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Briefe an die Geliebte
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eBook302 Seiten4 Stunden

Briefe an die Geliebte

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Über dieses E-Book

In fünf Briefen an die ferne Geliebte, an das Mädchen im weißen Kleid, das beim Kinderspiel im Dorf D. "Fang mich doch!" gerufen hat und seitdem verschwunden ist, geht es dem Briefeschreiber, einem Schriftsteller, um die Frage: Wie leben? Er ist auf der Suche nach diesem Mädchen, auf der Suche nach dem Unerreichten, nach Erfüllung und ständiger Erneuerung. Er fragt, ob wir liebesfähig sind, und er fragt, was aus uns geworden ist. Er erzählt der Geliebten von Freunden, von gestandenen Männern, und hofft, dass sie ihm helfen, eine Brücke zu bauen, über die er gehen und sie erreichen kann.
Aus den wechselvollen Lebensläufen des Organisators Nanga Parbat, des Spielers Sechserpasch, des alten Arbeiters Förster-Rudi, des Artisten Saltomortale und des Kanuten Lachs erfahren wir ein Stück bewegte Zeitgeschichte.
Ob sich der Erzähler und das Mädchen im weißen Kleid auch zukünftig su-chen werden, ist nicht nur für sie eine Frage auf Leben und Tod.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Jan. 2015
ISBN9783738009309
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    Buchvorschau

    Briefe an die Geliebte - Gunter Preuß

    NANGA PARBAT

    Nackter Berg, nordwestlicher Eckpfeiler des Himalaja, 8125 Meter, steil zum Industal abstürzend und stark vergletschert

    Geliebte,

    inzwischen ist so viel und auch so wenig passiert. Vergessen habe ich Dich nie; aber es gab Zeiten, da war Dein Bild verblasst in all den Gesichtern. Heute sehe ich Dich, wie damals, klar und lebendig vor mir. Erinnerst Du Dich? Der Krieg war erst ein paar Jahre vorbei, die Städte sahen wüst aus, wir alle waren arm und hungrig, aber es war die Zeit der Hoffnung.

    In den Sommerferien hatten meine Eltern mich zu Verwandten geschickt, die im Auendorf D. eine Fleischerei besaßen. Ich war zehn Jahre alt und branddürr, als ich in diesem Sommer nach D. kam. Eine Fleischerei versprach das Schlaraffenland. Am Abend war ich in dem kleinen Gehöft, das sich in der Dorfmitte befindet die Form eines Hufeisens hat und Laden, Wohnräume, Stall, Schuppen und das Schlachthaus einschließt, angekommen. Onkel und Tante, mein Cousin und meine Cousine saßen im an den Laden grenzenden Wohnzimmer beim Abendbrot. Die Gesichter der Erwachsenen waren müde, ihre Ellbogen stützten auf der Tischplatte die schweren Körper ab, eine Uhr tickte hart, auf dem Tisch stand ein Kuchenteller voller Wurstzipfel, daneben lagen Scheiben vollkornigen Brotes, es roch nach Geräuchertem. Das Fenster zum Hof stand offen, durch die Ritzen der blechernen Räucherkammer drangen Qualmwolken, die zu dem hochwüchsigen Birnbaum schwebten und auf seinen Ästen saßen wie große schwerelose Vögel. Es war nichts zu hören außer Sperlingsgezeter und dem Surren der in der Gardine verfangenen Fliegen. Man ließ mir Zeit zum Essen, und es kam ein Lächeln in ihre Gesichter, als mein Hunger sich stärker zeigte als meine Scheu und ich immer wieder nach Wurst und Brot griff, den Mund noch voll, die Bissen hinunterwürgend wie ein schlingender Hund. Als ich dann wie benommen war vom Gefühl der Sattheit, das ich nicht kannte, beantwortete ich die Fragen nach den Eltern, dem Leben in der Großstadt und nach dem Vorangehen. Dann wurden mein Cousin, der gleichaltrig war, und ich schlafen geschickt. Das Bett, das wir uns teilten, füllte fast die Dachkammer aus. Die Tür zur Nebenkammer, in der die Großmutter und die Cousine in zusammengerückten Betten schliefen, war ausgehängt. Die Erwachsenen gingen mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett; dann war nur noch das Rascheln der Mäuse zu hören, und viertelstündlich setzte für fünf Minuten das donnernde Rotieren der Kühlmaschine ein, die oberhalb der Stiege aufgestellt war. Mein Cousin und ich schwatzten, bis der Schlaf uns trennte, über die uns bevorstehenden Wochen, die wir recht abenteuerlich verbringen wollten.

    In den nächsten Tagen entdeckte ich das Dorf, das eine so ganz andere Welt war als die Stadt. Hier gab es keine bis in die Keller aufgerissenen Häuser, aus denen es übel roch, keine Bettler und kaum einen Krüppel. Die Landstraße verlief schnurgerade, Kopfsteinpflaster, etwa zweitausend Schritt lang an zwei ehemaligen Großbauernhöfen, katzbuckligen Häusern, der Fleischerei, der Drogerie, dem Friedhof mit der alles überragenden Kirche und der alten Kutscherkneipe vorbei, aus Feldern kommend und in Felder führend. Von der Straße winkelten sich schmale Wege ab, an deren Rändern die Häuser ärmlicher wurden, bis hin zur nicht mehr benutzten Wassermühle, dem schnellfließenden Mühlgraben und den sich anschließenden Wiesen. Über den Dächern gab es einen weiten Himmel, die Sonne war mir näher, sie wärmte mich besser, und wo ich hinkam, erschien es mir heller. Am meisten staunte ich über die Menschen. Sie kannten einander, sprachen sich mit den Vornamen an und wussten, was in den Familien passierte. Ihre Bewegungen und ihre Sprechweise waren langsamer, aber kraftvoller als die der Stadtmenschen. Nach ein paar Tagen schon fühlte ich mich ihnen zugehörig, und auch sie zeigten mir, dass sie den Städter vergessen hatten.

    Ja, das Leben wurde mir zum Abenteuer. Ich war Menschen und Dingen nahe wie nie zuvor. Manchmal verhielt ich mitten in einer Bewegung und staunte: Da war ich mir selbst begegnet, einem schmalen dunkelhaarigen Jungen mit von der Sonne verbranntem Gesicht und Schultern, spröden Lippen und begierig blickenden Augen, barfuß, auf dem Sprung, die Hände zum Zugreifen bereit. Mein Cousin und ich waren ständig zusammen. Jeden Tag wurde uns Arbeit aufgetragen, die uns Freude bereitete, solange wir sie nicht zu oft wiederholten. Wir fuhren mit einem Handwagen, vor den wir den großen schwarzen Ziegenbock spannten, Asche auf die Halde, kescherten aus dem Dorfteich Eimer voll Meerlinsen für die Enten, trieben mit Räucherstöcken die Schweine ins Schlachthaus, erledigten Einkäufe und holten Gras von den Wiesen. Hatten wir Freizeit, meist nach dem Mittagessen, bei dem wir aus Schüsseln Graupensuppe mit Fleisch- und Wurststücken voller Heißhunger löffelten, bis die Bäuche prall schwollen, liefen wir in den Auwald und badeten in einem der Tonlöcher. Erfrischt rannten wir auf die sonnenheißen Felder, gruben nach Mäusen und Hamstern, sammelten in Flaschen Kartoffelkäfer, die wir auf der Bürgermeisterei abgaben für ein paar Pfennige, mit denen wir uns Eis kauften und Pfefferminzstangen. Abends saßen wir im Hof auf den warmen Steinstufen, die ins Wohnhaus führten, und ließen bunte Glasmurmeln von einer Hand in die andere rollen. Unsere Müdigkeit war augenblicklich verschwunden, als eine Handglocke ertönte und darauf eine heisere Stimme rief: Puparsch! Puparsch! Wir stellten uns auf dem kleinen Platz in der Dorfmitte in die freudig erregte Menschenschlange und ließen uns die Eimer bis zum Rand mit Braunbier füllen. Wieder im Gehöft, versammelte sich die Familie auf dem Hof, Fröhlichkeit kam auf, es wurden Flaschen gespült und das Braunbier mit einer Kelle über einem Trichter hineingegossen. Die Flaschen wurden in den Keller getragen, wo sie mindestens eine Woche unangerührt lagern sollten. Aber schon am nächsten Tag hatten mein Cousin und ich bei der Großmutter durchgesetzt, dass eine Flasche geöffnet werden durfte. Wir waren von den Erwachsenen lachend vor der Wirkung des noch zu frischen Bieres gewarnt worden. Doch die dunkelbraune Flüssigkeit schmeckte süß, und wenn man den porzellanenen Verschluss gegen den Flaschenhals schlug, quoll weißer, nach Hefe und Zucker duftender Schaum über, den wir mit geschlossenen Augen schlürften. Bald darauf krümmten wir uns bleich und stöhnend auf den Holzklos. Am nächsten Morgen war uns besser, und schon am Mittag bettelten wir die Großmutter um Erlaubnis, eine zweite Flasche öffnen zu dürfen.

    Für die Dörfler war der Höhepunkt des Sommers ein Gartenfest, das sie Unser roter Lampion nannten. Schon Tage zuvor begannen Erwachsene und Kinder mit der Vorbereitung. Der Gartenverein befand sich dreihundert Schritt vor dem Ortseingang. Zwei Jahre nach dem Krieg war von dem ehemaligen Großbauernbesitz jedem Dörfler eine gleich große Parzelle zugesprochen worden, hundert Quadratmeter, in denen sogar um die Stämme der Obstbäume Kohlrabi und Weißkraut gepflanzt waren. An einem Sonnabendnachmittag war es endlich soweit, die Dörfler zogen in Familie, in ihren besten Sachen und gemessenen Schrittes zum Dorf hinaus. Der Tag war heiß und schwül, vom Gartenverein waren die Klänge einer Blaskapelle zu hören und manchmal ein Jauchzer, als probiere jemand aus, was in ihm steckt. Ich ging mit der Fleischerfamilie neben meinem Cousin, wir glänzten wie polierte Äpfel, der Onkel bestimmte den Schritt, grüßte nach links und rechts, tauschte mit Nachbarn Worte über das Wetter, die Ernte und die Weltlage. Alles, Menschen, Straßensteine, Häuserwände, Pappeln, Getreide und Lerchen, war in Festtagsstimmung. Kraft strömte von einem zum anderen, verband Menschen und Dinge miteinander, und nichts war ausgeschlossen. In der Gartenanlage trennten sich die Kinder von den Erwachsenen, und wir rannten durch die labyrinthisch verzweigten engen Gänge, bis wir einen Platz erreichten, in dessen Mitte auf einem hölzernen Podest die Musikanten standen und ihre goldglänzenden Instrumente an den Mund pressten und in Richtung Himmel hielten. Aus Brettern und Kisten waren Buden erbaut, aus denen Streuselkuchen, vom Onkel hergestellte Bockwürste und bunte Luftballons mit aufgemalten weißen Tauben verkauft wurden. Mit Stoffbällen konnte nach einer Pyramide aus Blechbüchsen geworfen werden, über einem schwarzen Vorhang hämmerten Kasper und Teufel mit Pritschen aufeinander ein, von einem wuchtigen Tisch waren die Aufschläge lederner Becher und das Rollen der Würfel zu hören. Die alten Weiber, schwarz gekleidet, die Gesichter fast versteckt hinter schwarzwollenen Tüchern, standen vor einem offenen Feuer, dem sie ihre knochigen Hände entgegenstreckten, als frören sie an diesem heißen Hochsommertag. Eine von ihnen brannte Malzbonbons, die dem satten Duft nach warmer Erde und trockenen Gräsern eine Süße gaben, dass man meinte, jedes Ding sei zu essen. Etwa fünf Meter hoch ragte ein Mast, an dessen Ende ein Strohkranz angebracht war, von dem an bunten Bändern befestigte Würstchen und kleine Kuchen herabhingen. Jungen und Mädchen waren aufgefordert, am Mast hochzuklettern. Ein Mann ließ mit einem Seil den Kranz herunter - und griff die Hand des Kletterers nach dem begehrten Ding, zog er ihn ruckartig wieder hoch. Das Seil wurde so betätigt, dass auch der Schwächste, wenn er sein Bestes gegeben hatte, sich ein Stück Kuchen greifen konnte. Der stärkste und mutigste Junge kletterte dann bis zum Mastende und zog unter dem Geschrei der Kinder und dem Beifall der Erwachsenen den geplünderten Kranz herunter. Polternd rollte die Kegelkugel, Bier und Waldmeisterlimonade wurden ausgeschenkt, die älteren Jungen und Mädchen fanden sich zum Tanz, die Alten saßen im Gras und auf mitgebrachten Stühlen, die Gesichter der Frauen und Männer zeigten Beständigkeit und Gelassenheit, sie bewegten sich wohlig-schläfrig wie starke Tiere, und wir Kinder konnten unter ihrem Schutz um so ausgelassener rennen und springen.

    Wäre ich während meines Aufenthalts in D. gefragt worden, was mir fehlte, ich hätte nichts nennen können. Ich erfuhr es in dem Augenblick, als ich Dich sah. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon vorher im Dorf begegnet bin; aber erst in dieser Stunde in den Gärten - es war Abend geworden - erkannte ich Dich. Mitten im Spiel standest Du vor mir - ich hatte Dich oder Du hattest mich fangen wollen -, unsere Hände hielten einander fest, und wir sahen uns in die Augen, überrascht, erstaunt und auch ein wenig erschrocken. Du warst etwas kleiner als ich, hattest dünne Arme und Beine, die aus einem weißen Kleid, das über der Brust fleckig war von verschütteter Limonade, hervorschauten. Deine Haare, schwer und kornfarben, waren zu zwei Zöpfen geflochten, an deren Ende weiße Schleifen wie große Falter saßen. Deine Augen waren hell und blickten freundlich und misstrauisch zugleich. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten habe, es war in mir etwas von Dir angerührt, von dem ich nichts wusste, aber manchmal doch etwas geahnt hatte. Irgendjemand aus der Kinderschar, die uns umstand, lachte. Da sagtest Du: Pah!, zogst Deine Hände weg, lachtest, schlugst mich an den Arm, riefst: Du bist's!, und liefst weg. Bis zum späten Abend, als die Kinder nach Hause geschickt wurden, sind wir uns abwechselnd davongerannt, um uns fangen zu können. Mit den Kindern, Du mit denen, ich mit jenen, gingen wir mitten auf der Straße zum Dorf. Es hieß, dass sich in der Gegend ein Kindermörder herumtreiben würde. Wir Jungen, mit Knüppeln und Taschenmessern bewaffnet, riefen ins Dunkel: Wer da?, und ließen unsere Taschenlampen aufleuchten. Die Mädchen schrien, wenn ein Junge rief und auf einen Baum oder den Straßengraben zusprang. Die Jungen versuchten tief zu lachen wie ihre Väter oder Onkel, und sie sagten, dass sie es jedem, der einem der Ihren zu nahe käme, schon geben würden. Auch ich prahlte, auch Du schriest begierig auf. Ich war nur für Dich da, in jedem Atemzug, jedem Blick, jeder Bewegung. Es war mir, als hättest Du mir im Spiel ein Geheimnis zugeflüstert, woran ich, wenn ich es nicht für mich behielt, sterben würde. Am Ortseingang warst Du verschwunden. Ich warf den Stock weg und trottete meinem Cousin hinterher. Das war meine erste Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. Durch das Dachfenster sah ich einen grünen Mond. Mir war sonderbar heiß hinter der Stirn, und etwas quälte mich. Mir fiel Dein Name nicht ein.

    In den folgenden Tagen begegneten wir uns oft, und obwohl wir uns nie verabredeten, war es kein Zufall. Es war wohl eine Art Instinkt, der uns zueinander leitete. Wir sahen uns im Laden des Drogisten, in der Sonnenglut auf einem Feld, in einem von Straßenbauern ausgehobenen, sich durchs Dorf ziehenden Graben, in der Turnhalle und im Dachgestühl der Kirche, wo sich an den Sonntagvormittagen die Jungen darum balgten, wer an den Seilen ziehen und die schweren Glocken läuten durfte. Und oft begegneten wir uns auf dem Friedhof im dichten Laub einer Kastanie. Jedes Mal, wenn ich Dich sah, durchfuhr es mich heiß, ich spürte einen Schmerz, der mir Lust machte, und es war ein Schrei in mir, den ich mit Mühe zurückhielt. Wenn ich mich dann etwas beruhigte, hätte ich singen wollen, die Melodie hatte ich, aber die Worte fehlten mir.

    Nie sprachen wir miteinander. Oder ich erinnere mich nicht. Und ich hatte Zeit, unendlich viel Zeit. Manchmal stieg ich nachts aus dem Dachkammerfenster, kletterte am Gerüst für den Wein nach unten, rannte zum Dorfrand, wo in barackenähnlichen Häusern die Pommerschen wohnten, meist Mütter mit ihren Kindern, die es nach dem Krieg hierher verschlagen hatte. Du wohntest in der ersten Baracke. Ich kannte das Fenster, hinter dem Du mit drei Geschwistern schliefst. Ich wollte Dich rufen, Dir sagen, dass wir jetzt aufbrechen könnten, losgehen, Du wüsstest, wohin. Aber mir fiel Dein Name nicht ein. Keiner der Namen, die ich kannte, wollte zu Dir passen. Mein Cousin behauptete, Du heißt Anne, da musste ich lachen. Du hast einen anderen Namen. Ich wusste, eines Tages würde ich ihn von Dir erfahren.

    Als die Sommerferien zu Ende waren, ging ich ohne Abschied von Dir. Ich wusste, wir würden uns bald wiedersehen. Als ich in den nächsten Sommerferien nach D. kam, warst Du in einem Ferienlager an der Ostsee. Ich war enttäuscht, aber nicht beunruhigt. Auch im übernächsten und dem darauffolgenden Jahr sahen wir uns nicht. Die Pommerschen waren aus den Baracken ausgezogen, sie hatten Wohnungen bekommen in anderen Dörfern und in Städten. Dein Verschwinden nahm mir nicht den Mut, ich war voller Vertrauen auf uns, und Du warst mir nahe wie am ersten Tag unserer Begegnung.

    Ich hatte keine Ahnung, in welche andere Welt mich das Erwachsensein bringen würde. Die Welt war zugleich größer und enger geworden. Die Flügel, die ich vor Kurzem noch zum Fliegen benutzt hatte, waren mir beschnitten worden, ich musste mich auf der Erde zurechtfinden. Jedes Ding bekam seinen Namen und verlor damit seine Sprache. Fast alles, mit dem ich in Berührung kam, hatte einen Wert, der in Geld ausgedrückt wurde. Ich hatte plötzlich Wünsche, die mir unerfüllbar erschienen und die mich quälten, ein Kofferradio, ein Motorrad ... Wer sollte das bezahlen? Ich lernte noch, und das Lehrgeld verlangte meine Mutter als Zuschuss zum Wirtschaftsgeld.

    Zum ersten Mal fühlte ich Angst, Dich zu verlieren, bevor ich Dich gewonnen hatte. Jetzt musste ich Deinen Namen wissen. Ich schrieb Dir nach D.; aber alle meine Briefe kamen zurück. Niemand kannte Dich. Mein Cousin, der bei seinem Vater das Fleischerhandwerk erlernte, lachte und meinte, so ein Mädchen, wie ich es beschriebe, hätte es in D. nie gegeben.

    Ich weiß nicht, wo und wie Du heute lebst; aber in der Welt musst Du sein. Du könntest mir Sentimentalität vorwerfen, die sich in Melancholie wohlfühlt. Vielleicht idyllisiere ich meine Kindheit, weil ich mein Erwachsensein nur schwer bewältige. Wer die Gegenwart nicht meistert, flieht in die Erinnerung. Wer kein Dach über dem Kopf hat, erbaut sich ein Traumschloss. Millionen Menschen sind mit mir den Weg aus der Kindheit ins Erwachsensein gegangen, und sie scheinen nichts zu vermissen außer Dingen.

    Inzwischen ist es mein Beruf geworden, Geschichten zu schreiben. Ich habe eine Familie, besitze ein kleines Haus mit Garten, lebe ohne materielle Not. Für das alles, für Familie, Arbeit und Haus, habe ich gekämpft. In all den Jahren ist mir etwas Wichtiges verloren gegangen, und ich hoffe, Du kannst es mir wiedergeben. Vielleicht stellt sich meine Arbeit, das Schreiben, meinem Naturell entgegen. Früher musste ich mich viel bewegen, jetzt verbringe ich die meiste Zeit des Tages sitzend vor meinem Schreibtisch. Das Alleinsein mit meinen Gedanken fällt mir oft sehr schwer. Wenn ich an einer Geschichte schreibe, bleibt mir zu wenig Zeit, mit lebendigen Menschen in Berührung zu kommen, die Dinge anzufassen und zu bewegen. Das geschieht in meinen Gedanken, und ich habe Gottes Stellung, Welt zu erschaffen, Menschen sich begegnen oder entzweien, sich lieben oder hassen zu lassen. Tatsächlich bin ich nur dem Gesetz der Literatur unterworfen, den drei Schwestern Fantasie, Wirklichkeit und Wahrheit, die den, der sich mit ihnen einlässt, ganz verlangen.

    Ich muss Dir von Liebschels erzählen. Vielleicht hätte ich mich nicht an Dich erinnert, wenn ich diese Frau nicht kennengelernt hätte, die Hanna Liebschel. Das war vor ein paar Wochen, im Frühling, und doch erschien mir unsere Welt dem Winter näher. Obwohl ich mit den Liebschels schon etliche Jahre bekannt bin, habe ich Hanna erst durch den Tod ihres Mannes begriffen. Von Kurts Tod erzähle ich Dir später. Erst musst Du erfahren, wie ich mit den Liebschels in Berührung kam.

    Ich galt damals als junger Autor, es war im Mai, Woche des Buches, und ich war zu Buchlesungen eingeladen. Eine Lesung hatte ich im, ein paar Kilometer von unserer Siedlung entfernten, Dorf D. (sein Name beginnt mit demselben Buchstaben wie das Dorf unserer Kindheit) vor Schülern im ehemaligen Vereinszimmer einer Kneipe. Im Raum roch es nach Bier und abgestandenem Tabakqualm, es war kalt und feucht, wir saßen auf Tischen, denn aus unerklärlichem Grund fehlten die Stühle. Ich war aufgeregt wie immer vor einer Lesung. Mein Publikum erschien mir besonders laut und unaufmerksam. Ich überlegte, mit welcher Geschichte die Mädchen und Jungen zu packen wären. Zwei Lehrerinnen, eine ältere und eine jüngere, versuchten vergebens, mit Drohungen und Vernunftappellen Ruhe und Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie erreichten das Gegenteil. Mädchen und Jungen waren darauf aus, sich zu zeigen, sie stießen einander, kreischten, verschütteten Limonade und ließen selbstgefaltete Papierflugzeuge durch den Raum segeln. Um Verständnis und Nachsicht zu beweisen, die ich im erforderlichen Maß nicht hatte, ließ ich den Zirkus lächelnd über mich ergehen, bis sich dann doch mein Ärger mit ein paar Worten Luft machte.

    Ich konnte meine Veranstaltung nicht beginnen. Da wurde noch einmal die Tür geöffnet, jemand rief:

    Nanga Parbat!, und augenblicklich herrschte Stille. Das war keine Stille, die sich unter Strenge und Furcht duckt, sie war eher achtungsvoll und freundschaftlich. Ein Ächzen, das Knarren der Dielen war zu hören, etwas Mächtiges bewegte sich, und dann zwängte sich, aus dem Dunkel des Flurs kommend, ein Mann durch den für ihn zu engen Türrahmen. Im Raum stand schniefend, sich mit einem Taschentuch übers schweißige Gesicht reibend, ein Koloss von Mensch. Nicht dass der Mann ungewöhnlich groß war, aber sein Umfang war der einer Tonne, seine Unterarme waren stärker als Männeroberschenkel, und den Bauch trug er wie eine Pauke vor sich her. Er war etwa vierzig Jahre alt, sein Kopf wirkte viel zu klein für den gewaltigen Körper, zumal aus seinem Gesicht die Augen gewitzt lächelten. Der Mann hob die fleischigen Hände, nickte den Kindern, den Lehrerinnen und dann mir zu, als befände er sich unter alten Bekannten. Er blickte sich suchend um, die Lehrerinnen waren in freudige Aufregung geraten, zwei Jungen wurden weggeschickt, die bald darauf mit zwei schweren Stühlen zurückkehrten. Der Mann rüttelte an den Stühlen, schob sie zusammen, setzte sich mit Vorsicht, dann aber doch aufplumpsend, er seufzte, stöhnte behaglich und sah mich erwartungsvoll an. Die ältere Lehrerin kam mit ihrem Mund meinem Ohr nahe und flüsterte: Unser Kurt Liebschel. Von der anderen Seite raunte die junge Lehrerin: Nanga Parbat. Nackter Berg. Sie verstehen.

    Ich nickte heftig und begegnete dem beschaulich lächelnden Blick dieses Dreizentnermannes, den sie Nanga Parbat, nackter Berg, nannten, der mit seinem Eintritt eine friedvolle Atmosphäre geschaffen hatte.

    Ich kann heute nicht mehr sagen, welche Geschichte ich vorgelesen habe; aber ich weiß noch genau, worüber wir lange sprachen: über das Kämpfen. Wie man Schläge wegstecken lernt. Dass man, umgeworfen, wieder aufzustehen hat. Hemingways Worte, die er den alten Fischer Santiago sagen ließ, machten die Runde:

    Aber der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.

    Mittelpunkt war Kurt Liebschel, Nanga Parbat, der das nicht herausforderte und nur hier und da einen Satz ins Gespräch gab. Er musste oft lachen, kollernd, sein mächtiger Körper geriet dabei in Schwingungen, die sich über die Dielen auf den Raum und schließlich auf uns übertrugen, als befänden wir uns in einem Fischerboot auf hoher See. Ich hatte den Eindruck, er brauchte das ihn erschütternde Lachen wie seine schnellen, asthmatischen Atemzüge. Während unseres Zusammenseins, das etwa zwei Stunden dauerte, trank er vier Flaschen Limonade und aß eine Unmenge Keks, der den Kindern wohl zu altbacken war.

    Nach der Veranstaltung verließen wir die Kneipe, die Mädchen und Jungen stoben davon, die Lehrerinnen verabschiedeten sich mit Dank an den Schriftsteller und vor allem an Kollegen Liebschel, und sie gingen in derselben Richtung, aber auf entgegengesetzten Straßenseiten.

    Kurt Liebschel lachte. Hühner, sagte er. Wollen Küken großziehen und hacken aufeinander ein. Es dauerte eine Minute, bis er sich mit knurrenden Lauten hinter das Steuer eines am Straßenrand parkenden Moskwitschs gezwängt hatte. Er zog krachend die Tür zu, kurbelte das Fenster herunter, stöhnte zufrieden und sagte, schwer atmend: Wie lebt eigentlich so einer, der schreibt?

    Ich hatte bei Kurt Liebschel nicht den Eindruck, dass er eine Frage der Höflichkeit halber oder aus Langeweile stellte, er wollte eine Antwort, er wollte etwas vom anderen erfahren. Ich erzählte ihm, dass ich mit dem Ausbau des gekauften Hauses nicht weiterkäme. Ohne Beziehungen liefe wenig. Und zu bieten hätte ich eben nur ein paar in ein Buch gebrachte Geschichten. Kurt Liebschel startete den Motor und sagte diesen Satz, den ich noch oft von ihm zu hören bekam und der zeitweise in D. und näherer Umgebung zum geflügelten Wort wurde: Da muss man dran drehen. Und er fügte hinzu: Kommst Sonntag in der Frühe mal zu uns, erklärte, wo er im Dorf wohnte, ballte die linke Hand zur Faust und fuhr mit knatterndem Motor langsam davon.

    Sonntagvormittag fuhr ich mit unserem klapprigen P 50 nach D. Es ist ein Dorf wie viele andere, buckelnde Häuschen, zwei, drei Bauernhöfe, die der Produktionsgenossenschaft gehören, Kirche, Friedhof, Bürgermeisterei, Gedenkstein für einen Antifaschisten, bellende Hunde, Enten, die ihre Küken über die staubige Straße zum Dorfteich führen, über das Kopfsteinpflaster segelnde Schwalben, alte Frauen, die aus schwarzem Tuch neugierig und misstrauisch auf den Fremden blicken. Das Dorf streckt sich lang, und an seinem einen Rand zieht sich ein hochaufgeschütteter, mit Gras bewachsener Damm hin, der sich kilometerweit nach beiden Seiten erstreckt, dahinter der Kanal, der im Bezirk Anglern und Badelustigen wohlbekannt ist. Auf der anderen Seite des Dorfes führt eine verkehrsreiche Fernstraße zur Bezirksstadt. Liebschels wohnten an dem kurzen Ende von D., keine zweihundert Meter von der Schweinemast entfernt, deren beißiger Geruch dem Ort anhaftet.

    Das Haus·ist ein, von den Urgroßeltern erbautes und von den Enkeln aufgestocktes, Gebäude, das in seiner Mitte geteilt ist und von zwei Familien bewohnt wird. Die Eingänge zu Liebschels Hausteil sind ein grün gestrichenes, übermannshohes hölzernes Tor und eine ebensolche Tür. Stall und Schuppen, ein Hundezwinger und Waschhaus schaffen einen engen Hof, auf dessen grobem Pflaster sich allerlei Geflügel, Katzen, Kaninchen und zu mancher Zeit ein Schwein und ein paar Schafe tummelten.

    Eine Klingel fand ich nicht, Tor und Tür standen offen. Ich ging über den Hof, stieg ein paar Stufen, öffnete die angelehnte Haustür und sah in einen mit Holz verkleideten und mit Eckbank und Bauerntisch ausgestatteten Vorraum. Ich trat hinein, es war kühl, und ich hatte den Eindruck, als würde der Raum nie benutzt. Von

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