Der große Gogo
Von Egyd Gstättner
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Buchvorschau
Der große Gogo - Egyd Gstättner
Kapitel 1
(17. November 1982)
Überglücklich
Jetzt geht’s los! Das Spiel meines Lebens! Es ist ein Wunder, und die Knie sind weich. Dieser Tag wird mein Leben in zwei Hälften teilen: in die vor und die nach dem Spiel. Wenn man neunundzwanzig Jahre alt und einen Meter und achtundsechzig groß ist und einberufen wird, trotzdem einberufen wird, für sein Land zu spielen, für sein Land zu kämpfen, sein Land zu repräsentieren, vor den Augen aller, mit dem Bundesadler auf der Brust, obwohl man nicht bei einem der Hauptstadtclubs spielt, bei Rapid, dem regierenden Meister, oder bei der Austria, die im Europacupfinale in Paris gewesen ist, sondern bei einem Club aus der Provinz, mit dem man eben erst aus der Zweiten Liga aufgestiegen ist, dann kommt das einem Wunder gleich. Der Kurt Tschabuschnig hat mir am Telefon erzählt, es hätten viele Leute in der Redaktion angerufen, um zu erfahren, ob ich aufgestellt worden sei. Immerhin war ich erst der dritte Kärntner seit dem Krieg, der von einem Kärntner Verein aus ins Nationalteam einberufen worden ist. Nicht als Legionär, sondern als Kärntner Kärntner! Tschabuschnig verwendete das Wort historisch. Der Krieg war vor meiner Zeit gewesen, ich müsste nachrechnen: Siebenunddreißig Jahre ist der her. Wenn man schließlich nicht nur einberufen, sondern tatsächlich auch aufgestellt worden ist, dann ist das ein Wunder, und es ist vielleicht kein Wunder, dass die Knie trotz der neunundzwanzig Jahre schlottern.
Heute ist der größte Tag meines Lebens: so viel steht fest. Die Schuhe ordentlich geschnürt, abgeklatscht, bei der Kabinentür hinaus gleich noch einmal auf die Toilette, der Polster am Pissoir neben mir, auch kein Wunder, ein paar Augenblicke noch, dann geht es los, ein paar Schritte den Gang ins Freie hinaus, das Klacken der Stollen, ein kühler Abend, November eben, aber das Stadion ist voll und hell erleuchtet, irgendwo auf der Haupttribüne in meinem Rücken Gudrun, wie gut, dass sie da ist, das hilft mir sehr, das gibt mir Sicherheit. Gut, dass ihre Direktorin ein Einsehen hatte und ihr für morgen freigegeben hat. Gudruns Schüler sitzen jetzt auch alle vor dem Fernseher, genauso wie die Männer aus der Firma, jedenfalls alle, die das zweite Programm empfangen können: das erste Spiel meiner Karriere, das zur Gänze im Fernsehen übertragen wird, live! FS2. FS1 zeigt Das Urteil, einen Film mit Sophia Loren und Jean Gabin. Aber die sind keine Konkurrenz.
Der verschobene Weltraumspaziergang der beiden Columbia-Astronauten Joseph Allen und William Lenoir war wegen einer Panne im Raumanzug Allens endgültig abgesagt worden. Der Ausstieg ins All hatte abgesetzt werden müssen, weil Lenoir unter Übelkeit litt. Bundeskanzler Kreisky sah keinen Anlass, die Nationalratswahlen im kommenden Jahr vom 24. April auf den 6. März vorzuverlegen, an dem die Deutschen wählen würden. Die Österreicher hätten politische Entscheidungen immer unabhängig von Deutschland getroffen, sagte Kreisky und ergänzte, diese Art von Anschluss lehne er ab. Der tschechoslowakische Staats- und Parteichef Gustáv Husák kam zu Gesprächen nach Wien. Der freiheitliche Abgeordnete Haider hatte gemeinsam mit Wirtschaftsfachleuten ein Paket zu Privilegienabbau bei Politikern erstellt und drohte mit einem Volksbegehren. Der gefährlichste Terrorist der BRD, Christian Klar, Chef der Roten Armee Fraktion, war in Hamburg verhaftet worden. Otto von Habsburg feierte seinen Siebziger. Udo Jürgens war im Rechtsstreit wegen einer von ihm ausgesprochenen fristlosen Vertragskündigung gegenüber seinem früheren Musikverlag nun auch in letzter Instanz vor dem deutschen Bundesgerichtshof in Karlsruhe unterlegen. Der KAC hatte in der mit siebentausendvierhundert Zuschauern restlos ausverkauften Innsbrucker Olympiahalle ein 8 : 8 gegen den IEV erreicht. Über fünf Millionen Zuschauer hatten die erste Folge der Wiederholung des Fernsehfilms Holocaust gesehen. Die Reaktionen auf diesen Film, der das Schicksal einer jüdischen Familie im nationalsozialistischen Deutschland schildert, reichten von Zustimmung bis Ablehnung und von Betroffenheit bis Skepsis, teilte der Westdeutsche Rundfunk mit. Antisemitische Äußerungen seien hinter der persönlichen Beschäftigung mit dem Thema zurückgeblieben. Es war viel los an diesem 17. November. Die Zeitung werde ich aufheben für meine Enkel.
Außerdem würde der Chefredakteur Doktor Thomas Chorherr auf Einladung der Kärntner Wirtschaftlichen Gesellschaft heute Abend im WIFI mit Beginn achtzehn Uhr einen Vortrag Wirtschaft und Medien halten. Das Stadttheater mit Beginn um neunzehn Uhr dreißig Der Bauer als Millionär geben. In der Buchhandlung Heyn mit Beginn um zwanzig Uhr eine Lesung mit Rudolf Czernin Der Weg zum Nichts. Analyse der Wertauflösung stattfinden. Eine andere Welt.
Der Geistesgegenwärtigkeit des Wirtes der Bahnhofsrestauration hatte der Landesrettungsleiter der österreichischen Wasserrettung vermutlich sein Leben zu verdanken. Er hatte sich am Dienstagabend an einem Happen Gulasch verschluckt. Als er bereits blau angelaufen war, sprang der Wirt zu ihm, klopfte ihm auf den Rücken und beförderte das Fleischstück mit einem gekonnten Griff wieder aus der Speiseröhre. Glück im Unglück! Aufgrund einer Behauptung in einem Parteiblatt, in die Aufführung der Villacher Studiobühne sei eine sogenannte Fäkalszene eingebaut, leitete die Gruppe »Sitte« Ermittlungen ein, allerdings konnte trotz Bemühens der Kripo kein Zeuge gefunden werden, der eine solche Fäkalszene bestätigte. Der Leiter der Studiobühne gab in einem Brief an den Landeshauptmann an, eine solche Szene sei nie vorgekommen, und bot dafür eine Videoaufzeichnung als Beweis an. Und auch das noch: Studenten des Slowenischen Gymnasiums hatten den Schalterraum des Klagenfurter Hauptbahnhofes besetzt, worauf vier Schüler der HTL Ferlach gegen zwei Uhr morgens mit rotem und schwarzem Lack die Mauern des Slowenischen Gymnasiums mit Parolen wie »Slowenen: Ruhe oder raus!« oder »Somit erklären wir den Slowenen den Krieg!« beschmierten. Nun wurden sie von einem Jugendschöffensenat wegen Sachbeschädigung und Verhetzung zu bedingten Freiheitsstrafen von einem beziehungsweise drei Monaten verurteilt. Ein zwanzigjähriger Präsenzdiener aus der Waisenhauskaserne, ein Landwirtssohn aus Unterrainz, Gemeinde St. Paul, war gestorben, nachdem er nach überstandener Grippe gesund aus der Heeressanitätsanstalt entlassen worden war. Das Militärkommando veranlasste daraufhin eine Obduktion, die ergab, dass der Bursche einem Herzversagen erlegen war.
Aber auf dem Titelblatt der heutigen Ausgabe bin: ich! Gleich neben dem amerikanischen Präsidenten Reagan und Bonns Kanzler Helmut Kohl bei dessen Besuch in Washington: ich. Und die Schlagzeile am größten Tag meines Lebens lautet: Fußball-Kärnten drückt für »Gogo« die Daumen! Der Tschabuschnig hat mich gestern Abend noch im Trainingslager in Lindabrunn angerufen, um ein Blitzinterview zu führen. Ob ich damit gerechnet habe, gleich von Beginn an eingesetzt zu werden? Wenn ich ehrlich bin: Ja, habe ich geantwortet. Aber ob das gestimmt hat? Ich weiß nicht. Beim Training hat mich der Teamchef Hof um etwa elf Uhr zur Seite geholt und gesagt: Du spielst morgen mittlere Sturmspitze! Ich hatte sofort ein Feuerwerk im Bauch. Seither die wackligen Knie. Es passiert alles wie im Rausch. Tschabuschnig hat mich gebeten, mein Gefühl zu beschreiben, und ich habe gesagt: Ich bin überglücklich.
Jetzt die paar Schritte aus dem Kabinengang, der Weg ins Freie, hinaus in den aufbrandenden Applaus, ins Flutlicht, in die hell erleuchtete Finsternis, in die Novemberkälte, in diese heiße Kälte, ein paar Schritte aufs Feld, Mannschaftsfoto, Aufstellung nehmen, die Hände hinter dem Rücken verschränken, Österreich: Koncilia. Krauss, Obermayer, Pezzey, Degeorgi. Prohaska, Weber, ich, Gasselich, Schachner und der zweite Debütant, groß gewachsen, Struwwelpeterfrisur, zehn Jahre jünger als ich, blutjung, gerade achtzehn: der Polster.
Mit den meisten Spielern war ich bis vor drei Tagen per Sie: Es waren Menschen von einem anderen Stern. Sechs Helden aus Argentinien waren noch in unserer Startaufstellung. Vier Jahre ist das jetzt her. Alle sechs waren noch vor wenigen Monaten bei der Weltmeisterschaft in Spanien gewesen, und auch da waren sie in die Zwischenrunde aufgestiegen und unter die besten acht der Welt gekommen … Ich habe sie daheim im Fernsehen bewundert, wie ich jetzt mit ihnen gemeinsam im Fernsehen zu sehen bin. Und am nächsten Tag bin ich wieder arbeiten gegangen. Mein Job im Expedit. So wie heute ist Österreich auch in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Argentinien auf die Türkei getroffen. In Wien im großen Praterstadion hat Schachner, der jetzt in einer Reihe mit mir steht, den Ball zum einzigen Tor in die kurze Ecke genudelt, in Izmir (ich war noch nie in Izmir!) Prohaska – drei Spieler weiter – mit dem legendären Spitz in falschen, türkischen Trikots, auf denen man bloß Halbmond und Sichel notdürftig überklebt hatte, zum alles entscheidenden 0 : 1 und zur Weltmeisterschaftsqualifikation eingenetzt. Das ganze Land war damals aus dem Häuschen. Prohaska mit dem rot-weiß-roten Zylinder auf dem Kopf auf den Schultern seiner Mitspieler: Das wurde ein Schnappschuss für die Ewigkeit. Mit dem Prohaska bin ich per Sie: Der spielt bei AS Roma: eine andere Welt. Eine ganz andere Welt. Roma habe ich immer geliebt wegen der edlen weinrot-goldenen Dressen und der nährenden Wölfin im Vereinsemblem. Mit dem Koncilia bin ich per Sie. Na, der ist ein eigener Fall, aber ein Landsmann. Und, zugegeben, der weltbeste Tormann überhaupt wahrscheinlich. Mit dem Schachner bin ich per Sie, Cesena, aber Italien bleibt Italien! Mit dem Pezzey per Sie, Eintracht Frankfurt, Deutschland, auch eine andere Welt. Auch mit dem Jurtin, Sturm Graz: per Sie. Ich habe mich letztlich doch darauf eingestellt, dass der Jurtin beginnen wird und ich vielleicht nach einer Stunde für ihn kommen würde.
Ein bisschen schade, dass wir nicht im Praterstadion spielen vor siebzigtausend. Das Weststadion ist ein bisschen weniger gigantisch, aber immer noch gigantisch. Wien: Das ist immer auswärts gewesen; jetzt ist es: daheim. Ich bin im Himmel! Im Fußballmärchenhimmel. Im Fußballmärchennovemberhimmel. Jetzt nur nicht denken! Auch die Knie dürfen nicht denken! Vor allem die Knie dürfen nicht denken! Die Knie denken ja sonst auch nicht. Im Himmel ist Kniedenken verboten!
Polster ist noch ein Halbwüchsiger, aber ich längst erwachsen. Ich hätte immer schon in dieser Mannschaft stehen können, theoretisch jedenfalls und was mein Alter betraf. Aber ich habe zu Hause im kleinen Kärnten nicht einmal zu träumen gewagt, mein Lebenstraum könnte jemals in Erfüllung gehen. Träume kann man auch gar nicht wagen. Träume kommen, oder sie kommen nicht. Man träumt den unmöglichen Traum. Für Österreich! Das ist das Größte!
Der Kameramann, der die Parade abnimmt, die Bundeshymne, das Land der Berge, in meinem Fall die Karawanken. Alle sagen, wenn man vor einem Länderspiel die Hymne hört, läuft einem der kalte Schauder über den Rücken. Entweder schaut man starr geradeaus oder zum Himmel hinauf, oder aber das Kinn zur Brust gezogen in sich selbst hinein. Ich werde geradeaus schauen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Ich habe mit Gudrun das Singen der Bundeshymne daheim im Badezimmer vor dem Spiegel geübt. Ich fand, ich sah ein bisschen lächerlich aus. Es war ein wenig wie Krawattenbinden. Menschen wie ich binden selten Krawatten und singen selten Bundeshymnen, nur alle heiligen Zeiten sozusagen. Obwohl das Kärntnerische die Vokale bis zum Gehtnichtmehr dehnt und mir das Laaand und die Beeerge und das vielgerüüühmte Öhöhösterreieieieich wohl gelingen würden, habe ich mich vor dem Spiegel schließlich entschieden, nicht mitzusingen und nur tonlos die Lippen zu bewegen, falls ich in die Situation kommen sollte. Ich habe keine Singstimme. Mein Instrument ist der Vollrist, meine Musik der Fallrückzieher. Ein singender Nationalstürmer ist so lächerlich wie ein Opernsänger, der im Strafraum herummurkst.
Die Trainingsjacken ausziehen, ein paar Luftsprünge zum Aufwärmen, der Münzwurf: Wäre schön, wenn wir den Ankick gewinnen, Herr Suchanek, der polnische Schiedsrichter, anpfeift und ich den Ball vom Mittelpunkt aus zu Polster neben mir rolle: Ich möchte das Spiel meines Lebens eröffnen! Ich möchte der Erste sein, der am wichtigsten Tag meines Lebens die Kugel berührt, und von dem Augenblick weg werde ich ein Internationaler sein, für den Rest meines Lebens, pathetisch formuliert. Diesen Augenblick wird mir niemand mehr nehmen können. Und von diesem Augenblick weg sollten auch die Knie zu schlottern aufhören.
***
Intermezzo 1
Der Wikipedia-Eintrag der zweisprachigen Marktgemeinde Eberndorf (Dobrla vas) im Kärntner Bezirk Völkermarkt gibt die