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Der Augenblick
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eBook154 Seiten2 Stunden

Der Augenblick

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Über dieses E-Book

Zuerst, als Wilhelm Winzenburger vier oder fünf Jahre alt war, wollte er bei seinem Opa im Steinbruch arbeiten. Als er zwölf oder dreizehn Jahre alt war, wollte er Busfahrer werden. Dann Koch. Später als die Mittelachule zu Ende ging, wollte er auf einem Jesuitengymnasium in Nickelsburg das Abitur machen und dann alte Sprachen studieren. Es kam anders. Bis zum dreißigsten Lebensjahr arbeitete Wilhelm in verschiedenen Branchen. Dann wurde er ein Taugenichts, Müßiggänger, schließlich Schriftsteller.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum18. März 2015
ISBN9783738678222
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    Buchvorschau

    Der Augenblick - Günther Groh

    Inhalt

    Der Hungerkünstler

    Ganz in Weiß

    Das Wirtshaus im Spessart

    Der lachende Nachbarsjunge

    Keine Angst vor »Höhenluft«

    Borkum

    Die täglichen Fluchten

    Eintritt frei

    Die zwei hungrigen Schüler

    Der Bücherwurm

    Das Spiegelbild

    Gelbe Tulpen

    Kaltblütig

    Der Besuch

    Das Vorstellungsgespräch

    Wie ich das Verkaufen lernte

    Das Balkongespräch

    Die weinende Frau

    Das Schachspiel

    Um ein Haar

    Auf Gran Canaria

    Italien

    Die Kartoffelesser

    Geht aus diesem Land

    Das Verhör

    Die Bibelleserin

    Der Bauernhof

    Kein Platz für wilde Tiere

    Die Verlobung

    Landleben

    Der Hungerkünstler

    Als kleiner Junge – ich war wohl vier Jahre alt – saß ich mit meiner Mutter am Küchentisch. Im Rückblick sehe ich mich markerschütternd schreien. Dicke Tränen flossen mir über die Wangen. Was war geschehen? Ich hatte eine Backpfeife zu spüren bekommen. Und warum? Weil ich mich mit ganzer Seele sträubte, ein von meiner Mutter zubereitetes Schinkenbrot zu Abend zu essen. Die für mich bestimmte Brotschnitte hielt ich mit einem Gesichtsausdruck vor meinen Mund, als müsste ich mich gleich übergeben. »Iss!« rief meine Mutter. Doch ich widersetzte mich: »N-e-i-i-i-n! … Ich will nicht! … Ich esse nichts! …« sprudelte mein Mund hervor. Da war meiner Mutter die Hand ausgerutscht. Wums! Das Brot kullerte über den Tisch, meine Backe tat brennend weh, und als Antwort kam mein lautes Geheul.

    Als ich herzzerbrechend vor mich hin plärrte und mich nicht beruhigen konnte, gerade da – es war unfassbar für mich – fing meine Mutter zu lachen an. Sie lachte so sehr, mit Tränen in den Augen, dass sie sich in einem Lachkrampf bog und gar nicht mehr an sich halten konnte: Sie konnte kaum noch Luft holen. Mit verweintem Gesicht und mit vor Schluchzen halb erstickter Stimme empörte ich mich: »Was gibt`s denn da zu lachen?« Meine Mutter wies mit einer Handbewegung auf die Wand. An der Stelle, auf die sie hindeutete, klebte die Scheibe Kochschinken von dem Brot, das ich mit angewiderter Miene vor meinen Mund gehalten hatte und nicht essen wollte. Traurig sah ich abwechselnd meine Mutter – die sich tränenlachend nur so krümmte – und die Schinkenwurst an der Wand an. Widerstrebend stimmte ich auf der einen Seite mit in das Lachen meiner Mutter ein, aber gleichzeitig vergaß ich auch mein Weinen nicht. Nicht umsonst heißt es ja: Mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge.

    Ganz in Weiß

    Im Monat Februar kamen Angelina und ich im Wielheimer Krankenhaus auf die Welt. Unsere Mütter hatten sich auf der Entbindungsstation des Wielheimer Krankenhauses kennengelernt: Sie redeten viel zusammen, waren sich sympathisch und schlossen Freundschaft miteinander. Während meiner ersten Lebensjahre wohnten meine Eltern und ich im Wielheimer Forsthaus, zusammen mit den Förstersleuten und einer Polizeibeamtenfamilie. Angelinas Eltern waren in einem der umliegenden Dörfer zu Hause; der Ort hieß Leinberg. Dorthin, nach Leinberg, fuhren meine Mutter und ich von Zeit zu Zeit mit dem Fahrrad – in meiner frühen Kindheit, als ich noch ganz klein war und eben ein wenig sprechen konnte. Ich saß mit etwas zur Seite gestreckten Füßen hinten auf dem Gepäckträger des Damenrads, hielt mich an den zwei Sattelstützen fest, und vor mir trat meine Mutter, so gut es ging, in die Pedalen.

    In der sommerlichen Frische des Morgens fuhren wir erst durch die würzig riechende Stille des Waldes – die Sonne schien schräg durch die grünen Zweige der Buchen und warf Schatten und runde Lichter auf den Asphalt –, dann fuhren wir auf der freien Landstraße dahin. Zur Rechten, unten im Tal, erstreckte sich die hochaufgeschossene Wiese, reif zum Mähen, daran angrenzend standen die Sträucher und Bachweiden entlang dem Flüsschen Wiel, dahinter sah ich das bläuliche Grün der bewaldeten Hügel. Über den strahlend blauen Himmel zogen nur ein paar durchsichtige weiße Wolken. Mit ihrem schönen Gesang belebten einige Vögel die Szene.

    Ungefähr auf halber Strecke war an einem Berghang der Ort Hohenfels zu sehen. Jedes Mal – beim Anblick der aus großen Quadersteinen aufgeführten Burg – erstarrte ich beinahe vor Schreck. Ängstlich dachte ich an das unterirdische Verlies, in dem, wie mir einer meiner Onkel – der älteste Bruder meiner Mutter, Josef mit Namen, damals 15 Jahre alt – erzählt hatte, einst strafgefangene Männer in der Finsternis hockten. Wasser und Brot, Becher und Blechnäpfe – so erzählte es mir mein Onkel, der mir immer Angst machte – wurden täglich zu den Eingekerkerten hinuntergelassen. Sooft ich mir beim Anblick der Burg das Dunkel und die Ausweglosigkeit der Gefangenen in ihren Zellen vorstellte, verspürte ich ein Frösteln: Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und finstere Gedanken überkamen mich.

    Nach acht oder neun Kilometern Fahrstrecke bogen wir von der Landstraße ab; zu Fuß – meine Mutter schob ihr Fahrrad – setzten wir unseren Weg fort und gingen die steile Auffahrt nach Leinberg hinauf. Bei Angelina und ihrer Mutter Gerda Fischer blieben wir entweder bis zum Abend, manchmal auch mehrere Tage zu Besuch. Angelinas Vater Arnold arbeitete als Vorarbeiter in der Stadt auf Baustellen – nur an den Wochenenden kehrte er zu seiner Familie ins Dorf zurück. Auch mein Vater arbeitete nicht an dem Ort, in dem er wohnte: Er versah seinen Dienst als Maschinensetzer weit fort auf dem Nickelsburger Postscheckamt: In den ersten fünf Jahren meines Lebens sah ich meinen Vater nur an den Wochenenden.

    Angelina wohnte mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Dorothea im oberen Stockwerk des Dorfschulgebäudes von Leinberg in einer großen Einzimmerwohnung. Oft hielt ich mich hinter dem Schulgebäude auf. Ich sah den Enten beim Herumwatscheln mit ihren Küklein, die piepten, den gurrenden Tauben und den Stallhasen beim Fressen zu. Manchmal nahm ich ein junges Kaninchen auf den Arm und streichelte es. Am liebsten spielten wir Kinder in der Fahrerkabine eines ausrangierten Lastwagens, der im Hinterhof eines schönen Fachwerkhauses stand. In dem alten, mit Rost bedeckten Laster hockte ich wie ein Fernfahrer hinter dem großen Lenkrad, und Angelina und ein paar andere Kinder drängten sich auf dem Sitzplatz neben mir. Das schöne Fachwerkhaus mit dem schrottreifen Lkw im Hof gehörte Angelinas Großmutter mütterlicherseits und lag der Dorfschule gegenüber.

    Als ich fünf Jahre alt geworden war, zogen wir von Wielheim nach Nickelsburg um. Die Großstadt Nickelsburg – etwa sechzig Kilometer von Wielheim entfernt – war die Heimatstadt meines Vaters. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges hatten sowohl meinen Vater – dessen Familie zu den Ausgebombten gehörte – als auch meine Mutter, die als junges Mädchen mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern aus dem Sudetenland vertrieben worden war, für etliche Jahre nach Wielheim verschlagen; dort machten meine Eltern Bekanntschaft miteinander. In Nickelsburg, wo wir nach dem Umzug wohnten, fuhren Straßenbahnen, dort waren ein Zoo, der Palmengarten, ein großer Bahnhof und der weltbekannte Flughafen mit seinen Start- und Landebahnen. In den Kaufhäusern konnte man in Fahrstühlen oder auf Rolltreppen von Stockwerk zu Stockwerk fahren. Es gab Kinos, Theater, große Volksfeste, und oft gastierte ein berühmter Zirkus mit Tigern und Dompteuren, mit Clowns und Trapezkünstlern in Nickelsburg. Das alles war neu und aufregend für mich. Schon bald hatte ich mich in Nickelsburg eingelebt. Meine Mutter und ihre Freundin Gerda Fischer schrieben sich in der Folge Briefe, und noch heute, während ich dies schreibe, sind sie in Kontakt.

    In den Jahren nach unserem Umzug kam Angelina manchmal nach Nickelsburg, um uns einen Besuch zu machen, dann und wann verreiste ich für ein oder zwei Wochen nach Leinberg, wo die mit uns befreundete Familie mittlerweile in ein neugebautes Einfamilienhaus am Ortsrand eingezogen war. Angelina – zweitälteste von inzwischen vier Geschwistern – war zu einem hübschen, frischen jungen Mädchen herangewachsen: Sie war immer schöner geworden. Ihr dickes, langwallendes, schwarzes Haar war immer straf zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht mit den ausdrucksvollen dunkelblauen Augen und ihren oft lachenden Mund mit den regelmäßigen perlweißen Zähnen sehe ich vor mir, als wäre es jetzt.

    Wenn ich, als Großstadtjunge, einen Teil der Sommerferien in Leinberg verbrachte, dann langweilte ich mich in dem kleinen Ort; oft räkelte ich mich faul auf dem Rasen im Vorgarten der Fischers, schaute den Schmetterlingen beim Herumflattern zu, kaute einen Halm und träumte vor mich hin, oder ich lungerte mit ein paar Altersgenossen und mit Waldemar, dem ältesten von Angelinas Brüdern, auf den Gassen des Dorfes herum; wir dachten uns auch Streiche aus und vollführten allerlei Kunststücke.

    Gelegentlich war ich mit Angelina und einer ihrer Freundinnen unterwegs. In der Gluthitze der Sommertage spazierten wir über das fruchtbare Land und durch die reifen Kornfelder: Ich riss Weizenähren ab, zerrieb sie in der Hand und aß die Körner im Weitergehen; dabei tat ich mich mit dem Leben in Nickelsburg groß, um den Mädchen zu imponieren. Manchmal machten wir uns auch in die Wieltalwiesen ans Ufer des Flüsschens Wiel auf. Dort angelangt breiteten Angelina, ihre Freundin und ich die mitgenommenen Decken auf dem grünen Gras aus – die Wiese war von blauen und weißen Blumen übersät –, und wir streckten uns aus und sonnten uns in unseren Badekleidern. Während wir uns in der Sonne bräunten, hörten wir das Summen der Insekten, die uns umschwärmten; wir spürten die leidigen Bremsen und Fliegen, die sich an uns festsogen, sie ließen uns keine Ruhe und fraßen uns beinahe auf. Ab und zu badeten wir – scheu wie die jungen Vögel, die sich piepsend im Dickicht regten – in dem Flüsschen Wiel, trockneten uns dann mit den Handtüchern ab und sonnten uns wieder.

    Einmal trat ich meine Heimreise nach Nickelsburg an einem drückend schwülen Sommernachmittag an. Kein Lüftchen rührte sich. Angelina hatte mich begleitet: Zusammen standen wir neben der Landstraße an der Haltestelle. Im Duft von Heuhaufen, der die Luft erfüllte – auf den Wieltalwiesen hinter uns lag das frisch gemähte Gras in Reihen –, unterhielten wir uns und warteten auf den Bus. Meinen altmodischen braunen Koffer und eine Eierpappe mit dreißig frischen Hühnereiern hatte ich am Straßenrand abgestellt. Als der rote Linienbus schließlich herangefahren kam und mit laufendem Motor hielt, verabschiedeten wir uns. Ich ergriff hastig den schäbigen Koffer, bestieg den Bus durch die vordere Tür, löste beim Fahrer eine Fahrkarte und ging den Mittelgang hinunter.

    Auf der Suche nach einem freien Platz war ich schon ziemlich weit nach hinten gegangen. Da hörte ich auf einmal Angelinas Stimme. Vor all den Leuten, die im Bus auf ihren Plätzen saßen, rief Angelina mir laut nach: »W-i-l-he-l-m! … Vergiss die H-ü-h-n-e-r-e-i-e-r nicht!«

    Ich fuhr

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