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Oberlicht
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eBook267 Seiten3 Stunden

Oberlicht

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Über dieses E-Book

Die Handlung des Romans spielt zu Beginn der Achtziger Jahre des 20.Jhdts. Schauplätze sind Paris, teilweise Berlin, teilweise andere Örtlichkeiten. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes Anfang Dreißig, und erzählt wird sie von ihm selbst, ein nicht immer passgenaues Mosaik aus Zeitsprüngen und Rückblenden, aus Erlebnissen, Begegnungen und inneren Betrachtungen. Unser Held ist unterwegs, auf der Schnitzeljagd nach dem Abenteuer seines Lebens.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Nov. 2020
ISBN9783752922561
Oberlicht

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    Buchvorschau

    Oberlicht - Reinhold Zobel

    Kapitel 1

    Es ist fünf Uhr morgens, und der Wind hat gedreht. Unruhiger Schlaf. Hinter dem offenen Fenster rauscht es. Es ist die Straße. Das Hotel liegt an der Rue de Rivoli. Es ist laut, und das Hupen der Automobile klingt mir im Halbschlaf nach dem fernen Hornruf einer dunklen Prophezeiung. Ich träume von Paco und Lisa. Sie sitzen in einem Luftschiff, produzieren Seifenblasen. Paco ist der ältere Bruder von Fred.

    Als gestern mit Verspätung der Ersatzzug in Paris, in die Gare du Nord einlief, war ich durstig und müde. Es hatte eine Schneeblockade auf der Strecke gegeben. In Belgien. Mit dem Taxi ließ ich mich ins Hotel fahren. Erst einmal richtig ausschlafen, dachte ich. Fred würde warten müssen, ehe ich ihm berichten konnte…

    Am folgenden Tag nehme ich Kontakt mit unseren spanischen Partnern auf. Das Büro, in das ich bestellt werde, liegt im Osten der Stadt, nahe der Metro-Station Gambetta. Eigentlich sollte ich hier ja Manuel treffen, doch der ist nicht da. Er hat mir eine Nachricht hinterlassen, die mir einer seiner Kollegen mit einem Lächeln stumm überreicht. Ich nehme den Briefumschlag entgegen, öffne ihn. Darin finde ich einen Autoschlüssel und die in Englisch gehaltene Mitteilung, dass Manuel Paris leider habe kurzfristig verlassen und nach San Sebastian fliegen müssen, sein Bruder sei erkrankt. Ich möge doch seinen Peugeot nehmen und weiter nach Agen fahren…

    Ich begab mich in eine Brasserie, um etwas zu essen, kaufte dann eine Straßenkarte von Frankreich und rief Fred in Berlin an, um ihm die Neuigkeiten zu übermitteln. Anschließend setzte ich mich in Manuels Auto, das direkt vor dem Büro geparkt war und machte mich auf in Richtung Süden, in Richtung Agen. Ich nahm nicht die mautpflichtige Autobahn, sondern die Landstraße. Leider hatte ich die Gemengelage auf dieser Strecke unterschätzt. Lastwagen auf Lastwagen. Vorwärts in Zeitlupe. Gegen Mittag war ich erst auf der Höhe von Orleans.

    Dann kam der Nebel. Er brachte den Verkehr fast zum Erliegen. Der Schweiß brach mir aus. Die Scheinwerfer des lichtschwachen Peugeot reichten kaum mehr als ein paar Meter weit, ich fürchtete jeden Augenblick, den Wagen gegen ein Hindernis zu setzen. So ging es über Stunden. Wenigstens lag hier kein Schnee. Da es Winter war, wurde es aber früh dunkel. Erschöpft machte ich am späten Nachmittag eine Pause auf einem der seltenen Rastplätze. Ich wollte nicht mehr weiter. Vielleicht, dass sich bald ein halbwegs annehmbares Quartier finden ließ, wo ich die Nacht verbringen konnte.

    Als ich in die nächste Ortschaft einfuhr, hatte sich zwar der Nebel verabschiedet, dafür regnete es jetzt. Ein Regen, der in der aufkommenden Dämmerung zu Ruß mutierte. Der Ort wirkte kraftlos, ja erdrosselt. Ehe ich mich versah, hatte ich ihn durchfahren und blickte auf ein angrenzendes Waldstück. Der Regen wurde stärker. Ich sah ein Hinweisschild, sowie eine Toreinfahrt. Ein hôpital. Das massive Eisengitter der Einfahrt stand offen. Ich parkte davor. Mit einem Röcheln erstarb der Motor des Peugeot. War das hier noch das Abendland? Ich wusste es nicht. Vielleicht wusste es das kleine Mädchen mit den Streichhölzern.

    Das Gelände hinter dem Eisentor war umzäunt. Ich schritt die sandige Auffahrt entlang. Nach wenigen Metern besetzte ein grober Steinquader mein Gesichtsfeld, offenbar das Hauptgebäude des Krankenhauses. Bernsteingelbes Licht rutschte mir über die Stufen des Eingangsportals entgegen. Ich stieg die Stufen hinauf zur Eingangstür und betätigte die Klingel, die seitlich angebracht war. Wenig später schwang die Tür lautlos nach innen auf. Parbleu! Wurde ich erwartet? Ein Hopi im blauen Arbeitskittel trat aus der Empfangsloge im Flur und auf mich zu.

    "Vous désirez, M‘sieur?"

    "Verzeihen Sie, ich suche, ehm, ein Hotel."

    "Ein Hotel?"

    "Ja. Ich bin fremd hier, auf der Durchreise. Da ich es noch weit habe und erschöpft bin, wollte ich am Ort übernachten."

    "Da werden Sie kein Glück haben. Es gibt nur eine kleine Pension, und die hat geschlossen."

    So war das also. Etwas ratlos blickte ich die überlangen, beidseitig abzweigenden Korridore entlang. Die Wände waren blassgrün. Es roch klinisch, süßsauer, und unter dem Linoleum des Fußbodens, so argwöhnte ich, wucherte postglaziale Zahnfäule. Ich stand neben einer betagten Kommode, über ihr hing ein Marienbild, auf ihr dämmerte eine Blumenvase, aus deren Hals ein Strauß verdorrter Margeriten ragte, selbstvergessen, und in dem trüben Licht der Flurleuchten wirkte das einstige Weiß der Blüten kalkig, halbseiden, verstummt, Abglanz ausgefranster Kaiserträume auf aschegrauem Zelluloid.

    Ich erwartete nichts. Aber mir war flau im Magen. Und ich wollte ein weiches Federbett. Ein Lämpchen glühte auf, über der Pförtnerloge. Der Blaukittel sah es auch. Seine Miene blieb ausdruckslos. Er musterte mich mit der Schärfe eines Seziermessers. Ich stellte eine weitere Frage.

    "Sagen Sie, ist das hier ein Allgemeines Krankenhaus?"

    "Das ist kein Krankenhaus."

    "Nicht? Ich dachte... wo doch am Tor dieses Schild hängt..."

    "Es war einmal ein Krankenhaus: Jetzt ist es ein Pflegeheim, für Alte und Gemütskranke."

    "Ah bon."

    "Sie sind mit dem Auto unterwegs?"

    "Ja."

    "Allein?"

    "Allein."

    "Wenn Sie wollen, das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie die Nacht bei uns verbringen, wir haben noch Betten frei."

    "Das bedeutet... ich würde da zusammen mit anderen... Insassen schlafen?"

    "In einem Mehrbettzimmer, natürlich."

    "Sind es viele?"

    "Etwa zwei Dutzend."

    "Kranke oder Greise?"

    "Sie haben die Wahl. In beiden Stationen ist noch Platz."

    Ich nahm das Angebot an. Als ich später auf meiner Schlafpritsche lag, hörte ich rechts und links von mir ein diffuses Konzert aus Schnarch-Chören, Asthma-Rasseln und Furz-Bläsern, erzeugt von meinen Bettnachbarn, die ich im Dunkel dankenswerterweise nicht erkennen konnte, ein Konzert, das als düsteres Nachtlied meinen unsteten Schlaf dauerhaft begleiten sollte. Hinter den Fenstern tanzten ein paar nekrophile Lichterketten zwischen den tropfnassen Strähnen des nächtlichen Regens, der selber eine kleine, feine verhändelte Wassermusik hervorbrachte.

    Als ich erwachte, wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Ich sah mich um und sah, dass es nicht gut war. Alte Männer waren meine Bettgenossen, die meisten schliefen noch. Die Schlafstellen direkt neben mir waren Gott sei Dank unbesetzt, aber zwei Betten weiter fand sich bereits der erste Insasse, ein hohlwangiger Greis, der mich aus Fischaugen anstarrte und wirres Zeug brabbelte, sforzato. Mir war danach, eine Zigarette zu rauchen, aber die lagen im Auto. Was tun? Jedenfalls nicht so liegen bleiben. Also erhob ich mich, schlich mich aus dem Schlafsaal in den angrenzenden Flur.

    Ich besaß keine Uhr, doch es konnte nur sehr früh sein, und es war jetzt ganz still um mich herum. Am Ende des Ganges mussten sich, soviel erinnerte ich, die Waschräume befinden. Ich erinnerte mich, weil der Pförtner mir Tags zuvor kurz die wichtigsten Örtlichkeiten gezeigt hatte.

    So ist es denn auch. Ich betrete einen weiß gekachelten Raum mit Waschbecken, Duschen und Sitzbadewannen, abgetrennt davon, durch eine halbhohe offene Trennwand, die Toiletten und Pissoirs. Auch hier wieder dieser süßsaure Geruch, das trübe Grubenlicht. Ich trete an eines der Waschbecken, gieße mir kaltes Wasser über Gesicht, Brust und Arme und sehe mir mein bleiches, unrasiertes Spiegelbild an. Wenn es stimmt, dass man so alt ist, wie man sich fühlt, dann bin ich gerade gestorben. Und das Schweigen, das mich in dieser Fremde umschließt, ist eines, aus dem von Zeit zu Zeit kalt gepresstes Blut herauszutropfen scheint.

    Und da sind sie wieder, die kleinen roten Flecken links neben meinem Bauch, welche sich oberhalb der Hüften bis zur Mitte des Rückens hinziehen. Bereits am Vortage, morgens in dem Pariser Hotel, habe ich sie erstmals wahrgenommen. Sie sind nur ein bisschen größer geworden. Ein Hautausschlag? Mir ist, als gehe ein Jucken davon aus. Ich bin irritiert.

    Der Tag konnte nicht schlechter enden. Ich hätte mir nicht träumen lassen, an diesem Ort mehr als eine Nacht verbringen zu müssen. Doch eben das geschah. Nach dem kargen Frühstück im kargen Speisesaal im Kreise der Gespensterschar der Heiminsassen traf ich auf den diensthabenden Stationsarzt (wie ich später erfuhr, gab es überhaupt nur diesen einen) und zeigte ihm beiläufig meine Hautflecken. Der Mann, ein starkknochiger, stahlblauer Hüne warf einen kurzen prüfenden Blick auf die Rötungen, die sich mittlerweile zu Pusteln ausgestaltet hatten und kommentierte knapp:

    "ZosterGürtelroseHaben Sie Schmerzen?"

    "Nein."

    "Das kommt. Ich werde Ihnen ein Schmerzmittel geben und eine Tinktur, damit bepinseln Sie die befallenen Stellen. Und dann rate ich Ihnen zur Bettruhe. Am besten, Sie bleiben gleich ganz bei uns, die nächsten Tage über."

    Das klang in meinen Ohren wie eine Strafversetzung. Ich senkte den Kopf. Der Arzt ging seines Weges, ich zur Empfangsloge. Der Pförtner, an diesem Morgen in erstaunlich aufgeräumter, leutseliger Stimmung, riet mir, meinen Wagen auf dem Gelände hinter dem Hauptgebäude abzustellen, dort gäbe es einen Parkplatz für die Angestellten.

    In der Absicht, die gehobene Laune des Mannes zu nutzen, bat ich darum, mir ein Bett zuzuweisen, das möglichst abseits von den übrigen Insassen gelegen war. Der kleine, drahtige Mann entfaltete ein wohlfeiles Schmunzeln und nickte zustimmend. Er wies mich darauf hin, dass ich, sollte ich länger verweilen, zwar nicht für das Bett, wohl aber für die Verpflegung würde zahlen müssen und natürlich ebenso für die medizinische Versorgung. Außerdem möge ich ihm doch vorübergehend meinen Pass aushändigen, damit er die Personalien aufnehmen könne, die Bestimmungen des Hauses verlangten es so.

    Am Nachmittag kommen die Schmerzen. Schlimmer als Zahnweh. Vor allem, wenn ich mich bewege. Ich nehme von den Tabletten, die mir der Arzt gegeben hat. Das hilft, aber ich fühle mich trotzdem schlecht. Ich lege mich aufs Bett. Um diese Zeit ist niemand im Schlafsaal. Ich liege jetzt auf der Station der Gemütskranken.

    Hier gibt es eine Nische, in der man etwas räumlichen Abstand zu den übrigen Betten hat. Außerdem steht dort ein Paravent, der sich so zurecht rücken lässt, dass meine Schlafstelle vor Blicken weitgehend geschützt bleibt. Ist es der Schalk des Schicksals, dass ich jetzt auf dieser Station campieren muss? Der Stationsarzt bemerkte, als er mir die Medikamente übergab, dass die Krankheit für gewöhnlich als Folge einer persönlichen Krise auftrete. Er fragte aber nicht weiter nach Gründen.

    Ich liege da, mit im Nacken verschränkten Händen und betrachte die Zimmerdecke. Es ist eine hohe Decke mit Stuckornamenten. Das schwache Tageslicht, das durch die von Vorhängen gesäumten Fenster fällt, dämpft die Farben im Raum, alles wirkt auf mich daher wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film, was ich durchaus nicht als unangenehm empfinde. Ich trinke von dem Tee, den mir Schwester Maria, eine junge Farbige, gebracht hat. Als ich hier vorhin telefonieren wollte, sagte mir der Pförtner, zur Zeit seien die Leitungen im Haus defekt, es müsse erst ein Techniker kommen, den Schaden zu beheben. Die nächste Telefonzelle ist einen Kilometer entfernt, für meinen derzeitigen Zustand eine galaktische Distanz. Aber ich sollte irgendwie schon sehen, dass ich Fred verständige.

    Fred ist jünger als ich, drei Jahre jünger. Ich werde im nächsten Monat einunddreißig. Fred und ich sind nicht nur Freunde, wir sind auch stellungslos. Wir haben beide studiert, er Jura, ich Soziologie. Doch mit diesem Gepäck lässt sich nicht gut reisen. Wir lebten bisher in der Regel von Gelegenheitsjobs. Wir hatten die Idee, uns selbstständig zu machen, die Frage war, womit? Und solange diese Frage ungelöst um den Globus kreiste, glich unser Dasein einem Potpourri launiger, geschichtsloser Episoden. Häufig jobbten wir als Komparsen. Wir teilten uns eine Wohnung im Berliner Wedding, standen, wenn möglich, spät auf, saßen gern bis zum frühen Nachmittag in unserem bevorzugtem Café am Nollendorfplatz, bei gutem Wetter draußen, um dann am Ende eines langen Tages bereit zu sein für ausgedehnte Klubbesuche, die wir als Stammpersonal der Nachtbuslinie 119 beendeten.

    Es gab auch Zukunftspläne, doch glichen sie Schachpartien ohne Zeitlimit. So ging es etwa ein Erdenjahr. Dann stand der Zufall Pate. Auf einer Vernissage im Martin Gropius Bau lernten Fred und ich ein Mitglied einer kleinen aufstrebenden baskischen Schreiner Gruppe kennen. Manuel, so sein Name, zeigte uns beiläufig ein paar Fotos von selbst entworfenen Stühlen und Tischen. Und wir waren entflammt. Eine Idee war geboren - Möbeldesign. Ein Laden für Möbeldesign. Noch am selben Abend, nach einem Abstecher in den Tanzklub Dschungel, waren Fred und ich uns einig. Wir wollten die Spanier als Partner werben und selber in Berlin ein Geschäft eröffnen. Wir besorgten uns kurz entschlossen einen Gewerbeschein, borgten uns etwas Startkapital von Paco, der eine gut gehende Weinhandlung führte und als einziger für eine solche Anleihe in Frage kam und mieteten einen kleinen Laden mit einem großen Schaufenster in Berlin- Schöneberg an. Ehe es richtig losging, mussten u.a. natürlich noch ein paar weitere Zulieferer akquiriert werden.

    Die Schreiner Gruppe lebte und arbeitete zwar in San Sebastian, hatte aber ein zweites Büro in Paris und ein Lager in Agen. Da ich brockenweise über Kenntnisse der lateinischen Sprachfamilie verfügte, fiel mir die Aufgabe zu, mich um die Spanier zu kümmern. Ich buchte eine Bahnfahrt nach Paris mit Zwischenstopp in Köln, wo gerade Möbelmesse war. Ich wollte mir Vorort alles ansehen und dann mit den Spaniern Verträge machen. So war es vorgedacht.

    Es kommt mir jetzt so vor, als liege all das Lichtjahre zurück. Wieso ist das so? Keine Ahnung. Habe ich eine Krise? Ich bin mir nicht sicher. Von einer höheren Warte aus betrachtet erscheint mir plötzlich jede meiner möglichen Bewegungen beliebig, mein Leben als Versuchsanordnung. Ich starre auf meinen Bauch. Da finde ich Bläschen, die nach und nach zu Blasen werden. Mein Kopf ist leer.

    Ich erhebe mich und gehe aufs Klo. Da funktioniert noch alles stinknormal. Ich habe Lust zu duschen, doch das widerspricht dem ärztlichen Rat, kein Wasser an die kranken Hautpartien zu lassen. Also lasse ich es. Zurückgekehrt an mein Krankenlager finde ich auf der kleinen Kommode neben dem Bett meine Papiere vor. Die muss der Pförtner in der Zwischenzeit gebracht haben. Ich schiebe mir das Kissen in den Rücken und blättere in meinen Personalien. Manfred Theobald Imka... so steht es im Pass. Ich habe meine Vornamen noch nie gemocht. Freunde nennen mich Manni. Das ist besser. Manni Imka, das klingt wie Manitoba, wie Manitou oder wie Montezuma... das klingt nach Ferne, nach Geheimnis, ich nenne mich seit Jahren selber so; wo immer es geht.

    Kapitel 2

    Die Maisonne ging unter. Es war heiß, aber nicht richtig. Der Regen hatte aufgehört, und Dunst war aufgezogen. Blaugrau sickerte Licht hindurch, sammelte sich rasch, raschelte hie und da auf den graublauen Dachfirsten und versank schließlich leise knisternd in den Häuserschluchten der Stadt. Die Häuser, sie standen gekrümmt und glichen ertrunkenen Regenwürmern. Die Seine war aufgeschwollen und schwappte ihre trüben Fluten bis hinauf auf den Asphalt der Uferstraße. Man hatte diese vorübergehend für den Verkehr sperren müssen. Die ganze Stadt hatte Mundgeruch.

    Kaum Verkehrslärm. Keine Signale. Tunnelschächte gähnten verlassen. Und die Brücken? Auch auf ihnen seltsame Leere. Sie duckten sich über dem düster schäumenden Fluss, spannungslos. Unter dem Firmament ruderten hilflos ein paar dunkle Vögel, umsponnen von Nebelfäden, es war alles sustenuto. Es war, als wäre die Welt eben erst tausend Jahre alt geworden.

    Ich öffne ein Fenster und lehne mich hinaus. Die Luft frischt auf. Das Unwetter scheint langsam abzuziehen. Auf der Straße geht ein einsamer Schwarzer, er springt in Tanzschritten um die zahlreichen Wasserpfützen herum. Ich kenne ihn zufällig, weil ich seine Schwester kenne. Sie heißt Aissatou, seinen Namen habe ich vergessen. Beide wohnen ein paar Häuser weiter in einem Auffanglager für Afrikaner. Beide kommen aus dem Senegal.

    Ich drehe mir eine Zigarette. Mir kommt die Idee, an diesem Abend ins Kino zu gehen. Das habe ich seit längerem nicht getan. Es hat Zeiten gegeben, da brachte ich es wöchentlich gut und gerne auf drei Kinobesuche. Paris ist ein Ort, um ins Kino zu gehen. Es gibt in fast jedem Quartier mehrere kleine Programmkinos, dorthin gehe ich am liebsten. Ich wohne jetzt im 20. Arrondissement. Ein Lichtspielhaus liegt gleich um die Ecke. Es spielt seit Wochen, wie ich weiß, nur Revuefilme, darunter ist eine Zelluloid-Reihe mit Fred Astaire. Heute gibt es, wenn ich es richtig erinnere: Flying down to Rio. Den kenne ich schon, wie fast alle übrigen Filme von Herrn Austerlitz... Ich bin hier immer gern allein ins Kino gegangen, eine Ausnahme bilden die Kinobesuche mit Kim, obwohl, die haben mehr ihretwegen stattgefunden.

    Als ich dann vor dem Kino stehe, erwartet mich eine unerfreuliche Überraschung. Das Haus hat vorübergehend geschlossen, wegen Umbauten. Merde alors. Ich bin enttäuscht, wütend. Was also tun? Wohin sich wenden? Wen fragen?

    Ich entschied mich für den Bus und fuhr stadteinwärts. Das Fahrzeug war nahezu leer bis auf eine Gruppe halbwüchsiger Mädchen und Jungen, italienische Schüler, auf Klassenfahrt vermutlich. Sie stiegen mit mir zusammen aus, nahe Les Halles. Ich blieb ein paar Schritte zurück und schaute den Mädchen nach, ein Strauß junger, blühender Mösen, der ausgelassen schnatternd über den Asphalt flog.

    Auf Straßen und Plätzen regte sich nach und nach wieder flinkes, munteres Treiben, Neonlichter morsten, Autos kreischten, Stimmen schlugen ihre insularen Bugwellen gegen Hauswände und Bürgersteige, und doch schien alles anders als gewöhnlich, lyrischer, ja, geträumter. Mein Ziel war das Centre Pompidou. Ich trank zuvor ein Glas Rotwein, das ich vor einem Bistro an einem noch regennassen Tisch einnahm, zusammen mit einem Sandwich. Heute entsprach die Stadt meinem Fassungsvermögen.

    Der Wein war zu warm, was Folgen hatte. Ich trank nur wenige Schlucke, reichlicher dagegen von dem eiskalten Wasser, das in einer benachbarten Karaffe stand. Der Wein verströmte in dem Schein der Straßenlampen eine magmatische Präsenz, abgeschlossen zwar durch ein gläsernes Haus, aber doch grenzenlos in seinem feurigen Herzrot. Aus dem Bistro vernahm man Musikfetzen, es war das leicht

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