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Wie ein Vogel aus dem Ei
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eBook344 Seiten5 Stunden

Wie ein Vogel aus dem Ei

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Über dieses E-Book

Hin- und hergerissen zwischen vorgesteckten Zielen und der Sehnsucht nach Unbekanntem und Wagnis ist das Mädchen Cornelia, genannt Conny. Und sie macht verwirrende, komische wie schmerzliche Erfahrungen: mit Jungen, Männern, der eigenen Schwester. Um Klarheit zu gewinnen, schreibt sie alles nieder. Geschehen in den Achtzigerjahren der DDR. Heute, als junge Frau liest sie nach. Denn plötzlich ist ihr Jugendfreund Ludwig wieder aufgetaucht, mit dessen Rennrad sie einmal vom Kilimandscharo fliegen konnte...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Jan. 2015
ISBN9783738011623
Wie ein Vogel aus dem Ei

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    Buchvorschau

    Wie ein Vogel aus dem Ei - Gunter Preuß

    Prolog

    Ach, weiß man in eurem Volk überhaupt, wie man lieben kann? Furcht, Müdigkeit und Zweifel verbrennen, verschwinden auf ewig. So sehr kann man lieben. Selbst die Bäume im Wald können zärtliche Worte mit uns wechseln und die Vögel und die wilden Tiere, weil Liebende alles verstehen und sich eins fühlen mit der ganzen Welt.

    Jewgeni Schwarz, Der Drache

    Einführung

    Wer hätte das denn gedacht? Ludwig Zeller! Es gibt ihn noch. Da ist er mir doch mitten im Gedränge der Innenstadt wieder über den Weg gelaufen. Wie damals in der Schule, als ich nicht mehr weiterwusste. Bei etwa fünf Milliarden Menschen liegt die Wahrscheinlichkeit für so eine Wiederbegegnung der anderen Art dicht bei null.

    Eine Woche ist es her, dass wir uns begegnet sind. Inzwischen haben wir eine Woche zusammengelebt. Wir sind Tag und Nacht nicht aus meiner Wohnung gekommen. Es war, als hätten wir beide viel nachzuholen und als hätten wir Angst, dass wir diese Leidenschaft nie wieder erleben könnten. Ich, Du und Wir - alles jetzt, in einem Augenblick, mit einem Mal. Ein Rausch. Aber der hält nicht ewig an. Irgendwann kommt man wieder zur Besinnung und beginnt, sich Fragen zu stellen. Von dem, was eben noch selbstverständlich war, bin ich nun im Nachhinein überrascht. Ich misstraue wohl meinem Glück. Bisher ist mir nichts leicht gefallen und alles musste ich mir schwer erarbeiten.

    Ob ich will oder nicht, ich kehre immer wieder zu unserer Begegnung zurück, als könnte ich dort den Beweis, eine Art Zeichen finden, dass ich nicht einfach einem Teenager-Traum aufsitze. Obwohl ich - der Himmel bewahre mich - fast dreißig bin und ein gutes Dutzend Jahre vergangen sind, dass ich Ludwig Zeller gesehen hatte, habe ich ihn gleich wieder erkannt. Das heißt, ein Weilchen dauerte es schon, bis ich begriffen hatte: Er ist es. Da war er fast schon wieder in der Menschenmenge verschwunden: ein hoch gewachsener Mann, Jeans, T-Shirt, eine abgewetzte Ledertasche unterm Arm, dunkle, kurze Haare, leicht nach vorn gebeugt, wie ein Langläufer, der den Start trainiert.

    Es ist später Abend. Ich sitze am Fenster meines Wohnzimmers, das ich auch zum Arbeiten und Schlafen benutze. Die Wohnung hat nur noch eine kleine Küche und ein Bad. Sie befindet sich im Erdgeschoss eines Mietshauses, das wohl am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts seine beste Zeit hatte. Das Haus steht in einer Tag und Nacht belebten Durchfahrtstraße am Rand der Innenstadt.

    Ich habe die Gardine zurückgezogen und blicke auf die Straße. Eine Straßenlampe lässt draußen die Nacht zum Tag werden. Diese künstliche Sonne hat etwas Beängstigendes an sich, sie scheint ohne Unterbrechung und ganz gleichmäßig. Ich habe mindestens dreißig Grad im Zimmer, und doch fröstelt es mich oft. Meine Augen haben sich inzwischen an das Licht gewöhnt, das auch noch in den letzten Winkel des Raumes dringt, als sollte ich davon abgehalten werden, etwas zu verstecken. Aber ich besitze so gut wie nichts, das jemand begehren könnte. Da sind nur die paar Möbel, die nicht neu, aber auch nicht alt genug sind, um einen Wert zu haben: Liege, Schrank, zwei Sessel; überfüllte, sich bis zur Zimmerdecke hochziehende Bücherregale und der riesige Schreibtisch mit der Computeranlage und dem Chaos von handbeschriebenen Papierblättern.

    Ich sehe wie durch den Sucher einer Kamera auf ein paar Quadratmeter Stadt, deren Bild sich ständig verändert und doch immer das Gleiche ist: vorbeifahrende Autos und Straßenbahnen verschiedener Linien in regelmäßigem kurzen Zeittakt, Menschen, die von irgendwo nach nirgendwo hasten.

    Etwa schon seit einer Stunde sehe ich immer wieder einmal zu einem Pärchen, das sich schräg über der Straße in einen im Halbschatten liegenden Hauseingang drückt. Sie umarmen sich, als wollten sie einander nie wieder loslassen. Doch schon zweimal sind sie nach kurzem und heftigem Streit auseinander gelaufen und aus meinem Blickfeld verschwunden. Aber es dauerte nicht lange, da kehrten sie ins Bild zurück. Sie rannten aufeinander zu, um sich wieder in die Arme zu schließen.

    Ich fühle mich als eine Art Voyeur, ich zwinge mich zum Wegsehen; aber es vergehen nur Sekunden, bis ich die zwei wieder beobachte. Ich spüre mein Herz klopfen, mein Hände schließen sich immer wieder zu Fäusten, und mein Kopf ist heiß.

    Ich wollte an meinem Manuskript weiterarbeiten, einem Kinderbuch, die Geschichte der kleinen Hexe Toscanella Fliegsogern, die von ihren Eltern verlassen mit ihrem fetten Schwein Schlachtmichnicht im Hexenwald lebt. Toscanella ist weder sehr traurig noch recht froh, bis sie eines Nachts Rufe hört: Toscanella ... Toscanella ... Es ist eine wunderschöne Vollmondnacht, im Hexenwald liegen alle in den Betten, und die kleine Hexe schwingt sich auf ihren Hexenbesen und steigt hoch in die Lüfte, um den Rufer zu finden ...

    Ich arbeite gern in der Nacht; ich finde, da hört, schmeckt und fühlt es sich genauer, und ich kann mich gut aus mir heraus in jemand anders hineindenken. Aber diesmal gelingt mir die Konzentration auf meine kleine Geschichte nicht. Ich finde nicht aus mir heraus, und ich wüsste auch nicht, wohin mit mir.

    Heute, gegen Mittag, hat sich Ludwig Zeller aus unserer Umarmung gelöst. Ich habe es kaum gemerkt. Erst als die Wohnungstür ins Schloss fiel, bin ich hochgeschreckt. So elend und verlassen habe ich mich noch nie gefühlt. Aber dann fand ich auf seinem Platz neben mir ein Blatt Papier, und ich las: Liebe Conny. Ich wollte dich nicht wecken. Du hast im Schlaf gelächelt. So - glücklich. Bestimmt hattest du einen schönen Traum. Ich muss meine Reisepapiere abholen. Fast hätte ich es vergessen. Dann muss ich noch ein paar Sachen erledigen und meinen Koffer packen. Bin so bald wie möglich zurück. Bitte denk inzwischen über meinen Vorschlag nach. Ich wäre sehr froh. L.

    Letzte Nacht, als ich in Ludwigs Armen vor mich hin träumte, sagte er mir wie nebenbei, dass er in zwei Tagen für ein Jahr als Korrespondent nach Brasilien müsse. Ob ich nicht Lust hätte nachzukommen. Endlich könnten wir doch unsere Träume von damals wahr machen. Wenn es auch statt des Kilimandscharo vorerst nur der Zuckerhut sei ... Und würde es nicht auch für mein Schreiben wichtig sein, die Welt kennenzulernen?

    Immer wieder spielt sich in meinen Gedanken das überraschende Zusammentreffen mit Ludwig Zeller ab. Wie ein Stück Film, das sich am Ende jedes Mal zurückspult und von Neuem beginnt. Als wäre darin ein für mich lebenswichtiger Hinweis versteckt. Hallo ... hallo!, habe ich diesem Mann hinterhergerufen. Und er hat sich herumgedreht, als wenn er nur auf meinen Ruf gewartet hätte. Ich sah in das Gesicht eines fremden Mannes, aus dem mich das vertraute Gesicht des Jungen Ludwig Zeller ansah. Es ist ein gutes Gesicht, blass, ein bisschen verträumt, aber doch wach, kindlich trotzig und zugleich männlich energisch.

    Ja? -Ja!, hat er gesagt.

    Sie sind ...? Du bist ...

    Cornelia, hat er gesagt. Mensch, Conny!

    Wir haben uns gegenübergestanden, ein paar Meter entfernt, und die Leute sind an uns vorbeigelaufen, als gäbe es uns nicht. Es hat gedauert, bis wir den ersten Schritt aufeinander zu gemacht haben. Ich habe diese Sekunden der Schwerelosigkeit genossen, und ich denke, Ludwig ist es ebenso ergangen. Es war ihm wenig anzusehen, er ist nur nicht mehr ganz so blass gewesen. Ludwig hat seine Gefühle auch damals nicht aller Welt zeigen können; aber ich weiß in seinen Augen zu lesen.

    Eine Straßenbahn hält vor meinem Fenster, obwohl hier keine Haltestelle ist. Sie verstellt mir den Blick auf die beiden an der Haustür. Ich springe auf, bücke mich, als könnte ich es erzwingen, drunter durch oder darüber zu sehen. Ich laufe in die Küche, aber auch von hier ist der Blick von der Straßenbahn verstellt, deren grelle Werbung mir ein fleckenloses Weiß verspricht, wenn ich meine Wäsche mit ... wasche. Der Name des Produktes ist mit einem schwarzen Totenkopf übersprayt.

    Als ich ans Fenster meines Zimmers zurückkehre, fährt die Straßenbahn los. Ich muss noch den sich auflösenden Autostau abwarten, dann kann ich endlich die beiden wieder sehen: Fast unverändert lehnen sie aneinander, vielleicht etwas tiefer im Schatten des Türbogens, noch enger gefasst. Ich kann nicht erkennen, wer wen hält. Mir ist, als verändere sich das. Mal ist er es, mal sie. Jetzt erkenne ich, die beiden, die wie eins scheinen, schwanken leicht, als würden sie hin und her geschoben.

    Ludwig, habe ich gesagt. Du hast es wohl sehr eilig?

    Nein, hat er gesagt, dann flüchtig auf seine Uhr gesehen und energisch den Kopf geschüttelt.

    Wollen wir ...?

    „Ja. Ja." Wir sind losgegangen, wie auf ein festes Ziel zu, immer wieder schoben sich Menschen zwischen uns, aber es fiel uns leicht zusammenzubleiben.

    In einer Bäckerei haben wir uns an einen Tisch gestellt und Kaffee getrunken. Wir haben wenig gesagt, nur Belangloses, ich habe es vergessen. Wir waren nicht verlegen, und es gab auch keine Fremdheit zu überwinden. Ich denke, uns hat einfach überwältigt, dass wir uns nach all den Jahren noch so nahe sind, als hätten wir nur voneinander getrennt ein paar Tage Urlaub gemacht. So viel Kaffee auf einmal habe ich in meinem Leben noch nicht getrunken. Es hat nach frischem Brot und Kuchen geduftet. Die Türglocke hat geläutet, wenn ein Kunde den Laden betrat oder verließ. Hinter uns verplätscherten die knappen Kaufgespräche. Ludwig und ich sahen durch das große Schaufenster auf die entgegengesetzten, nicht abreißenden Fußgängerströme und den hektischen Autoverkehr. Ab und zu nur blickten wir einander in die Augen, und wieder empfanden wir überwältigende Freude. Und wie nebenbei erzählten wir aus unseren Leben der letzten Jahre.

    Das fällt mir erst jetzt wieder ein. Mir war so, als hätten wir kaum ein Wort miteinander gewechselt, nur unsere Nähe sei noch wichtig gewesen.

    Die beiden im Hauseingang haben die Köpfe aneinander gelehnt. Es sieht aus, als hätten sie endlich im Schweigen zusammengefunden. In diesem Schwanken, dieser Pendelbewegung, sind sie harmonisch, als wären sie nun völlig aufeinander eingestimmt. Ich kann mich kaum an Einzelheiten von dem erinnern, was Ludwig Zeller mir und ich ihm alles erzählte. Es war ja in der Welt so viel passiert in den letzten Jahren. Was für die Ewigkeit geplant gewesen war, hatte die Geschichtsschreibung innerhalb von ein paar Monaten als Episode notiert. Wer fragt denn da nach dem Leben eines Einzelnen. Oder doch jemand?

    Ich weiß nur noch, dass Ludwig Zeller, wie ich, nicht geheiratet und keine Kinder hat. Und dass er kein Offizier geworden ist, sondern Wirtschaftsjournalist bei einer großen Zeitung. Und dass er mir wichtig ist wie kaum jemand.

    Das Pärchen steht unverändert, als wäre es zur Skulptur geworden. Aber diese Bewegungslosigkeit, dieses erstarrte Eins sein macht mich doch unruhig, ich öffne hastig das Fenster und rufe hinaus: Hallo? Hallo! Doch die beiden hören mich nicht. Jetzt schäme ich mich, schließe das Fenster und ziehe die Gardine zu. Soll mit den beiden da draußen doch passieren, was will. Ich habe hier drinnen mit mir zu tun. Es treibt mich im Zimmer auf und ab. Dann bleibe ich vor den Bücherregalen stehen, ziehe irgendein Buch heraus und blättere darin.

    Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Ludwig Zeller und ich die Bäckerei verließen. Wir standen auf einem Fußweg, unsere Hände hielten sich, und ich sagte, um unser Zusammensein noch ein Weilchen auszudehnen: Was für ein Zufall. Das alles ist doch ziemlich verrückt.

    Ja, sagte er. Verrückt ist gut. Ja, schön.

    Wir standen in dieser brodelnden Stadt wie auf einer winzigen Insel. Ein paar Sekunden standen wir steif und wussten nicht weiter. Das war so ein Moment, der über das weitere eigene Leben entscheidet. Das sind diese Augenblicke, in denen man wie im Märchen an einer Wegkreuzung mit vielen Schildern steht, die einem die richtige Richtung für den weiteren Weg weisen wollen. Ich musste nicht überlegen, und Ludwig auch nicht, denn wir fielen uns in die Arme, drückten uns so fest aneinander, dass wir beide leise aufschrien, fassten uns an den Händen und rannten los.

    Wie ferngelenkt ziehe ich einen Hefter, der zwischen Dickens und Tolstoi klemmt, aus dem Regal, und ich weiß, das ist es, was ich finden wollte: Wie ein Vogel aus dem Ei.

    Meine Teeniegeschichten, die ich damals unbedingt Ludwig schicken wollte. Was ich nie tat.

    Als ich von zu Hause weg bin, habe ich sie aufgeschrieben. Ich weiß nicht, was sonst mit mir passiert wäre, wenn ich nicht zu schreiben begonnen hätte. Vielleicht wäre ich explodiert oder verschimmelt.

    Also Conny und die Jungs. Werner Branstner und seine Taubengeschichte. Hans Wegener und die Schauspielerei. Frank Peter und die Stübbe-Ranch. Das Menschenschwein Henning. Und natürlich auch Ludwig Zeller und sein Rennrad.

    Dazu all die anderen Menschen, die mir einmal nahe waren: von der Kneipenwirtin Jolly Eisenarm über meine Freundin Franziska, das Biest, Klassenlehrer Kröger, das magenkranke Angsthäschen, bis zu unserer Großen, meine Schwester Helga, das Sprintwunder. Ich schlage irgendeine Seite auf und lese nach all den Jahren zum ersten Mal wieder Maurers Gedicht von den Nachtsorgen, das mir damals immer wieder Hoffnung gab, als ich schon am Verzweifeln war.

    Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen

    wie ein Vogel aus dem Ei.

    Ich habe die Schale durchbrochen

    und spaziere jetzt frei.

    Bin ich denn frei? Wirklich frei? Und was ist das überhaupt: Freiheit? Tun und lassen können, was man will? Anarchie. Das Chaos. Ich würde sagen, frei sein ist: sich selbst verantwortlich sein. Vielleicht habe ich ja auch darum alles immer wieder hingeschmissen: das Mathematikstudium, eine Hand voll feste Beziehungen, eine Rolle in einer der Endlos-Serien im Fernsehen, die Büro-, die Zeitungs-, die Rundfunkarbeit. Ich bin Schriftstellerin geworden. Zwei Bücher für Kinder sind bisher erschienen, sie haben keinen umgeworfen, aber ich werde weiterschreiben, denn ich bin voll von Geschichten, die ich für wert halte, dass sie aufgeschrieben und von Menschen gelesen werden.

    Ich weiß jetzt, was die Hühner wissen,

    wenn sie picken.

    Ich weiß, wen die Raben grüßen,

    wenn sie mit dem Kopf nicken.

    Und nun läuft mir doch Ludwig Zeller über den Weg und fragt mich, ob ich mit ihm nach Brasilien gehe. Nicht nur für vierzehn Tage Ferien unterm Zuckerhut an der Copacabana. Nein, du und ich für ein Jahr zusammen auf einem anderen Stern. Und was dann? Und wie überhaupt?

    Es gibt keine Zweierkiste mit Garantieschein. Du hast ja Angst, Conny. Ja, die hab ich. Wenn ich es nicht schon erlebt hätte: nach dem kurzen Höhenflug der langsame Absturz und der harte Aufprall. Gegenseitige Vorwürfe. Wut. Vielleicht Hass. O nein. Nein, nein. Nicht mit mir!

    Aber. Ja, aber. So schön war es nie wieder wie damals mit Ludwig Zeller. Auf seinem Rennrad die Abfahrten vom Kilimandscharo. Der streichelnde Wind. Die Helligkeit des Blaus. Die Wärme unter der Haut. Das Aufeinander Zugehen. Die Lust zu leben. Das alles gibt es noch zwischen uns. Und mehr noch. Diese Woche des Zusammenseins hat es bewiesen. Beweise. Die taugen doch nur für die Vergangenheit. Schon in der Gegenwart sind sie anzuzweifeln. Und für die Zukunft sind sie ausgeschlossen.

    Was nun? Was werde ich Ludwig sagen, wenn er zurückkommt und mich in die Arme nimmt? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.

    Ich ziehe die Gardine wieder zurück und sehe über die Straße auf den Hauseingang. Noch immer stehen die beiden eng zusammen, als könnte sie nichts auseinander bringen. Doch ein Denkmal, das wegen seiner Schwere abgestellt und vergessen wurde? Morgen wird ein Auto vorfahren, Männer werden es aufladen und in einem Park aufstellen. Ein Spielplatz für Stadtsperlinge.

    Aber da zeigt sich Leben, es sind doch zwei, du und ich, sie schwanken, die beiden, leicht rhythmisch, ein Pendeln, wie gesagt, der Schlag ihrer Herzen, wer weiß, die Unruhe in zwei Menschen.

    Wie ein Vogel aus dem Ei. Ich schlage die erste Seite auf und lasse mich in eine Welt ein, die man Vergangenheit nennt. Für viele Menschen ein abgesperrter Müllplatz, auf dem unliebsames Leben entsorgt wird. Für andere das gelobte Land, in dem sie sich in ihren Tagträumen aufhalten, weil sie in der Gegenwart nicht bestehen können.

    Ich weiß nicht, ob mein Rückblick gut und richtig ist, ob ich mich in der Vergangenheit verlaufen und vielleicht mutlos in der Gegenwart ankommen werde; ich weiß nur, dass ich es wagen muss, dass Ludwig und auch ich eine Antwort brauchen.

    Denn noch einmal werden wir uns so nicht begegnen.

    1.

    Änni hat mir geschrieben. Änni, die Jolly Eisenarm genannt wird, in Künstlerkreisen. Sie braucht ein Stück für ihr Theater. Sie ist gerade bei der Gründung. Jolly Eisenarms tragische Bühne (worauf mit Kunst gezeigt wird, wie das Leben so spielt). Sie schreibt, sie brauche ein Stück Leben. Eine richtige Geschichte. Eine, in der die Liebe die große Rolle spielt. Wie's nun mal im Leben so sei. Ich solle mich auf den Allerwertesten setzen und aufschreiben, was mir aus dem Herzen fließe. Ich, Conny Warmbrunn, im blühenden Alter von achtzehn Jahren, sei auf jeden Fall eins der vielen unentdeckten Talente, die das Leben bietet. Gezeichnet Jolly Eisenarm. Künstlerische Leiterin der tragischen Bühne.

    Änni, das gute Herz. Ihr Theater wird wohl immer ein Traum bleiben. Aber's ist ein guter Traum. Und der gehört zu ihr wie ihr Nettogewicht von drei Zentnern und zwei Pfund. Das lässt sie sich nicht nehmen. Kein Gramm. Und so wird sie auch ihren Traum festhalten. Mit Augenzwinkern.

    Änni hat mich aufgefordert, meine Geschichte aufzuschreiben. Aber was ganz anderes zwingt mich dazu. Ich könnte's auch in Musik fassen. Nur fehlen mir die Töne und was man so braucht. Und's würde auch zu ungenau. Malen könnte ich's auch. Wie damals mit Ludwig Zeller. Aber im Augenblick kann ich die richtigen Farben dazu nicht finden. Nun versuche ich's mit Schreiben. Da habe ich's dann schwarz auf weiß. Und's gibt kein Entschuldigen und Verstecken mehr. Ich habe die Verantwortung für mich und meine Geschichte. Bin endgültig raus aus dem Behütetsein. Ich fürchte mich ein bisschen davor. Aber so muss es sein.

    Was ich schreibe, wird für Ännis Theater auf keinen Fall geeignet sein. Stattdessen werde ich es Ludwig Zeller schicken. Es wird nichts mehr ändern. Ich hätte's früher tun müssen. Ich hatte nicht den Mut. Und nicht die Kraft. Und die gehören nun mal zur Wahrheit wie das Leben zur Kunst. Das ist aus Jolly Eisenarms von mir gesammelten Worten. Jetzt, wo's mir ziemlich dreckig geht, wo ich weiß, dass es für immer aus ist mit Ludwig Zeller, habe ich beides. Ich habe das alles wohl erst durchmachen müssen, um zu begreifen. Nun werde ich alles aufs Papier bringen. Wie ich's gesehen habe und jetzt erkenne. Kunst bringt Klarheit, hat Änni mir immer wieder gesagt. Und Klarheit brauche ich jetzt. Fürs Weitergehen. Und weitergehen muss es. Das ist klar.

    Bin vor ein paar Tagen in der Kleinstadt C. angekommen. Fühle mich wie ein Boot, das nicht vom Ufer loskommt. Das große Wasser lockt mich manchmal. Der Wind hat aufgefrischt. Mir fehlen nur noch die Segel. Bildlich gesehen das Ganze. Erst mal raus aus dem Hafen. Irgendwie werde ich den Kahn schon steuern. Ich brauche Segel. Unbedingt.

    Wieder ist dieses Gefühl in mir. Es macht mich ganz krank. Und zugleich erfüllt's mich mit Hoffnung auf etwas ganz Großartiges, Einmaliges. Ich könnte schreien. Vor Schmerzen und Freude. Da ist eine Musik in mir, nie gehört. Töne, die Farben malen, nie gesehen. Farben, aus denen Gestalten wachsen, die wie ein Vogelschwarm dahinziehen und mich rufen und locken.

    Und irgendwann werde ich wieder fliegen können, mitten in diesem Vogelschwarm, der mich jetzt ruft und lockt. Daran will ich glauben. Ganz fest.

    2.

    Am besten, ich fange mit dem Tag an, als Werner Branstner mit seinen Eltern nach R. zog. Ich war damals in der achten Klasse. Hatte soeben begonnen mir Gedanken zu machen über die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Ich meine nicht nur die der Anatomie. Darüber wusste ich längst Bescheid. Aus Büchern und was man so hört. Meine Eltern hätten sich lieber die Zunge rausgerissen, als dass sie mit mir über so was geredet hätten.

    Ich kriegte mit, warum unsere Jungen immer stärkeren Zirkus veranstalteten. Sie lernten auf Händen laufen, rauchten während des Unterrichts, spuckten in alle Ecken und fanden alles, was ihnen gerade noch Spaß gemacht hatte, blöd und kindisch. Wenn Hanni Wenzlau nicht in der Nähe war, wurden sie wieder relativ normal. Bei Hanni Wenzlau war schon alles dran. Sie ging in unsere Klasse, war aber ein reichliches Jahr älter als wir, da sie mal hängen geblieben war. Sie trug als Erste Strumpfhosen und hochhackige Schuhe. Eines Tages, aus lauter Blödsinn, wie sie sagte, hatte Hanni einen Fingernagel lackiert. Eine Woche später glänzten alle ihre Fingernägel karminrot. Ein paar Tage danach lag auf ihren Lippen eine Schicht Metallicrosa, die Augenlider hatten dunkelblaue Schatten, die Brauen waren schwarz nachgezogen.

    Wir anderen Mädchen waren restlos erledigt. Wir versuchten sie einzuholen. Ich war ein Spätstarter. Bevor ich aus den Blöcken kam, waren die andern schon im Ziel. Ich gewöhnte mir das Fußballspielen ab, begann mir Hals und Füße gründlicher zu waschen, auch abends die Zähne zu putzen, achtete auf saubere Fingernägel, ließ mir die Haare lang wachsen und hatte immer öfter ein Taschentuch und einen Kamm bei mir.

    Ich will von dem Tag erzählen, als Branstners nach R. zogen und Werner am Morgen noch einmal in unsere Klasse kam, um sich zu verabschieden. Er hatte das schon einen Tag vorher getan. Wir hatten ihm ein Lied gesungen. Er hatte uns alles Gute gewünscht. Und wir ihm. Nun stand er noch mal vor uns. Sagte kein Wort. Stand nur da, als warte er auf etwas. Frau Paulsen, unsere Klassenlehrerin, der jede Minute, in der sich die Menschheit nicht mit Mathematik abgibt, sinnlos vertan erschien, wurde ungeduldig. Die Paulsen war Mitte dreißig. Sah wirklich noch einwandfrei aus. Mich erinnerte sie immer an ein herausgeputztes Pferd, das ich in meiner Zirkuszeit kennengelernt hatte. Ich war damals sechs Jahre alt. Wollte unbedingt Clown werden, über Eimer stolpern, im verschütteten Wasser herumplantschen und darüber lachen und weinen dürfen. Das war mein größter Wunsch. Der Zirkus stand bei uns in der Nähe. Bin jeden Tag hin. Mit und ohne Erlaubnis. War in den Tierställen und zu den Nachmittagsvorstellungen. Dort habe ich auch ein Pferd kennengelernt, an das mich die Paulsen erinnerte. Es war ein schönes Pferd, schlank und schwarz, und verstand sich zu bewegen. Es hieß Marquise de Pompadour. Hatte alle Tricks gut drauf und war verflucht eitel. Der Mann, der mit der Pompadour auftrat, hieß Paul. Er war ein unscheinbarer stiller Mensch, den man erst wahrnahm, wenn er sein Kostüm anhatte. Pferde gingen ihm über alles. Wenn er die Pompadour tätschelte und lobte, dass sie wieder alles gut gemacht hatte, und sich dankbar zeigte, war's in Ordnung, und sie war zu ertragen. Aber wehe, er hatte mal etwas anderes im Sinn, als ihr Zucker zu geben; dann fing das Biest an herumzuspringen, zu beißen und zu treten.

    Nun, der Werner Branstner stand im Klassenzimmer und rührte sich nicht.

    Was gibt es denn noch?, fragte ihn Frau Paulsen. Nichts, sagte Werner Branstner und sah uns alle böse an.

    Ich kannte ihn seit dem zweiten Schuljahr. Er war mit seinen Eltern vom Dorf in die Stadt gezogen. So richtig zu Hause gefühlt in der Stadt hatte er sich wohl nie. In der Schule war er mittelmäßig, er war oft krank. Wenn er mal sprach, erzählte er von seinem Dorf Das waren Geschichten, mit denen wir Großstadtkinder nichts anzufangen wussten. Er war uns immer etwas fremd geblieben. Wie einer, der von so weit her kommt, dass man's sich gar nicht richtig vorstellen kann.

    Wir haben nur einmal miteinander gesprochen. Während eines Schulsportfestes. Ich war am schlechtesten gesprungen, obwohl ich favorisiert war. Hatte zu Hause Ärger gehabt, und mir war nicht nach weiten Sprüngen zumute gewesen. Saß im Gras, hörte die Jubelschreie der anderen, fand das Leben ungeheuer schwer und anstrengend. Da stand der Werner Branstner vor mir und sagte Du warst nicht schlecht. Wirklich nicht

    Na danke, sagte ich ziemlich überrascht. Die anderen waren nur besser, was.

    Ich saß und rupfte Unmengen Gras. Er strich sich übers Kinn wie ein Alter über seinen Bart. Dann erzählte er mir eine Geschichte, die ich bis heute nicht vergessen habe. Sie spielte in seinem Dorf. Er erzählte sie wie über einen anderen Jungen. Aber er hat sich selbst gemeint. Das begriff ich an dem Tag, als er so allein im Klassenzimmer stand und uns böse ansah. Der Junge in seiner Geschichte hielt sich Tauben. Brieftauben. Wenn irgendjemand aus dem Dorf verreiste, gab er ihm eine Taube im Käfig mit. Am Reiseziel sollten die Leute der Taube eine Nachricht übergeben und sie freilassen. Sieben seiner besten Tauben gab der Junge den Leuten mit. Keine kehrte in den Schlag zurück. Keine Nachricht von draußen erreichte ihn. Da hat der Junge den Schlag über Nacht offen gelassen, obwohl er wusste, dass der Marder nur darauf wartete. Noch vorm nächsten Morgen ist er zum Schlag raufgestiegen und hat die zerrissenen Tiere gesehen.

    Werner Branstner rührte sich nicht. Frau Paulsen fing an zu tänzeln, wie die Pompadour im Zirkus, bevor sie bissig wurde und auszuschlagen begann.

    Irgendwie machte es mich fix und fertig, den Jungen so dastehen zu sehen. Dachte, ich muss verbrennen oder zerspringen. Seine Geschichte fiel mir ein. Mir wurde noch heißer.

    Werner Branstner rannte aus dem Klassenzimmer. Die Tür stand offen. Die Schritte verhallten auf dem Gang. In die Stille hinein sagte die Paulsen, ich solle die Tür schließen, damit wir endlich ungestört weiterarbeiten könnten. In mir war eine furchtbare Angst, etwas zu verlieren. Etwas, für das man keinen Namen findet, das man vergessen hat, aber das noch immer da ist. Etwas, das man auf gar keinen Fall verlieren darf. Und zugleich spürte ich große Freude. Hoffnung auf Unbekanntes. Ich hatte Sehnsucht nach einem Etwas, was ich unbedingt gewinnen musste. Ich sagte ja schon, es war nur ein Gefühl. Aber damals wie heute verwirrt's mich total. Ich bin hoch und aus der Schule raus, so schnell ich konnte. Auf der Hauptstraße, mitten im Menschentrubel, habe ich Werner Branstner eingeholt. Er stand vorm Schaufenster einer Drogerie, die Stirn an die Scheibe gedrückt. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen.

    Ich wollte ihm etwas sagen, zu seiner Geschichte, über sein Dorf, von mir, von unserer Stadt.

    Heulst du?, fragte ich. Das war nun wirklich das Dümmste, was ich sagen konnte.

    Und weil's so dumm war, was ich gesagt hatte, fragte ich gleich noch mal: Heulst du?

    Das geht dich einen Dreck an.

    Werner Branstner nahm nicht die Stirn vom Schaufenster. Ich fragte mich, ob er all das Zeug dahinter sah. War voller Angst, dass er mir davonrannte,

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