte seinem Sohn den Arm um die Schulter. Joost führte sie zu einem der Insthäuser und schloss die Tür auf.

    „Das wird fortan eure Bleibe sein. Die Möbel gehören zum Haus, aber ansonsten könnt ihr euch so einrichten, wie es euch gefällt. Packt erstmal eure Sachen aus. Um sechs Uhr gibt es Abendessen, das nehmen alle noch verbliebenen Hofarbeiter mit ihren Familien gemeinsam ein. Kommt einfach herüber zum Tor, ich hole euch dann ab."

    Er lächelte Kurt Bremer und Heinrich freundlich an und verließ das Insthaus.

    12. Mai 2018

    Hauptkommissarin Gaby Brandt saß an ihrem Küchentisch und hielt sich die Hand vor den Mund, um vor einem nicht vorhandenen Zuschauer ihr Gähnen zu verbergen. Es war zehn Uhr morgens. Sie hatte den Freitagabend nach Himmelfahrt gemeinsam mit ihrem Mann Ekki auf einer Grillparty bei Freunden verbracht. Ekki trank so gut wie niemals Alkohol, denn er achtete als Fitnesstrainer mit eigenem Studio auf eine gesunde Ernährung. Ein Glas Wein hier und da, mehr war nicht drin. Im vergangenen Jahr war er schwer verletzt worden, während sie an einem Mordfall arbeitete, in den er selbst involviert gewesen war. Seitdem nahm er es mit der Gesundheit noch genauer. Aber an diesem Abend war alles anders gekommen. Sie hatten bei ihren Freunden auf der Terrasse gesessen, hatten gegessen und getrunken und freuten sich auf das freie Wochenende, das sie mit Ausschlafen und spätem Frühstücken im Bett verbringen wollten. Doch dann hatte einer der anderen Gäste ein kleines Fass Borkumer Bohntjesopp geöffnet. Er hatte das teuflische Gebräu aus dem Urlaub auf der Ostfriesischen Insel mitgebracht. Es schmeckte köstlich süß, und die in Rum eingelegten Rosinen sorgten dafür, dass der Alkohol noch schneller in den Kopf stieg.

    Ekki hatte zunächst abgelehnt, doch dann hatte er sich doch zu einem Probeschluck überreden lassen, was sich als fataler Fehler erwiesen hatte, denn bei diesem Getränk würde sich niemand mit nur einem Schluck bescheiden. Nicht einmal Ekki.

    Während er seinen Rausch ausschlief, saß Gaby im Bademantel in der Küche. Sie hatte sich einen starken schwarzen Kaffee gekocht und wollte gerade den ersten Schluck zu sich nehmen, als ihr Diensthandy klingelte. Sie fluchte, denn sie wusste, dass das das Ende ihres freien Sonnabends bedeutete.

    „Brandt?" Sie merkte selbst, wie genervt sie klang, als sie sich meldete.

    „Tut mir leid, Gaby, wir haben einen Mordfall, du musst leider dein Frühstück mit deinem Mann abblasen."

    Ihr Kollege Norbert Wenger war ihr in dem einen Jahr, seitdem sie im FK1 arbeitete, ans Herz gewachsen. Sie lächelte. Er war ein guter Ermittler, aber manchmal brauchte er einen kleinen Schubs von ihr, um auf die richtige Spur zu gelangen.

    „Ekki liegt ohnehin noch in sauer. Wohin?"

    „Petritorwall 13, erster Stock, Bredel."

    Sie legte auf und ging ins Bad, duschte, putzte sich die Zähne besonders gründlich, um ihre Fahne zu verbergen, und zog sich an. Dann lief sie ins Schlafzimmer, in dem Ekki noch immer fest schlief. Er schnarchte laut. Gaby ging zu ihm und küsste ihn auf die Wange.

    „Ich muss los, wir haben einen Mordfall."

    Ekki grunzte nur und drehte sich zur anderen Seite. Gaby verließ die Wohnung in der Karlstraße, in der sie seit einigen Monaten mit Ekki zusammenlebte, und setzte sich in ihren kleinen Opel Corsa. Sie hoffte, dass sie nicht von den Kollegen von der Streife angehalten würde, denn sie war sich sicher, dass die letzten Fragmente der Bohntjesopp auch noch durch ihre Blutgefäße waberten.

    Als sie am Petritorwall ankam, konnte sie schon von weitem die vielen Streifenwagen erkennen. Sie erblickte einen alten goldfarbenen Peugeot und schmunzelte. Der schlaue Rolf war also schon da. Gaby stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Rolf-Peter Allershausen, wie der schlaue Rolf in Wirklichkeit hieß, war mit seinen Kollegen aus der KTU noch dabei, die Spuren zu sichern. Deshalb wurde sie von Norbert Wenger im Hausflur empfangen. Um unerwünschte Mithörer musste er sich dabei keine Sorgen machen, denn das Mordopfer hatte allein in der großen Etagenwohnung im ersten Stock gelebt, und im Erdgeschoss rührte sich nichts. Vielleicht

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1