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Zwei im Spinnennetz
Zwei im Spinnennetz
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eBook288 Seiten3 Stunden

Zwei im Spinnennetz

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Über dieses E-Book

Nadine, genannt N Punkt, ist auf der Suche: nach einem Lebenssinn, nach der Wahrheit, die ihre Eltern vor ihr zu verbergen suchen, und vor allem nach Joker, dem geheimnisvollen Todesfahrer und Zauberer. In der Nacht des Big Crash ist er verschwunden.
Hat N Punkt selbst ihn etwa getötet?
Zusammen mit M. S., dem Krüppel aus der Betonurne, zieht sie kreuz und quer durch Deutschland, findet Spuren von Joker beim Zirkus Allez hopp, unter den Aussteigern in den Grünen Bergen und bei Rübchen, der merkwürdigen Wirtin vom Blauen Wunder...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Juli 2015
ISBN9783742763303
Zwei im Spinnennetz

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    Buchvorschau

    Zwei im Spinnennetz - Gunter Preuß

    1.

    Alle Täler sollen voll werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll richtig werden, und was uneben ist, soll schlichter Weg werden.

    Lukas 3, 5.

    „Nadine, warte doch! Wo läufst du denn nun schon wieder hin, Mädchen!"

    Die Stimme der Frau, die meint, dass sie meine Mutter ist.

    „Nadine! Du kommst sofort zurück! Wir haben miteinander zu reden! Ich bin noch nicht fertig!"

    Die Stimme des Mannes, der meint, dass er mein Vater ist.

    Ich hab mir antrainiert, wenn es zwischen mir und den anderen nicht läuft - es läuft zurzeit nicht umwerfend viel -, still zu sein, nichts zu fragen, nichts zu antworten. Die Stille hält kaum einer aus, vor allem nicht der Mann und die Frau, die sich deine Eltern nennen.

    Ich bin wieder mal davongerannt, raus aus der Millionenlaube, weg von der Gartenzwergsiedlung. Ich bin gerannt, dass ich staunen muss, wie weit und schnell ich rennen kann, obwohl ich mich eben noch alt und müde gefühlt habe. Sie sagen mir immer wieder, ich sei sechzehn, da könnten sie schon einiges von mir erwarten, sie berechnen mich nach meinem Alter. Aber ich bin keine Zahl, ich lass mich nicht mit einem Namen abstempeln, sie rufen mich Nadine, doch ich bin N Punkt, N wie Nuss, nass, nah, nirgendwo, niemals, namenlos, nein, noch nicht...

    Nun stehe ich vor einem Hochhaus, so einer kilometerhohen Betonurne mitten im zementierten Stadtfriedhof, der sich Neubaugebiet nennt. Die Roten, so habe ich mir erzählen lassen, waren ziemlich stolz auf diese Begräbnisstätte am Rande der Stadt, obwohl hier eine Urne aussieht wie die andere, das Grau den Umsatz für alle möglichen Müde- und Wiedermuntermacher sagenhaft erhöht.

    Im Vorraum des Hauses finde ich auf einem riesigen Puzzle den Namen Steinrück. Die Adresse habe ich aus dem Anzeigenteil einer Zeitung, manchmal lese ich das Kleingedruckte, als könnte ich vielleicht hier eine Nachricht finden, nur für mich gedacht. Zwischen der Suchmeldung nach dem entflogenen Wellensittich Bubi, diversen Massageangeboten, stand da: Herzschmerzen? Ich bringe in Worte, was Du fühlst und Deinem Liebsten schon immer sagen wolltest. Lass uns im Dunkel ein Licht anzünden.

    Ich drücke kurz meinen kleinen Finger auf den schmutzigen Klingelknopf, es meldet sich keiner, ich will schon wieder abziehen, weiß ohnehin nicht, was ich hier soll.

    „Ja, bitte."

    Eine betont ruhige, leicht zerkratzte Stimme aus der Sprechanlage.

    „Ja, sage ich in Richtung Mikrofon. „Ja. Mehr fällt mir nicht ein, ich finde mich ziemlich debil.

    „Ja, bitte. Sprechen Sie doch."

    „Ja", sage ich, schon wieder ist mein Wortvorrat verbraucht.

    Ich halte den Atem an, als könnte ich mich verraten, aus der Sprechanlage rauscht es wie aus einem Tunnel. Nun wird auch am anderen Ende geschwiegen, da spannen sich zwischen mir und Jemand surrende Fäden.

    Ich würde gern abdrehen, doch ich komme nicht weg, halte verbissen den Atem an. Schließlich verschaffe ich mir Luft, rufe: „Bin ich hier richtig - bei - bei Steinrück...?"

    „Richtig. Die Stimme klingt erleichtert. „Wollen Sie hochkommen?

    „Ja."

    Der Summer ertönt, das Türschloss knackt, ich rühre mich nicht, setze wieder meine Atmung außer Betrieb. Was soll das eigentlich, ein neues Spiel: Zwei im Spinnennetz?, ich warte.

    Die Sprechanlage rauscht wieder, die zerkratzte Stimme fragt: „Sind Sie noch da?"

    „Ja." Wieder dieses debile Ja, das nie was sagt, immer alles offen lässt. Aber irgendwie ist man entschuldigt, wenn man Ja sagt; es ist wie ein Rentnerausweis, man kommt fast überall um die Hälfte verbilligt rein.

    „Wollen Sie denn nicht hochkommen?"

    „Ja." So ein Ja nennen die Seelenentwirrer wohl Manie oder Tick.

    „Ja? Wie denn nun? Ja oder Nein?"

    „Keine Ahnung."

    Ein kurzes Schweigen meines unsichtbaren Gegenüber, dann vorsichtig, wie zu einer Kranken: „Möchten Sie - dass wir uns über die Sprechanlage unterhalten?"

    „Ja."

    „Sie wollen etwas sagen - und Sie finden dafür keine Worte. Ist das so?"

    „Keine Ahnung."

    „Wollen Sie mir sagen, wer Sie sind?"

    „Keine Ahnung."

    „Sagen Sie mir doch, wie Sie heißen."

    „N Punkt."

    „N - was sagten Sie?"

    „N Punkt."

    Jemand gibt sich große Mühe, sagt: „Also N Punkt. Du – Sie - sind noch ziemlich jung?"

    „Wollen Sie vielleicht verdammte Zahlen hören und mich ausrechnen?"

    „Machen Sie es sich doch nicht so schwer, N Punkt."

    Jemand nennt mich N Punkt.

    „Ich bin total ruhig. Absolut locker. Wenn Sie verstehen, was ich damit ausdrücken will."

    Jemand sagt: „Ich verstehe. Ich verstehe Sie sehr gut."

    Ich schreie: „Hören Sie endlich auf, sich wie ein verdammter Sigmund Freud aufzuführen! Sie verstehen nichts, kein bisschen, absolut gar nichts!"

    „Entschuldigen Sie. Bitte. Sie haben ja recht."

    Was denn, Jemand gibt mir recht? Jetzt sind wir beide große Schweiger vor dem Herrn, das Spinnennetz aus diesen surrenden Drähten zieht sich enger um N Punkt und Jemand. Am liebsten würde ich Jemand mein Recht zurückgeben, aber wo ich es nun schon mal habe, sage ich: „Sie wissen, was Sie mich können."

    „Angst? Wovor?"

    Rauschen, der Tunnel, das Spinnennetz, der Salzgeschmack wird unerträglich, mein Seelenwasser läuft über.

    „Gehen Sie nicht. Bitte. Sie wollen mir doch etwas mitteilen..."

    Ich komme schnell auf Geschwindigkeit, ich bin ein Tier, auf der Flucht. Wohin?, pocht es in mir, wohin?

    3.

    Ich bleibe ruckartig stehen, meine Arme verlieren langsam an Höhe.

    Der Motorenlärm täuscht auf dem Garagenhof Stille vor, eine Menschenmenge starrt auf den stählernen Käfig, in dessen Rund sich zwei Todesfahrer auf ihren Maschinen jagen. Die zwei sind auf den Silberpfeilen, in der schwarzen Lederkleidung, den mächtigen Schutzhelmen nicht zu unterscheiden, doch ich fühle, wer von beiden der ist, den sie Joker nennen. Es ist erst ein paar Wochen her, dass ich ihn bei den Todesfahrern gefunden habe, aber ich brauche nicht seine Fingerabdrücke, um ihn unter fünf Milliarden Menschen zu identifizieren.

    „Joker!, rufe ich. „Joooker!

    Für ein paar Augenblicke werde ich ruhig, als ich Joker im stählernen Käfig seine Runden drehen sehe. Ich denke an ein Modell eines Planetensystems, in dem Gestirne umeinander kreisen. Dahinein wünsche ich mich, in den Käfig, der das All ist, auf Jokers Maschine, die ein Stern ist, der auf seinem Weg Kreise und Ellipsen zieht.

    Der Garagenhof hat mich gleich von Anfang an, auf meiner Suche nach weiß nicht was, fasziniert, ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene, etwas abseits vom Stadtbeton, an einem Gartenverein und dem schwindsüchtigen Stadtwald, den sie Rosental nennen, gelegen.

    Die schmale Straße zum Garagenhof ist von den Lastkraftwagen und Wohnwagen der Todesfahrer zugeparkt. Vor zwei Hallen, die unverputzt jede Sorte Stein sehen lassen, denen stellenweise das Dach fehlt, liegt herum, was viele wegwerfen und einer zusammenträgt: Eisenträger, Sand, eine Feuerwehr, Feldsteine, ein kompletter uralter Tante-Emma-Laden, ein Bagger ohne Räder, Verkehrsschilder, eine Theke, Großmutters Sofa ... das geht so weiter in den Hallen. Über allem spannt sich ein Hochseil von Mast zu Mast, auf den Podesten stehen zwei nackte Kleiderpuppen, die Indianerstutz tragen und Piratenflaggen wehen lassen.

    Joker ist ein Jäger, er jagt seinen Partner, es muss der Doktor sein, den sie Marx nennen. Oder hetzt Marx Joker?

    Die Geschwindigkeit der Motorräder ist zu hoch, der Vorderreifen von Jokers Rakete klebt förmlich an der Maschine von Marx' Hinterreifen. Marx versucht sich zu lösen, rast auf und ab, um Joker vor sich hertreiben zu können. Die Motoren röhren, spucken, es stinkt großartig nach Benzin. Bleigraue Wolken stehen im Garagenhof, mir wird übel, ich kann da nicht mehr hinsehen, ich kann auch nicht die Augen schließen.

    Rings um den Käfig, in achtungsvollem Abstand, haben sich Zuschauer eingefunden. Vielleicht ist mir schlecht von ihrem fauligen Schweißgeruch, es sind allesamt Stinker, die bei jeder Volksbelustigung wie Autounfälle, Großbrände, Überschwemmungen zu finden sind.

    Aus dem Käfig kracht es, Schreie aus dem Publikum, der Geruch nach heißen Reifen.

    „Aufhören!"

    Um mich dreht sich der Garagenhof, schneller, enger ziehen sich die Kreise, jeden Moment kippe ich in die Horizontale, wo denn festhalten?

    Vor dem Käfig entdecke ich die anderen von der Mannschaft, konzentriere mich auf sie: Irre Wanda, ganz in schwarz, hautenges Lederkostüm, die Augen hinter einer monströsen Sonnenbrille verborgen, an den schwarzen Rasterlocken jede Menge schwarze Plastikspinnen; sie ist hochgewachsen, Beine, die von der Erde bis in den Himmel reichen, steht einmalig lässig, dabei doch gerade, ein First Class Model, wenn andere gehen, schreitet sie. In Griffnähe, Lolito, schöner Mann, fetter Buddha mit Froschkönigblick, finsteres Mittelalter, mindestens schon über die dreißig, ehemalige Lachgröße beim Wrestling, ungemein beweglich, scharfzüngig. Ein zweites Pärchen bilden Kongo und Rübezahl. Kongo ist Schwarzer, Muskelpaket, spricht brutales Sächsisch, gutmütig wie Onkel Toms Hütte, liefert Tanznummern ab wie ehemals Patrick Swayze. Rübezahl ist der Mechaniker der Mannschaft, Pole, Bergmännlein ganz aus braunen Sehnen und Falten, blaue Kinderaugen, Gorillapranken, mindestens tausend Jahre alt, eisgrauer Vollbart, Kettenraucher, ein großer Schweiger vor dem Herrn.

    Ich riskiere einen Blick zum Käfig. Marx und Joker jagen einander noch immer, sind nicht mehr zu unterscheiden, nur noch Blitze, die umeinander zucken. Marx, Doktor, Professor gar, Todeskandidat, alle wissen, dass er den schmalen Grat zwischen freien Flug und Absturz sucht, soll Mitte dreißig sein, macht aber den Eindruck, als hätte er das Doppelte auf dem Buckel. Er ist das Abbild eines intellektuellen Mickerlings, eine Fundgrube für Magenspezialisten, er fühlt sich immer noch im grauen Anzug wohl, mit weißem Hemd, schwarzem Schlips; bei den Roten war er an der Uni Dozent für Philosophie und Parteisekretär, die Kapitalisten haben ihn nach der Wende mit seinem Doktorhut per Eilpost nach Hause geschickt.

    „Joooker!"

    Ich erlebe den Schock ein paar Sekunden vorher - dann ein Kratzen, das wie kantiges Eis unter die Haut geht, Motoren heulen auf, würgen ab, ich sehe in eine Stichflamme.

    Kein Finger will sich rühren, alles außer Betrieb, die Zuschauer rennen in Deckung. Auch die Mannschaft prallt zurück, keine Schreie, nichts, absolute Stille, der Käfig ist in einer schwarzen Rußwolke verschwunden.

    Rübezahl, Berggeist ohne Nerven, kommt mit einem Feuerlöscher gehinkt, das Ding funktioniert nicht, natürlich nicht, hier ist alles nur Attrappe. Was denn nun?! Was denn jetzt?!

    Die schwarze Wolke hebt sich, langsam, wie ein Vorhang, die Käfigtür dreht auf - heraus treten Joker und Marx. Die beiden sehen topfit aus, sie ziehen die Schutzhelme wie Zylinder vom Kopf, vollbringen eine einwandfreie Verbeugung.

    „He, hallo!", ruft Joker, der Zauberer, lacht, dass man ihm jede Schandtat vergibt und sich selbst gleich viel besser fühlt. Marx steht gebeugt daneben, als trüge er die ganze Welt auf den Hähnchenschultern; sein gelbsüchtiges Gesicht erscheint wie eine knittrige chinesische Maske mit trüben blauen Augen.

    Jetzt rieche ich den Beschiss, er stinkt gewaltig. Nichts als Feuerwerk, Theatergewitter, für ein paar Mark zu haben. Ich renne los, da ich weder Schwinger noch Haken schlagen kann, hole ich zu einer bewährten Ohrfeige aus.

    Jokers Hand umspannt meinen Unterarm, er sagt, noch immer lachend, zur Mannschaft: „Na, wie waren wir?"

    Als ich mich beruhigte habe, lässt er mich los.

    Die schwarze Wolke zieht ab, gibt den Käfig frei, in dem die beiden Silberpfeile in altem Glanz nebeneinanderstehen. Das Publikum verzieht sich enttäuscht, die Stinker haben wohl auf ein paar Liter Blut und ein paar abgerissene Arme und Beine gehofft.

    Die Todesfahrer sind nun unter sich, mich dulden sie als Fan, den man Kaffee kochen lassen und Brötchen holen schicken kann. Sie wissen nichts von mir, keiner fragt mich was, keine Ahnung, ob sie mich vermissen würden, wenn ich weg wäre.

    Big Crash, sagt Joker. „So könnte die neue Nummer heißen. Da ist Marx doch was eingefallen. Den Knaller kann man ausbauen. Ich verspreche euch, damit kommen wir in die Schlagzeilen und ins große Geschäft. Nun sagt schon was, Leute.

    Joker, der Zauberer, steht im Garagenhof vor der Mannschaft, die es sich auf einem Stapel alter Autoreifen bequem gemacht hat. Obwohl Joker tiefer steht, als die anderen sitzen, ist es, als schauten sie zu ihm hinauf. Joker steht wie immer auf großer Bühne und hat seinen Auftritt. Das wirkt bei ihm nicht eitel und mittelpunktsüchtig, denn er muss nicht in Panik geraten, übersehen zu werden. Joker ist einfach Number One, er wäre es auch in Hollywood, ohne Schminke und Toupet. Dabei ist er kein Schönling, aber er ist selbst von einem Blinden nicht zu übersehen, obwohl er weder einen aufgeblasenen Body noch Dackelaugen hat. Ich denke mal, Joker ist im besten Alter, so über die zwanzig, er ist schmal, aber kein Hänfling, er hat umwerfend graugrüngelbe Augen, einen Mund, der eine Frau zum Lächeln zwingt, schulterlange braune Haare, in denen man seine Hände wärmen kann. Wenn er nicht in der Motorradkluft steckt, ist er ganz Cowboy, er trägt einen Hut, der von Indianerpfeilen durchlöchert ist. Nur ein pickeliger Spießer wird auf den Gedanken kommen, dass die Kopfbedeckung unter den Motten gelitten hat. Das ungefähr ist Joker.

    Irre Wanda langt sich aus dem Tante-Emma-Laden eine Sektflasche, lässt den Korken knallen. Sie gibt dem Zauberer die Flasche - so muss Eva dem Adam den Apfel überreicht haben - Joker gönnt sich einen Schluck, dann geht die Buttel von Mund zu Mund. Als alle getrunken haben, hält Rübezahl mir die Flasche hin, ich nehme einen langen Schluck, obwohl ich auf das Schwindelwasser leicht verzichten kann. Das Prickeln steigt mir aus dem Bauch in den Kopf, ich setze mich auf ein Trapez, lasse mich sanft schwingen, höre den Todesfahrern zu, die über die neue Nummer reden.

    „Kostüme, meint Irre Wanda. Sie flüstert, ihre Stimme ist heiser, die Sätze sind zerhackt. „Richtige Verpackung, schon halb verkauft. Schwarz, alles in Schwarz. Darauf: phosphoreszierende Skelette. Die Helme als Totenköpfe.

    „Power, vor allem Power müssen wir zwischen die Seile bringen. Das Publikum nimmt alles ab, was einfach nicht zu fassen ist, ruft Lolito neben Irre Wanda, hampelt mit Armen und Beinen. „Also Feuerwerk, dann Finsternis, holladihidiii!

    Man könnte meinen, Irre Wanda knabbert an den Fingernägeln, wenn sie noch einen aufzuweisen hätte. „Meinung, Joker?"

    „Okay, Schwarz sticht!"

    Kongo springt auf, lässt seine Muskelpakete anschwellen, bis er blauschwarz anläuft. Rübezahl, eine Selbstgedrehte im Bartgestrüpp, legt Kongo eine Gorillapranke auf die Schnürstiefel. Die Berührung war kurz und sanft, doch Kongo geht sogleich in die Hocke, lächelt verlegen, sagt in seinem unnachahmlichen Afrikan-Sächsisch: „Nu-uuh, isses doch wohhr."

    Marx doziert: „Nun ja, bei der Wahrheit kann man nicht bleiben, man muss sich ihr immer wieder neu nähern. Es ist eben so: Die lautesten Trommler gelten als die besten Musikanten." Der Doktor hält mangels Studenten nur noch Selbstgespräche, keine Ahnung, wovon er sich überzeugen will.

    Big Crash - der totale Horror!", flüstert Irre Wanda. „Plakate, in alle Welt. Die Show, abheben ins Nirwana. „

    Ich sitze auf der Schaukel, lasse mich tragen vom Singsang. Ich höre den Todesfahrern gern zu, freue mich, wie sie in die Luft greifen, sich etwas zusammenspinnen, Geschichten, die in den nächsten Tag tragen.

    „Joker, sage ich lockend, ich singe es fast. „Joker.

    „Was liegt denn an, Hühnchen?"

    „Nichts, Joker, gar nichts, nur so."

    Jokers Hände, die Figuren in die Dämmerung malen wie zu Urzeiten an Höhlenwände. Ein Hauch, ein Kitzeln, warm, leicht, auf meinem Gesicht, den Nacken hinunter, über die Arme, die Brüste, es nimmt sich den ganzen Körper, ich lasse es zu. Die Dunkelheit rückt den Sommer nahe, sie nimmt die lästige Schwere, es ist die Stunde der Schatten. Mitten im Wohlgefühl erschrecke ich, etwas packt mich, Angst. Jetzt spüre ich die Kühle der Nacht, ich gleite von der Schaukel, beginne zu rennen, weiß eine Zeit lang nicht, wo ich zu Hause bin.

    4.

    „Weißt du eigentlich, wie spät es ist?"

    Eine Frage, die müde macht, nicht nur zur Geisterstunde, als Zugabe noch ein Zeugnis elterlicher Genialität: „Sag mal, was denkst du dir eigentlich?"

    Schweigen hat keinen Sinn, der Mann und die Frau würden nicht locker lassen, ich gähne, sage: „Sorry, ich bin absolut todmüde." Ich kenne diese Verhöre, wenn ich mal nichts Besseres zu tun habe, werde ich eins als Schlafmittel patentieren lassen.

    Wo bist du denn wieder gewesen?"

    „Dort und da."

    Wir sitzen in der guten Stube der Millionenlaube, Fabian, Eva, N Punkt. Nur noch ein paar Möbel aus unserer alten Wohnung sind übrig geblieben. Ich erinnere mich noch, wir wohnten in einem Abrissviertel im Osten der Stadt, alles fiel auseinander, war alt und hässlich. Aber ich habe mich gut gefühlt, das war, als Fabian noch als Pfarrer und Eva in einem Kulturhaus arbeitete.

    Die alte Standuhr tickt laut und hart, seit ich denken kann, tickt sie so. Der goldene Perpendikel schwingt im Glaskasten, er eignet sich zur Meditation, ich konzentriere meinen Blick auf ihn, folge den Schwingungen, hin - her, so kann man sich völlig vergessen.

    „Was soll das wieder heißen? Du willst immerzu provozieren. Was ist nur in letzter Zeit in dich gefahren, Nadine? Was nur?"

    „Könnt ihr mich denn nicht verschonen. Von mir aus reden wir morgen."

    „Du warst wieder bei den Zirkusleuten?"

    Was suchst du denn dort?"

    Ich kann es ihnen nicht sagen, nicht der Frau, nicht dem Mann, sie würden es nicht begreifen.

    Eva: „Was eigentlich wirfst du uns vor?"

    Das kann endlos so weiterlaufen, wie bei den Kernseifenopern im TV, dagegen hilft nur Schocktherapie.

    Fabian: „Die Verhältnisse sind inzwischen andere. Es ist nicht gestern, Nadine, es ist heute. Begreife das doch endlich: Die Herausforderung annehmen."

    „Ja, sage ich, „ja, mein debiles Ja geht in einen Ton über, einen immer schriller werdenden Pfiff, der schnell die Schmerzgrenze erreicht. Fabian und Eva drücken sich die Hände auf die Ohren, ich entwische aus der guten Stube die schmale Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich schließe mich ein, obwohl mein Zimmer geschützte Zone ist, weder die Frau noch der Mann dringen hier unerlaubt ein, ihre Erziehung hört vor meiner Zimmertür auf.

    Ich werfe mich aufs Bett, bekomme kein Auge zu, in mir rumort es, nicht im Bauch, viel tiefer, ich nenne das Blähungen der Seele. Ich reiße das Fenster auf, sehe auf einen Teil der Siedlung, Bäume, Dächer, auf ein Stück Himmel, in dem sich hinter einer Wolke der Vollmond vordrängt, wie bestellt fängt sogleich ein Hund nach dem anderen zu jaulen an. Obwohl mir knochenkalt ist, lasse ich das Fenster offen, laufe herum, nehme alles in die Hände, suche etwas, ich suche immer etwas. Vertrautes anzufassen tut mir gut für den Augenblick. Ich habe darauf bestanden, dass nach dem Umzug keine neuen Möbel in mein Zimmer kommen.

    Der Raum ist ziemlich groß, doch nur eine Liege steht darin, ein Stehpult noch, alles andere ist auf dem Fußboden zu finden: Klamotten, Bücherstapel, Schulutensilien, eben der ganze Schwachsinn, den man so braucht. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, die von meiner Steinzeit bis ins Atomzeitalter reichen, auf denen jeder, außer mir, nur Farbenkleckserei erkennen kann. Ich behaupte nicht, dass ich eine Picassi des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts bin, aber manchmal bin ich nicht ganz unzufrieden mit meinen Werken.

    Leicht zu erkennen, in meinem hohen Alter leide ich an Infantilismus, überall sitzen Stofftiere herum, denen irgendein Körperteil fehlt. Auf der Liege findet sich unter dem zur Formlosigkeit zerquetschten Bündel, das mein Kopfkissen ist, eine Bibel. Als Fabian noch mein Vater war und sie mir vor etlichen Jahren schenkte, war sie eine nagelneue Prachtausgabe aus dem Westen. Jetzt ist sie ein zerlesener Schmöker, das spannendste Buch, das ich kenne.

    Es ist Nacht, ich kann nicht schlafen, ich bin allein, weiß nicht was, der vergangene Tag, mein ganzes debiles Leben lässt mich nicht los. Ich denke an Jemand in diesem Hochhaus, an mein geniales Ja, an das Gefühl, mit Jemand in einem Spinnennetz gefangen zu sein. Ich denke an die Großmutter in der Stadt, die vor sich hin pfeift und die Tauben füttert. Ich denke an den Garagenhof, an die Todesfahrer, an Joker denke ich, und das etwas passieren muss.

    Ich lege mich auf den

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