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Wiener Fenstersturz: oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft
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Wiener Fenstersturz: oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft
eBook368 Seiten4 Stunden

Wiener Fenstersturz: oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft

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Über dieses E-Book

In einer Sekunde laufen drei Zeitebenen, drei Zeitreisen und drei Geschichten zusammen. Oder sind es doch sechzig Jahre? Hundertvierzig Jahre?Der Schriftsteller Egon Friedell, der sein Leben lang immer wieder als Goethe auf den Bühnen stand, sprang 1938 auf der Flucht vor der SA aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod. In den Sekunden dieses Sprungs und seines Sterbens zieht nicht nur sein Leben an ihm vorbei, er trifft auch auf den Schriftsteller H.G. Wells und dessen "Time Machine". Die beiden versuchen, das Geheimnis von Friedells nunmehr endlosem Fenstersturz zu ergründen. Was folgt, ist eine Odyssee durch die Zeiten, durch das Wien der Kaffeehauskultur ebenso wie durch die Gegenwart. Und immer wieder taucht Goethe auf – der möglicherweise mehr mit Friedell zu tun hat, als dieser selbst ahnt …Egyd Gstättner setzt einem Großen der europäischen Kultur – und dem Leben selbst – ein Denkmal.
SpracheDeutsch
HerausgeberPicus Verlag
Erscheinungsdatum11. Sept. 2017
ISBN9783711753557
Wiener Fenstersturz: oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft

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    Buchvorschau

    Wiener Fenstersturz - Egyd Gstättner

    ERSTES BUCH

    1

    In einer Sekunde werde ich tot sein. Die Hölle, aus der ich flüchte, ist gestern endgültig und unwiderruflich losgebrochen. Aber dass diese Hölle auch Wien zerfressen würde, das war seit Tagen, seit Wochen, seit Langem schreckliche Gewissheit und seit Jahren absehbar. Ausweg gab es jetzt keinen mehr. Gestern ist das Land untergegangen. Gestern ist sein Kanzler der Gewalt gewichen und hat sich im Radio von seinem Volk verabschiedet. Aber eigentlich ist gestern mit dem Land auch die Welt untergegangen.

    Mein ganzes erwachsenes Leben, vom allerersten Jahr des Jahrhunderts weg, lebte ich fast vierzig Jahre lang in dieser Wohnung und war hier so zu Hause, wie man nur zu Hause sein kann: meine Höhle im dritten Stock. Diese Wohnung war die Kommentierzentrale der Welt, der Anfang und das Ende jeden Tages. Die Möbel hatte ich von meinen Eltern übernommen; das heißt: von meinem Vater. Das war mein Reich, und in diesem kleinen Reich war Platz für alle Reiche aller Zeiten dieser Welt gewesen. Ich hatte es in diesen vierzig Jahren vielleicht manchmal dumpf gefühlt, aber doch nie wirklich daran gedacht, dass eine Wohnung im dritten Stock zu einer Falle werden kann, einer tödlichen Falle, aus der es im Fall des Falles kein Entkommen geben würde. Jetzt war die Falle ganz plötzlich zugeschnappt. Jetzt war mir der Fluchtweg abgeschnitten. Wohin hätte ich auch flüchten sollen? Flüchten wollen? Zürich, Paris, London, New York? Die Exzesse der amerikanischen Bürokratie, mit denen die Amerikaner die unglücklichen Opfer in ihrem Netz unerfüllbarer Bedingungen zu Tode zappeln lassen? Oder gar Richtung Osten? Schwermütig herumsitzen und auf den Tod warten wie Ovid am Schwarzen Meer? Hör mir auf! Alles nichts. Kufstein eine Zeit lang vielleicht. Aber Dauerlösung wäre Kufstein auch keine gewesen. Alles außerhalb dieser Wohnung war Blödsinn.

    Ich hörte Hermines Schrei. Ich schaute nach. Ich sah die beiden feisten Burschen in ihren SA-Uniformen nur einen Augenblick. Ich schloss ganz ruhig die Bibliothekstür hinter mir und verschwand ins angrenzende Schlafzimmer. Eine Frage von Sekunden jetzt. Seneca! Wenn ich wenigstens im Arbeitszimmer gewesen wäre, wo ich die Phiole liegen gelassen hatte. Als ich die vulgären Stimmen draußen im Stiegenhaus hörte, war mir schlagartig klar gewesen, was zu tun war. Mein Todesurteil! Sechzig Jahre, zwei Monate, fünfundzwanzig Tage, plötzliches Todesurteil, Vollstreckung: Sofort. Rettungsversuch, Unsinn. Ein letztes Mal würde ich meine Wohnung verlassen! Mein Reich! Meine Welt. Alles ging jetzt ganz schnell. Alles spielte sich in wenigen Augenblicken ab. Die Straßenschuhe hatte ich noch an. Ich band den Hausmantel zu, kippte den Slibowitz, den ich mir eben eingeschenkt hatte, in einem Zug hinunter, schritt zum Fenster, öffnete es, kletterte aufs Fensterbrett, stützte mich mit beiden Armen ab und schaute auf die nächtliche Semperstraße hinunter. Ich wollte nicht sterben. Ich war feig.

    Im fahlen Licht der Straßenlaternen sah ich einen Passanten tief unten an der Kreuzung stehen, ein kleiner Mann mit großem Hut. Der Hut ein schwarzer Zylinder, wie man ihn vor zwanzig, dreißig Jahren getragen hatte. Er sah zu mir in die Höhe. Der kleine Mann formte mit seinen Händen einen Trichter vor seinem Mund und rief etwas herauf, ich konnte ihn aber nicht verstehen. Die Krempe des Hutes löschte die Augen aus seinem Gesicht. Er hatte ein seltsames Ding bei sich. Wie hoch oben ich hier war! Wie tief unten er! Als ich vor ein paar Jahren einmal aufs Dach geklettert war, weil ich die Idee hatte, eine Dachterrasse anzulegen, war mir das Haus nicht so hoch vorgekommen. Eine Dachterrasse wäre die Vollendung meiner Gentzgassenwelt gewesen, und auch Hermine hätte sich gefreut. Aber leider war der Hausbesitzer dagegen gewesen. Mit meinem Gewicht hätte ich den Mann unten erschlagen können! »Vorsicht, bitte!«, rief ich in die Tiefe, »treten Sie zur Seite!« Aber der Mann gestikulierte weiter.

    In meinem Rücken wurde die Schlafzimmertür aufgerissen, Stimmen drangen herein.: … »Anzeige« … »Balkon« … »auf Hakenkreuzfahne geschossen« … »abholen« … Jetzt war die allerletzte Frist verstrichen. Es ist alles aus! Aus! Aus! Ich will nicht sterben. Aber zu fassen würde mich das Nazigesindel nicht kriegen. Diese Brut! Diese schwarzen Seelen! Jeder Mensch ist der Dichter seiner eigenen Biografie! Ich drückte mich weg und sprang. Kein Tod kommt überraschend, tragisch, zu früh. Jedes Leben enthält, ganz organisch, Todesart und Todesstunde. Mich würde keine Kreatur der Dunkelheit zwingen, am Ende meines Lebens das Trottoir der Gentzgasse mit der Zahnbürste zu putzen! Diese Demütigung nicht! Der Slibowitz sagte mir: Du stürzt nicht in die Hölle hinein, du stürzt aus der Hölle heraus! Der Slibowitz meinte es gut mit mir, aber aus der Hölle herauszustürzen ist schrecklich genug. Niemand springt mit, niemand sonst hat es notwendig, niemand sonst tut es hier und jetzt, nur ich. Ich bin allein. Schau, Slibowitz: Eine ganze Stadt, Millionen Häuser, Milliarden Fenster, aus keinem der Milliarden Fenster hier springt einer, nur ich. Jetzt! Ich bin der Einzige. Kein Weg zurück. Jetzt! Ein paar sind doch schon gesprungen! So ist es ja nicht! Die Leute schmeißen sich von den Dächern! Eines Tages werden alle springen, sagte der Slibowitz. Einen nach dem anderen werden sie vom Trottoir kratzen oder aus der Donau fischen. Ich will nicht sterben. Das will niemand, sagte der Slibowitz. Der Sturz dauerte viel länger, als ich es für möglich gehalten hatte. Die Dächer, die Häuserfronten, die Straße, alles begann sich in rasender Geschwindigkeit zu drehen wie ein Karussell im Prater, alles verschwamm und zerfloss in meinen Augen und flitzte weg. Die Stadtbahnstation gleich gegenüber flitzte weg, auch die Volksoper. Was spielten die heute? Den Fidelio vielleicht? Oder den Fliegenden Holländer? Die Vorstellung musste noch im Gange sein. Die letzten Minuten. Ich hatte natürlich keine Zeit. Ich häutete mich. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, Schicht um Schicht würde mir in Windeseile abgezogen: der Hausmantel, Anzug und Hemd, schließlich die Haut selbst. Eine unsichtbare Hand griff aus dem Wiener Nachthimmel und zog mir alles ab. Dass der Sturz aus dem Fenster im dritten Stock eines Hauses so unglaublich lange dauern kann! Eine Ewigkeit! Alles spielte sich in wenigen Augenblicken ab, aber die Augenblicke dauerten Jahre. Jahre falle ich! Jahrzehnte! Ich falle und falle und falle. Ich will es nicht erleben. Ich will nicht sterben. Aus. Stopp. Retour … Ich will nicht sterben. Jetzt ist der letzte Augenblick, bevor ich kopfüber auf dem Pflaster aufschlage und mein Körper zerplatzt. In der nächsten Sekunde werde ich tot sein.

    2

    HERMA KOTAB Wenn ich gewusst hätte, wer vor der Tür steht, hätte ich sie verriegelt. Doppelt verriegelt. Ich habe es nicht gewusst. Ich habe die Pforte zur Hölle geöffnet.

    All die letzten Nächte waren endlos und quälend gewesen. Wir waren selten vor dem Morgengrauen ins Bett gekommen, wir waren total erschöpft. Auch gestern. Meine Mutter war am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte sich zu Bett begeben und mich meinem Schicksal überlassen. So saß ich allein mit Onkel Friedell in seinem Studierzimmer und versuchte, ihn von seinen Selbstmordgedanken abzubringen. Seneca. Sokrates. Hegesias. Er redete seit Tagen von nichts anderem mehr. Er will nicht. Er kann nicht. Er kann nicht mehr. Er will nicht mehr. Der ganze Mann: eine Wunde. Eine einzige klaffende Wunde. Ich hatte, das sage ich offen, auch und vor allem Angst um meine Mutter. Ich war vor ein paar Tagen zufällig Zeugin geworden, wie Onkel Egon sie angefleht hatte, mit ihm gemeinsam in den Tod zu gehen. Meine Mutter! Nicht auszudenken! Ich war entsetzt.

    Meine Mutter war Onkel Egons eigentliche Frau, genau genommen. Sibirisch. Sie wäre eine gute Ehefrau gewesen, in zweiter Ehe, sozusagen. Fräulein Lina wäre ganz bestimmt keine gute Ehefrau gewesen, auch für die erste Ehe nicht. Sie hätte Onkel Egon mit ihren Launen und Eskapaden unglücklich gemacht, wie sie ihn tatsächlich zur Verzweiflung gebracht und verrückt und unglücklich gemacht hat, ein Leben lang, auch ohne mit ihm verheiratet gewesen zu sein. Fräulein Lina ist dieser neue Typus Frau, der nur an sich selbst denkt und die Männer wie Puppen tanzen lässt. Eine Unglücksmacherin. Selber unglücklich machen sie mit sicherer Hand alle rund um sich auch noch unglücklich. Solche Frauen nehmen kein gutes Ende. In der zweiten Ehe geht es nicht mehr um das Eine. Sondern um das andere. Bei einer derartigen Leibesfülle wäre das Eine auch kaum noch möglich; da wird schon das Binden der Schnürsenkel zu einem Leistungssport. Aber der Schoß einer Frau ist für vieles gut, zum Beispiel für Schutz und Geborgenheit. In meinem Schoß hatte der arme Onkel Egon gestern seine letzte Ruhestätte gefunden, gewissermaßen. Er hatte mich gebeten, ihm aus seinem Manuskript, der Kulturgeschichte des Altertums vorzulesen, und während ich das tat, ging er in seinem Studierzimmer auf und ab, schweigend, rauchend, trinkend. Auch als ich vorzulesen aufgehört hatte, ging unser lieber Herr Doktor weiter unruhig auf und ab, weiter schweigend, weiter rauchend, weiter trinkend, eine Ewigkeit. Plötzlich packte ihn wieder die nackte Angst und Verzweiflung, die seit Tagen und Wochen an ihm nagte. Herr Egon fiel vor mir auf die Knie, vergrub seinen Kopf in meinem Schoß, zitterte, weinte, schluchzte, alles sei aus, die Welt gehe unter, ich möge ihm um Gottes willen helfen! »Bitte, bitte, Herma!«, wimmerte er, »Bitte, bitte!« Dieser massige Mann war wie ein Kind. Was soll ein einzelnes Frauenzimmer gegen den Weltuntergang ausrichten? Ich streichelte über seinen Kopf, den er immer tiefer in meine Schenkel vergrub. Wie hätte ich ihm anders helfen können? Er hätte mein Vater sein können. Ich hätte seine Tochter sein können. Hinter seinem Rücken habe ich ihn Onkel genannt und in Tirol einmal Halbpapa. Wie es einen Halbbruder gibt, muss es auch einen Halbpapa geben, habe ich als Kind gedacht. Wer mein Papa ist, habe ich nie erfahren. Ich wollte so gern einen Papa haben.

    Schließlich löste er sich wieder, fasste sich, stand auf, steckte das Manuskript und noch ein zweites, dünneres, das er seiner Schreibtischschublade entnommen hatte, in ein Kuvert, klebte es zu, reichte es mir und gab mir den Auftrag, das Kuvert einem Herrn Erwin Goldarbeiter auszuhändigen, dessen Telefonnummer er mir gab. Er solle die beiden Manuskripte ins Ausland schaffen, in Sicherheit bringen und sich um die Publikation kümmern. Ich hatte ein mulmiges Gefühl.

    Besuche hatte der Onkel Friedell in der Gentzgasse gerade in den letzten Tagen viele bekommen: das Fräulein Zeemann, die Frau Hofrat Zuckerkandl, den Herrn Polgar, die Frau Doktor Pollak sowieso. Alle redeten ihm gut zu, alle redeten ihm ins Gewissen, alle vergeblich. Onkel Egon war nicht aus der Wohnung zu bringen. Diese Wohnung war seine Festung geworden. Auch heute hatte er die Wohnung den ganzen Tag lang nicht verlassen. Er aß nicht mehr. Er trank nur noch. Gerade ein paar Löffel Suppe zu Mittag, die meine Mutter ihm gekocht hatte. Frittatensuppe. Rindsuppenparadies Österreich!, hatte Onkel Egon bitter angemerkt, als er den Löffel zum Mund führte, was für eine gute Frittatennazisuppe! Nazisuppenparadies Donaugau Ostmark! Abends kamen Herr Csokor und seine Frau, Walther Schneider und auch noch einmal Fräulein Zeemann zu Besuch. Alle rieten Friedell dringend zur Emigration. Walther meinte, er habe Freunde in München, da sei Egon sicher. München, stöhnte mein Onkel, das sei ja überhaupt das Allerletzte! München! Nie im Leben! Wie soll der Wiener Goethe nach München gehen, wo selbst der Münchner Goethe aus München geflohen ist? Hitler ist von Wien nach München gegangen. Dieser Weg ist vermint. Das ist kein Weg mehr. Oder in den Osten, meinte Csokor, Polen, und über den Osten nach Amerika. Die Welt sei groß, und Hoffnung lauere überall. Friedell flüsterte: Ausausaus. Fräulein Zeemann meinte, andere emigrierten ja auch: Man müsse jetzt zusammenhalten, solidarisch, ein Vorbild sein. Friedell schüttelte den Kopf und rauchte und trank. Er begleitete die Freunde zur Tür und umarmte sie. Er versprach ihnen, schlafen zu gehen. Dann zog er sich den Hausmantel an, legte sich auf den Diwan, goss sich den nächsten Slibowitz ein, zündete sich die nächste Zigarette an. Für seine lange Studentenpfeife hatte er längst keine Muße mehr.

    Als es gegen zehn Uhr an der Tür klingelte, öffnete ich in der Vermutung, es müsse einer der besorgten Freunde sein, der noch einmal zurückgekommen war, um einen allerletzten neuen Versuch zu unternehmen, Onkel Egon umzustimmen, zu überreden, zu überzeugen, an seine Vernunft zu appellieren. Die Schweiz! Oder Frankreich! Oder England! Vorübergehend. Nur vorübergehend. Einstweilen, bis sich die Lage einigermaßen entspannt habe. Man müsse die Dinge jetzt realistisch sehen, aber man dürfe umgekehrt die Hoffnung auch nicht aufgeben. Es sei nicht aller Tage Abend. Es waren aber zwei junge Burschen von der SA in ihren Stiefeln, Breecheshosen, braunen Hemden mit der Hakenkreuzbinde und der Schaftmütze. Ich erschrak bei ihrem Anblick. »Heil Hitler! SA-Oberfeldwebel Fleischhacker! SA-Unterfeldwebel Holzhauser!«, brüllten die beiden Burschen. »Wohnt hier der Jud Friedell?« Ich schluckte. Was sollte ich machen? Was sagen? Leugnen wäre zwecklos gewesen. Ob man den Onkel Egon überhaupt als Juden bezeichnen konnte? Ich weiß nicht. Er war ja schon als junger Mensch zum Protestantismus konvertiert. Als Neunzehnjähriger! Er hat mir erzählt, er habe seine Verwandtschaft damals an den Rand der Verzweiflung gebracht, indem er beschloss, aus dem lebensverneinenden mosaischen Glauben auszutreten und zum protestantischen Augsburger Bekenntnis überzuwechseln.

    Aber mein Onkel war viel zu belesen, viel zu gebildet, viel zu gescheit, um irgendeiner Religionsgemeinschaft wirklich anzugehören. Wie er über allem stand, stand er auch über den Religionen. An allem zweifeln, war seine Maxime, aber zweifeln mit Genuss. Glauben muss man immer, sagte Onkel Egon mir, aber zuallererst an sich selbst. Sogar das eigene Leben wird unwirklich, wenn man nicht daran glaubt. »Wenn Sie den Herrn Doktor Friedell meinen«, sagte ich schließlich mit einem fast trotzigen Unterton, »der wohnt hier.« Kaum hatte ich das gesagt, kam meine Mutter, offenbar vom Lärm geweckt, im Nachthemd aus ihrem Zimmer, erblickte die beiden Männer in der SA-Uniform und schrie auf.

    Durch diesen spitzen Schrei alarmiert stand in der Bibliothekstür im nächsten Moment er selbst – groß und mächtig und schicksalsgebietend, hätte ich beinahe gesagt, denn so war es mir vorgekommen; aber er stand da groß und machtlos: Doktor Egon Friedell, Onkel Egon. Mein Halbpapa. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass …« – aber noch bevor SA-Oberfeldwebel Fleischhacker fertigbrüllen konnte, was ihm zu Ohren gekommen war, kam, um die Szene komplett zu machen, aus der entgegengesetzten Richtung der Ferry das Treppenhaus heraufgehetzt, zu dem sich nun unwillkürlich alle umdrehten, die SA-Männer, meine Mutter und ich. Der Ferry war im Kino gewesen …

    3

    FRANZ KOTAB, GENANNT FERRY … Ja, das stimmt. Im Kino. Zur Feier des Tages, sozusagen. Und zwar mit dem Obersturmbannführer Ettmayr und den Hilfsuntersturmbannführern Kopetzky, Nidetzky und Maronsky. Ja, der Maronsky aus der Neubaugasse. Der junge Maronsky natürlich, nicht der alte. Ursprünglich wollten wir uns entweder Chez Jenny im Burgkino oder Die fremde Frau im Rotenturmkino ansehen. Wir entschieden uns dann aber für Zwischen den Eltern mit Willy Fritsch und Gusti Huber im Maria-Theresien-Kino, denn da spielte im Beiprogramm Tag der Freiheit – Reichsparteitag 1935. Der Ettmayr hatte diesen Film favorisiert, und man liegt nie ganz falsch, wenn man das tut, was Ettmayr will. Ich sage es, wie es ist. Der Beifilm war überzeugend, der Hauptfilm: so lala. Der Ettmayr, der am meisten von uns allen weiß und die besten Kontakte hat, hat uns nach der Vorstellung gesagt, das Kinowesen werden wir in den nächsten Wochen auch noch übernehmen, und mit wir meinte er die deutsche Reichsfilmkammer und das Reichspropagandaministerium. Zur Stunde gebe es in Wien noch sage und schreibe fünfundsechzig jüdische und neunzehn unter jüdischem Einfluss stehende Kinos, erklärte uns Ettmayr, die sich nicht genierten, feindliche Filme des fremdsprachigen Auslands zu zeigen – aber das würde jetzt alles arisiert! Radikal arisiert! Da johlte Kopetzky, da johlte Nidetzky, da johlte Maronsky. Heil Hitler! Überhaupt, meinte der Ettmayr, klinge der Begriff Kino für das deutsche Ohr zu fremdländisch. Man werde diesen Begriff in den kommenden Monaten gegen die Begriffe Lichtspiele oder Filmtheater austauschen. Jetzt breche nämlich eine neue Zeit an! Und der Ettmayr schlug außerdem vor, das Maria-Theresien-Kino gleich in Ostmark umzubenennen …

    … plötzlich war Friedell weg. Wie vom Erdboden verschluckt zwischen Reichsfilmkammer und Reichspropagandaministerium. Wir hörten ein dumpfes Geräusch, eine Art Plopp! – und sahen einander fragend und betreten an. Meine Schwiegermutter stürzte in die Bibliothek, gefolgt von den beiden SA-Männern, meiner Frau und mir. Aber da war Friedell nicht. Hermine eilte aus der Bibliothek ins Schlafzimmer, trat ans geöffnete Fenster und sah auf die Straße hinunter. Wir hinter ihr. Etwas großes Dickes lag da unten in der Tiefe, nicht eindeutig zu erkennen im fahlen Schein der Straßenlaterne, eine voluminöse Masse …

    4

    HERMA Wir stürzten die Treppe hinunter – ein unpassendes Wort in dem Fall natürlich. Wir rannten blindlings auf die Straße, und das große Dicke war Onkel Egon. Frau Zeller, die drüben in der Gentzgasse 2 wohnt, stand da, hielt die Hände an den Kopf, schluchzte, gackerte wie ein Huhn, sie habe alles mitangesehen, sie habe den Herrn Doktor springen gesehen, wenige Meter von ihr entfernt sei er kopfüber aufs Pflaster geknallt. Mein erster Gedanke war: Jetzt ist es passiert! Jetzt ist es also passiert. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Es hat so kommen müssen. Nur nicht unbedingt auf diese schreckliche Weise. Jetzt ist genau das passiert, wovor ich mich am meisten im Leben gefürchtet habe. Jetzt hat die Geschichte ihre schlimmstmögliche Wendung genommen. Jetzt ist es vorbei. Onkel Egon rührte sich nicht. Es war offensichtlich, dass er tot war. Trotzdem rief Ferry den Notarzt an …

    FERRY … einer musste schließlich kühlen Kopf bewahren, und das war eben ich. Ich glaubte ja nicht, dass der Notarzt würde helfen können. Aber ich dachte mir, es würde auch nicht schaden. Irgendetwas an der Leiche Friedells schien mir seltsam. Ich kann nicht sagen was, aber irgendetwas war seltsam. Einen Augenblick lang schien mir da auch ein Mann mit einem Zylinderhut zu sein, der sich zum Leichnam hinunterbeugte, und im nächsten Moment war er weg. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Es war ja recht dunkel, und dann die ganze Aufregung! Lichter gingen in den Nachbarhäusern an, Fenster gingen auf, im Nu war die Kreuzung bevölkert, so etwas geht schnell …

    HERMA Meine Mutter warf sich auf Onkel Egon und wimmerte: »Nein! Nein!« und dann: »Der Pollak soll kommen! Schnell! Der Herr Doktor Rudolf!« Meine Mutter schluchzte, brüllte, brüllte, schluchzte, hielt mit beiden Händen Egons Kopf, küsste seine Augen, seine Stirn, seine Wangen, schluchzte, brüllte, schluchzte. Da lag ihr Mann. Wer denn sonst? Vierunddreißig Jahre lang hatten die beiden zusammengelebt: vierunddreißig volle Jahre lang bis vor ein paar Sekunden! Diesen Mann hatte meine Mutter zum Mann genommen, nachdem er sie zur Frau genommen hatte. Diesen Mann hatte sie von dessen Mutter übernommen, die er Tante nannte, oder Fräulein, Fräulein Marie, die aber seine eigentliche Mutter war, weil seine Mutter keine Mutter gewesen war. Wie seine eigentliche Mutter, die Tante, das war, was eine Mutter für ihr Kind sein muss, das Kindermädchen nämlich, war meine Mutter das, was die Frau für den Mann ist, das Erwachsenenmädchen. Eine sibirische Verheiratung, eine sibirische Ehe. Das hat sogar Frau Lina bestätigt, öffentlich, immerhin. Wenn er in der Früh aufstand, nahm meine Mutter die Perolinspritze zur Hand und versprühte Fichtennadelduft in seinem Studierzimmer, um den Tabakgeruch vom Vortag zu vertreiben, Tag für Tag. Sie goss die beiden Pelargonienstöcke auf seinem Balkon, zwischen denen sein gewaltiges Werk entstand, solang dieses »Balkonien« seine Sommerresidenz war, seine Zinshausriviera im achtzehnten Bezirk. Sie schlug die schwere Plüschdecke am Frühstückstisch zurück, deckte den Essplatz weiß, servierte Herrn Egons Frühstück und stellte die silberne Tischglocke und das halbe Glas Bitterwasser dazu, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Nachdem Egon von der Morgenmahlzeit aufgestanden war, um im Studierzimmer mit der Morgenpfeife den Fichtennadelduft zu vertreiben, putzte sie seinen Inhalationsapparat in der Anrichte im Speisezimmer und staubte den Glasbehälter daneben ab, in dem er seinen in Spiritus eingelegten Blinddarm aufbewahrte. Meine Mutter hat penibel darauf geachtet, dass der Pharaonenkopf links hinter dem Schreibtisch seines Studierzimmers immer im Winkel von fünfundvierzig Grad zur Tischkante stand und das Federmesser, das kleine Tablett mit den nummerierten Bleistiften, das Kristallfläschchen mit dem Riechsalz, der Ständer mit der kanadischen Füllfeder, die Lupe immer in der Mitte hinten griffbereit waren. Anders hätte er unmöglich arbeiten können. Nicht ein Wort hätte er ohne die kanadische Füllfeder schreiben können!

    Diesem Mann hatte meine Mutter vierunddreißig Jahre lang die Wäsche gewaschen und die Hemden gebügelt. Sie hängte ihm den passenden Hausmantel und den richtigen Anzug auf den Kleiderständer und legte ihm genügend Straßenbahnfahrscheine auf die Schlafzimmerkommode. Mit diesem Mann hatte sie tagtäglich den Speisezettel besprochen: Für diesen Mann hatte sie eingekauft und Schinkenfleckerln und Eiernockerln und Reisauflauf und Zwetschkenknödel gekocht. Er hat ihr gern beim Kochen zugesehen und sie nervös gemacht, indem er andauernd die Deckel von den Töpfen nahm und hineinguckte, sodass sie ihn manchmal auch aus ihrer Küche hinauskomplimentiert hat, und es war völlig undenkbar, dass das eines Tages nicht mehr so sein könnte. Meine Mutter war stets die Erste gewesen, der er probehalber ein eben fertig gestelltes Kapitel vorgelesen hatte, während sie ein Beuschel oder ein Gulasch oder Powidltascherln zubereitete. An seinem Bett hatte sie Nachtwache gehalten, wenn er fieberte, seine schweißnasse Stirn mit kühlen Tüchern abgewischt und ihm essiggetränkte Socken angezogen. Diesen Mann hatte sie gesund gepflegt, wenn er eine Kehlkopfentzündung hatte – und er hatte in diesen vierzig Jahren oft Kehlkopfentzündungen und Rachenkatarrh und Halsschmerzen und einmal auch eine schlimme Zungengrundangina. Das Wort Zungengrundangina hatte der Doktor Egon dem Doktor Rudolf zu verdanken, ihre Heilung, seine Genesung aber meiner Mutter. Dieser Mann hat aber umgekehrt auch für meine Mutter gesorgt, wenn es ihr nicht gut ging. Sie waren, wie es Wassermann in seinem Roman eben beschreibt, sibirisch verheiratet, das heißt, nicht nach irgendeinem bieg- und beugbaren Menschengesetz, sondern wie nach einem Naturgesetz. Sie war nicht in ihn verliebt und sie begehrte ihn nicht: Dafür wird meine Mutter wohl meinen Vater gehabt haben, nehme ich an. So wie ich den Ferry: Aber das sind vorübergehende Gefühle. Sie begehrte Onkel Egon nicht, aber sie liebte ihn. Für diesen Mann hat meine Mutter im Mai stets die Koffer gepackt – ganz genau nach seinen Anweisungen und gemäß der Liste, die er ihr gab. Mit den schweren Koffern dieses Mannes ist sie mit dem Zug nach Kufstein und im Oktober von Kufstein wieder zurück nach Wien gefahren, während er hoch über ihr mit dem Flugzeug nach Salzburg oder München oder Innsbruck reiste und erst dort die Eisenbahn nach Kufstein bestieg, weil das lange Sitzen seinen Beinen schadete. Aber auch in Kufstein war das Haus ihr Reich. Der Onkel Egon hätte auch in Tirol nicht den Landedelmann geben können, wenn meine Mutter nicht alles für ihn arrangiert hätte.

    Für diesen Mann kaufte meine Mutter im Zuckerlgeschäft in der Lustkandlgasse hinter der Hochbahn seine Lakritzbonbons und Zitronenpastillen und Schokolademaroni und schickte sie ihm nach Berlin, wenn er sie von einer seiner Gastspieltourneen angerufen und darum gebeten hatte. Das allernotwendigste Zubehör seiner Existenz, seufzte Onkel Egon immer wieder mit einem Anflug von Schmunzeln, bekomme man eben leider nur in Wien, sonst nirgendwo auf der Welt. Einmal hatte Egon Friedell meine Mutter auch nach Berlin mitgenommen und ihr dort einen Pelzmantel gekauft, wie ein richtiger Mann seiner richtigen Frau einmal in seinem Leben einen Pelzmantel kauft. Auf diesen Berliner Pelzmantel waren beide sehr stolz.

    Für diesen Mann kaufte meine Mutter den Powidl und versteckte ihn, damit er nicht gar zu viel davon aß. Denn seine Leibesfülle wurde mit den Jahren immer gewaltiger, da halfen alle Diäten und Kuren in Sanatorien nichts. Fräulein Dorothea nannte ihn einmal Nilpferd. Meine Mutter versteckte den Powidl aber auch wieder nicht so gut, dass Onkel Friedell ihn nicht hätte finden können, wenn ihn mitten in der Nacht der Naschzwang überkam und er verzweifelt danach suchte. Meine Mutter wusste natürlich, dass Egon selbst geheime Depots in der Wohnung anlegte, wo er Lakritzbonbons und Schokolademaroni und Powidl und übrigens auch Slibowitz vor ihr versteckte, damit sie ihn nicht vor ihm verstecken konnte. So sind Mann und Frau, Sibirier und Sibirierin. Dieser Mann lag nun reglos auf der nächtlichen Semperstraße. Diese Frau kniete nun neben diesem Mann, hielt ihn, drückte ihn, liebkoste ihn, weinte, schluchzte, brüllte. Sie rief ihn bei seinem Namen, und er antwortete nicht. Sie schüttelte ihn, und es schüttelte sie.

    Der Notarzt veranlasste, dass der Oberfeldwebel Fleischhacker und der Unterfeldwebel Holzhauser, die peinlich berührt danebenstanden und den Todessturz nicht so recht mit ihrem Erscheinen in Zusammenhang bringen konnten oder wollten, Herrn Egon in den Hausflur trugen und auf eine Decke betteten, wo er zumindest vor den Blicken neugieriger Passanten geschützt war.

    5

    HOLZHAUSER Eines kann man zweifelsohne sagen: Der Mann war unglaublich fett und unfassbar schwer! Ein Mordsgewicht, sozusagen. Den auch nur auf die Decke zu hieven raubte mir die letzten Kräfte, dabei bin ich wirklich ertüchtigt, Heilhitlernocheinmal. Und der Fleischhacker hat ja noch mehr gekeucht als ich! Der hat überhaupt keine Luft mehr bekommen! Sagenhaft! Dabei war der früher einmal bei den Gewichthebern. Dass ein einzelner Mann so viel wiegen kann! Ich habe mir diese Intellektuellen immer hendlbrüstig und schmächtig und ausgemergelt vorgestellt … nun ja, sei es wie es sei. Wir waren gekommen, um diesen Juden Friedell abzuholen, das stimmt. Er stand auf der Liste. Wir hätten ihn mitgenommen, wir hätten ihn einvernommen, wir hätten ihm seine Lage als reichsfeindliches Element klargemacht, und dann hätten wir ihn wieder laufen lassen. Vorerst natürlich, vorerst. Es ist immer die Frage, ob einer eine Warnung begreift. Wir wollten ihm nichts

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