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Auf der Kippe: Die zwei Leben des Michael Tönnies
Auf der Kippe: Die zwei Leben des Michael Tönnies
Auf der Kippe: Die zwei Leben des Michael Tönnies
eBook294 Seiten3 Stunden

Auf der Kippe: Die zwei Leben des Michael Tönnies

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Über dieses E-Book

Der frühere Stürmer Michael Tönnies litt jahrelang an einer unheilbaren Lungenkrankheit. Erst der ausdauernde Einsatz zahlreicher MSV-Fans konnte ihn dazu ermutigen, sich einer überlebenswichtigen Lungentransplantation zu unterziehen. Der Journalist Jan Mohnhaupt hat nun in enger Zusammenarbeit mit Michael Tönnies dessen ungewöhnliche Lebensgeschichte aufgeschrieben. Michael Tönnies hat eine Profikarriere gelebt, wie es sie heute nicht mehr gibt. Samstags in der Bundesliga Fußball spielen, anschließend 'steil gehen': 'Ich bin in Kneipen groß geworden', sagt Tönnies. Von Ernährungsplänen hielt er nichts. In die Geschichte der Bundesliga ist er dennoch eingegangen, als er im August 1991 beim 6:2-Sieg des MSV Duisburg gegen den Karlsruher SC drei Tore in fünf Minuten schoss. Nach seiner Karriere ist Tönnies abgestürzt: Kneipe, Scheidung, 80 Zigaretten am Tag, Lungenemphysem. Heute ist er Stadionsprecher beim MSV und hat den Weg zurück ins Leben gefunden, auch dank der MSV-Fans.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Apr. 2015
ISBN9783730701898
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    Buchvorschau

    Auf der Kippe - Jan Mohnhaupt

    Vorlagengeber

    Vorwort

    Leben und Sterben in Duisburg

    Als Jan Mohnhaupt im Sommer 2013 vor dem Trainingszentrum des MSV Duisburg herumlungerte, saßen wir gerade zu dritt auf einem Balkon und versuchten für einen Dokumentarfilm ein Interview mit Werner Lotz zu führen. Werner Lotz war Teil der Duisburger Mannschaft, die in der ersten Bundesligasaison 1963/64 deutscher Vizemeister wurde. Es ist bis heute der größte Erfolg des MSV Duisburg und der Zeitpunkt unseres Interviews konnte daher auch kaum besser gewählt sein. Die Euphorie rund um den MSV hatte in den Wochen zuvor eine derartige Intensität erreicht, dass Außenstehende und Arbeitskollegen sich nur noch kopfschüttelnd wunderten, wenn man mal wieder im Trikot irgendwo auftauchte. Derart ekstatisch und über einen so langen Zeitraum war selbst im fußballverrückten Ruhrgebiet einem Verein nur selten gehuldigt worden. Und der Grund dafür kann nur für jene einleuchtend klingen, die in diesem Sommer mittendrin standen in einem Orkan, der diesen Verein beinahe von der Fußballlandkarte gefegt hätte.

    Kurz zusammengefasst und für Unwissende: Etwa vier Wochen vorher hatte der Geschäftsführer Roland Kentsch einen Papierstapel namens »Lizenzunterlagen« Richtung DFL versendet, der – glaubt man Augenzeugen – Form und Format eines Malblocks aufwies, den man einem hyperaktiven Kindergartenkind entrissen hatte, das gerade auf Ritalinentzug war und das die letzten fünf Minuten mit den Buntstiften vollkommen freidrehen durfte, so bunt und wirr schien alles, was dort notiert war. Als man bei der DFL nach Erhalt der Unterlagen einmal ordentlich gelacht hatte, schickte man als Antwort ein Glückwunschtelegramm nach Duisburg zurück und wünschte viel Erfolg für die kommende Saison, die man nun in Obhut des DFB verbringen sollte. Oder übersetzt: Der MSV verließ nach Jahrzehnten unfreiwillig die Bundesliga, Lizenzentzug hieß die Devise, und das mit vollem Kawumms. Der Verein war am Ende. Als wir mit Werner Lotz dort auf dem Balkon saßen, wusste niemand von uns, ob der Verein ein paar Wochen später überhaupt noch existieren würde, beste Voraussetzungen also für längerfristige Pläne. Das Interview führten wir trotzdem, und wenn es nur für die Geschichte sein sollte.

    Ungefähr einen Monat lang waren die Fans des MSV bis zu diesem Moment schon auf der Straße. Seit dem Lizenzentzug reihte sich Aktion an Aktion. Sie errichteten eine Mahnwache am Stadion, liefen mit 6.000 Fans vom Bahnhof zur Arena und gaben täglich ein Bekenntnis nach dem anderen zu ihrem Verein ab.

    Dass man sich in chaotischen Tagen wie diesen über gar nichts mehr wunderte, leuchtet vielleicht noch ein, aber als Jan Mohnhaupt mir – während wir gerade die Kameras im Auto verstauten – offenbarte, dass er für einen Artikel über den MSV extra aus Berlin angereist war, eigentlich und ursprünglich aus Bochum komme (wofür ich ihm fast schon Beileid bekunden wollte), aufgrund väterlicher Prägung aber MSV-Fan sei (wofür ich ihn wiederum mitfühlend in den Arm schließen wollte), sich dazu als freier Journalist im Mediendschungel der Hauptstadt durchschlage und ungefähr drei Stunden auf dem Trainingsgelände gewartet hätte, um mich um einen Gesprächstermin zu bitten, legte ich den Kopf ein wenig zur Seite und stellte mir die Frage, was der Fußball-Gott mit mir vorhatte.

    Aber das hier war anders, und Jan hatte anscheinend genauso dermaßen einen an der Waffel wie wir, sodass ich gar nicht anders konnte, als mich mit ihm auseinanderzusetzen. Was war in seinem Leben schiefgelaufen, dass er sich mit mir ausgerechnet über den MSV Duisburg unterhalten wollte? Ich sagte den anderen beiden Jungs, dass man mich heute nicht nach Hause fahren bräuchte, verabschiedete mich von Werner Lotz und spazierte mit Jan durch Meiderich.

    Wenn man mich heute fragt, ob ich es noch einmal tun würde: nein, nie wieder, für kein Geld der Welt! Der Typ ist verrückt, und ich hätte es spätestens einen Tag später merken müssen. Denn 24 Stunden nach unserem ersten Spaziergang trafen wir uns im Innenhafen, dort, wo Duisburg so tut, als hätte Düsseldorf die Stadt nur aus Versehen bei der Eingemeindung vergessen. Wo Ed-Hardy-T-Shirt-Fetischisten im »Bolero« abhängen und bis heute nicht gemerkt haben, dass der vermeintliche Kult um Glitzer und Sternchen nicht ohne Grund schon längst wieder vorbei ist.

    Dort nahm er mich zwei Stunden lang vollkommen auseinander, ging ins Detail, bohrte und hakte nach. Und er erzählte von sich, seinem Leben als MSV-Fan in der Ferne und seinem ersten MSV-Spiel, das er im Stadion erlebt hatte: das 6:2 gegen den Karlsruher SC, Saison 91/92, das Spiel, in dem Michael Tönnies Oliver Kahn die vielleicht größte Demütigung seiner damals noch jungen Karriere zufügte: drei Tore in fünf Minuten, der schnellste Hattrick der Bundesligageschichte – bis heute in Duisburg eine Legende.

    Dieses Spiel war der Höhepunkt in Tönnies’ unsteter Karriere, von dort ging es eigentlich nur noch bergab. Die Geschichte seines weiteren Lebenswegs passt zu diesem Verein und zu dieser Stadt, die in ihrer jüngsten Vergangenheit mit einem Nackenschlag nach dem anderen zurechtkommen musste. Während Rocker und Mafiosi sich in den letzten Jahren in Duisburgs Gassen regelmäßig über den Haufen schossen und die Loveparade hier derart dilettantisch organisiert wurde, dass 21 junge Menschen für ein bisschen Sektempfang der Stadtoberen ihr Leben lassen mussten, zog es den legendären Duisburger Stürmer nach seiner Karriere in die Kneipe, wo er erst die Finanzen, dann seine Ehe und zuletzt seine Gesundheit derart konsequent ruinierte, dass man ihm fast Absicht unterstellen musste, so akribisch ging er dabei zu Werke.

    »Was dann passierte und wie Tönnies den Weg zurück ins Leben fand, ist eigentlich eine Geschichte für ein Buch«, stellte Jan schon bei unserem ersten Gespräch fest, als wir den Niedergang des Michael Tönnies und seine Wiedergeburt rekapitulierten. Hätte ich in diesem Moment nur ein wenig auf das Blitzen in seinen Augen geachtet, hätte ich damals schon die Flucht ergreifen müssen, denn da hatte er das erste Mal Feuer gefangen. Und so etwas hinterlässt in den meisten Fällen deutliche Spuren.

    Die Wochen zogen ins Land und der MSV wurde mit einem brutalen Kraftakt gerettet, zumindest war er irgendwann so weit wieder am Leben, dass er in der dritten Liga den Neuanfang wagen konnte. Ganz Duisburg atmete auf, nur für Jan sollte es jetzt erst richtig losgehen. Als er mir einige Zeit später mitteilte, dass er sich entschieden hätte, ein Buch über Michael Tönnies und dessen Rettung zu schreiben, war ich so begeistert wie entsetzt.

    Ich hatte ihm im mir eigenen Größenwahn zuvor zugesichert, im Fall der Fälle durchgehend ansprechbar zu sein und ihm jederzeit beiseitezustehen, immer davon ausgehend, dass es sowieso niemals zustande käme. Aber verspekulieren ist in Duisburg Teil des Geschäfts, insofern war Michael Tönnies mir ein guter Lehrmeister gewesen. Was dann folgte, kann man locker im eigenen Lebenslauf unter therapeutischer Betreuung verbuchen, und wer jemals einem Autoren dabei zusehen durfte, wie dieser ein Buch schreibt und welchen Zweifeln er sich dabei aussetzen muss, der weiß, dass spätestens jetzt Schluss mit lustig war. Ständig klingelte das Telefon, am anderen Ende der Leitung eine wahlweise euphorische oder tief deprimierte Stimme, die einem entweder nachts um zwei die neuesten Rechercheergebnisse präsentierte (»Ich habe Oliver Kahn erreicht!«), dann wieder leise vor sich hin schluchzte und phasenweise der Paranoia verfiel (»Tönnies hat es nicht nur der Bild erzählt, sondern auch der NRZ und der Welt!«).

    Aber dennoch und nach anderthalb Jahren Arbeit: Er hat es durchgezogen. Und was am Ende dieser Odyssee und Tortur steht, ist ein Buch, das von den vergangenen Zeiten erzählt, als so mancher Fußballer noch in der Halbzeit zur Schachtel Kippen griff, und die Fans einem solchen Kerl schließlich das Leben retteten, auch wenn dieser längst nicht mehr vor den Ball trat. Dass dieses Fußballmärchen nun der Nachwelt erhalten bleibt, ist Jans großer Verdienst und dafür gebührt ihm Lob und Respekt. Das hast du gut gemacht, Junge!

    Und jetzt berichte uns von deiner Reise und erzähle uns die Geschichte des Michael Tönnies, aber tue mir einen Gefallen: Ruf hier nie wieder an! Ich kann das alles nicht mehr hören über Horst Hrubesch und die Mandeln, über Oliver Kahn und den Hattrick und vor allem über … Aber lesen Sie einfach selbst.

    Michael Wildberg, Duisburg, im März 2015

    Prolog

    Sein Spiel meines Lebens

    »Drei Tore innerhalb von fünf Minuten, ein lupenreiner Hattrick! Wann hat’s das zum letzten Mal gegeben? Wir haben nachgefragt beim Sportinformationsdienst – die suchen immer noch.«

    Ulli Potowski: Anpfiff – Die Fußballshow, 27. August 1991

    Wenn ich an Duisburg denke, denke ich an Michael Tönnies und Giraffen. Mit fünf sah ich sie zum ersten Mal im Duisburger Zoo. Ich hatte sie für riesig gehalten, doch dann staunte ich, wie groß sie wirklich waren. Mit sieben sah ich ihn zum ersten Mal im Duisburger Wedaustadion. Ich hatte ihn für den besten Stürmer gehalten, doch dann staunte ich, wie gut er wirklich war. In Duisburg habe ich das Staunen entdeckt.

    Als Michael Tönnies und ich uns zum ersten Mal gegenübersitzen, schaut er mich mit weit aufgerissenen Augen an – als sei er es, der nicht fassen kann, dass wir hier zusammensitzen. Er hat dieses kindliche Staunen in seinen Augen.

    »Noch Kaffee?«, fragt er. Seine Stimme klingt belegt und irgendwie blechern. Sein Arm zittert, als er die Kaffeekanne anhebt.

    An diesem Mittwochmittag im Sommer 2013 in Essen-Schonnebeck schließt sich also der Kreis. Hätte mir damals jemand vorausgesagt, dass ich mal mit dem Helden meiner Kindheit im Wohnzimmer seiner Eltern sitzen und Kaffee trinken würde, hätte ich mich wohl aufgeregt – wieso sollte ich jemals etwas anderes trinken als Fanta?!

    Es war ein Dienstagabend im Sommer 1991, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe: Mein Vater fährt mit mir im Zug nach Duisburg. Sonst besuchen wir hier immer nur Verwandte von ihm. Sie kommen fast nie zu uns, sie sind alle schon alt. Ich glaube, in Duisburg leben nur alte Menschen. Aber heute Abend besuchen wir sie nicht, heute geht mein Vater zum ersten Mal mit mir zum MSV. Er kommt aus Meiderich, genau wie der MSV. Der MSV ist sein Lieblingsverein. Und der beste Spieler vom MSV ist Michael Tönnies. Ich habe gehört, dass er am liebsten Pommes isst, genau wie ich. Er trägt einen Schnurrbart und hinten die Haare etwas länger, damit sieht er aus wie die Männer vom Campingplatz bei meinen Großeltern.

    Die Spieler vom MSV heißen »Zebras«, weil sie Trikots mit Streifen tragen. Das sind die schönsten Trikots der Bundesliga, sagt mein Vater. Auf die Trikots freue ich mich am meisten.

    Michael Tönnies ist unterwegs auf der Autobahn 59, zusammen mit seinen Mannschaftskollegen Dirk Bremser und Patrick Notthoff. Richtung Wedaustadion. Notthoff und Bremser sind beste Freunde. Zwei, die nichts auseinanderbringen kann. Sie unterhalten sich über die Noten im kicker, während Michael Tönnies am Steuer sitzt und schweigt. Belangloses Zeug, denkt er. Noten interessieren ihn nicht, Zeitung liest er nur noch selten, denn so kriegt er es auch nicht mit, wenn die Journalisten ihn mit einer Karre Sand vergleichen. Langsam müsste er mal wieder treffen, alle warten auf sein zweites Tor. In den vergangenen drei Spielen hat er keins mehr geschossen.

    Dirk Bremser wohnt in Bochum, Michael Tönnies in Essen. Anfangs haben sie sich in Gelsenkirchen-Heßler getroffen, und von da aus sind sie dann gemeinsam weiter nach Bottrop gefahren, um Patrick Notthoff abzuholen. Aber weil Michael Tönnies mit Bremser nicht so kann, treffen sie sich mittlerweile erst in Bottrop bei Notthoff. Von Bottrop nach Duisburg, da macht man eigentlich keine Fahrgemeinschaft, das sind nur drei Ausfahrten, zehn Minuten – eigentlich Blödsinn, hat sich Michael Tönnies am Anfang gedacht. Er wollte dazu aber nix sagen. Also beteiligt er sich weiterhin an der Fahrgemeinschaft und schweigt.

    Die Flutlichtmasten. Das muss es sein, das Wedaustadion. Mein Vater und ich gehen über einen Parkplatz und hören in der Ferne ein Rauschen. Durch ein Gittertor und dann eine Treppe hinauf geht es auf die Haupttribüne. Mit jeder Stufe wird das Rauschen lauter. Oben angelangt schlägt es mir um die Ohren. Es sind die Fans vom MSV. Sie singen, schreien, ich kann sie nicht verstehen – nur dieses wilde Rauschen. Auf dem Rasen schlagen die Spieler Flanken, rennen hin und her oder schießen aufs Tor. Ich bin traurig, weil sie doch keine gestreiften Trikots anhaben, nur weiße T-Shirts mit einem bunten Muster auf der Brust. Und wo ist eigentlich Michael Tönnies? Da! Er schießt – Tor!

    Rrrchd – Michael Tönnies liebt dieses Geräusch, wenn der Ball ins Tornetz prallt, er kennt es ganz genau, das gibt es nur einmal. Aus allen Geräuschen würde er es heraushören.

    Heute bisse gut drauf, sagt er sich, als er vom Rasen zurück in die Kabine trabt. Noch mal umziehen, noch ein paar Worte vom Trainer. Aber der sagt eh nie viel.

    Der Trainer vom MSV heißt Willibert Kremer. Als mein Vater in Meiderich zur Schule ging, hatte er bei ihm Sportunterricht, bei einem richtigen Bundesligatrainer. Meine Sportlehrerin macht sonst nur Mathe und Kunst.

    Die Aufstellung ertönt, der Stadionsprecher liest über Lautsprecher die Vornamen der Spieler vor und die Fans schreien dann den Nachnamen. Die hören sich lustig an: NAIHÜSS! GIELCHEN! PUTZAMMZISS! Mein Vater hat mir erzählt, wenn der Willibert Kremer sich die Aufstellung überlegt, geht er im Duisburger Wald hinterm Zoo spazieren. Bestimmt weiß er das, weil Kremer mal sein Sportlehrer war.

    »Nummer zeehn …« Der Stadionsprecher quakt wie eine Ente: »… Michaeel …«

    »TÖNNJESS!«

    Boah, war das laut!

    In den Katakomben unter der Haupttribüne hört Michael Tönnies von all dem nichts. Und das ist auch besser so, denn er ist ohnehin schon nervös genug. Heute bisse gut drauf, sagt er in Gedanken zu sich selbst. Heute machse zwei.

    Kurz bevor die Spieler rausgehen, zieht er sich noch einmal zurück, geht vorbei am Duschtrakt, wo sein Mitspieler Ewald Lienen auf einer Isomatte liegt. Lienen hat die Augen geschlossen. Autogenes Training, Atemübungen – so entspannt er sich vor dem Spiel.

    Ach, der meditiert wieder, denkt sich Michael Tönnies im Vorbeigehen. Für ihn ist das nix, er geht lieber aufs Klo noch schnell eine Kippe rauchen. Nur ein paar Züge – das beruhigt ihn.

    Dann pfeift der Schiri.

    Michael Tönnies wirft die Zigarette ins Klo, zieht ab und geht zurück. Im Kabinengang warten schon seine Mitspieler, aufgereiht daneben die Gegner. Eisenstollen klicken unruhig auf dem Boden.

    »Meine Herren«, sagt Hartmut Strampe, der Schiri. Er ist jünger als so mancher Duisburger Spieler hier im Gang; es ist sein erstes Spiel in der 1. Bundesliga. Dann laufen sie raus. Das Rauschen wird lauter. Michael Tönnies spürt es am ganzen Körper, als er über die Tartanbahn auf den Rasen läuft, mitten hinein.

    Zum Glück haben sie doch noch die richtigen Trikots angezogen. Mehr habe ich mir gar nicht gewünscht. Wenn der MSV jetzt auch noch gewinnt …

    Um 19:30 Uhr pfeift Schiedsrichter Hartmut Strampe an. Es ist der 27. August 1991. Sechster Spieltag. MSV Duisburg gegen den Karlsruher SC. In einer Viertelstunde wird Michael Tönnies unsterblich sein.

    Es war sein größtes Spiel und das Spiel meines Lebens. Damals dachte ich, es ginge immer so weiter. Aber von da an ging es bergab. Mehr als zwei Jahrzehnte später frage ich ihn nun: »Wissen Sie eigentlich, was Sie damals angerichtet haben?« Er zieht die knöchrigen Schultern hoch, die viel zu breit wirken für seinen abgemagerten Körper. »Was will man da machen?«, antwortet er, »da läuft das Schicksal.« Und dann, fast entschuldigend, sagt er noch: »Ich hab’ mich in die Herzen der Fans geschossen.«

    Er sagt es, als würde er sich dafür genieren, als zweifle er daran, ob er das wirklich verdient habe. Wie einer, der sich auf der Kirmes überreden lässt, ein Los zu kaufen, dann sogar gewinnt, aber am Ende nicht weiß, was er mit dem sperrigen Hauptgewinn anfangen soll. Mit den Toren vom 27. August 1991 scheint es wie mit seinen Schultern zu sein. Sie sind ihm zu groß geworden.

    Damals im Sommer 2013 siezen wir uns noch, ich ahne nicht, dass aus diesem Gespräch mal ein Buch entstehen würde. Es soll eigentlich nur ein Randaspekt sein in einer Reportage über die Situation des MSV Duisburg, der in diesem Sommer 2013 vor dem Absturz in den Amateurfußball steht. Schon während unseres Gesprächs merke ich, dass diese Lebensgeschichte zu groß ist, um sie in ein paar Sätzen abzuhandeln.

    Doch bis auf ein Online-Magazin interessiert sich niemand für die Geschichte des Michael Tönnies. Ich verstehe es nicht, denn ich hatte nie zuvor einen Menschen erlebt, der so schonungslos und offen über sich und sein Leben urteilt, ohne dabei jedoch verbittert zu klingen. Ein Mann, der dem Tod nach schwerer Krankheit entronnen war und sich dennoch die entwaffnende Unbedarftheit eines Kindes bewahrt hat. Mir ist sofort klar, dass diese Geschichte zu groß ist, um sie in irgendeiner Schublade verstauben zu lassen. Als ich ihn einige Wochen später anrufe und frage, ob er schon mal darüber nachgedacht habe, seine Biografie zu schreiben, sagt er: »Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemanden interessiert.«

    Ich gebe ihm Bedenkzeit, und zum Glück dauert es nicht lange, bis er es sich anders überlegt. »Ich will das machen, solange ich noch ein bisschen berühmt bin«, sagt er. Mitte September 2013, knapp drei Monate nach unserem ersten Treffen, einigen wir uns darauf, dass ich die Geschichten seines Lebens aufschreibe. »Auf der Kippe.« Der Titel gefällt ihm auf Anhieb.

    Kindheitshelden können zerbrechen, wenn man sie von dem Sockel herabsteigen lässt, auf den man sie einst gestellt hat. Weil der Mensch hinter dem Helden kaum mit dem Bild mithalten kann, das man sich von ihm gemacht hat. Weil der Mensch hinter dem Helden selten heldenhaft ist.

    Die Giraffen sind nie wieder so groß gewesen wie beim ersten Mal. Und Michael Tönnies hat nie wieder so einen Tag erwischt wie damals im August 1991, als ich ihn zum ersten Mal sah.

    Aber zum Staunen bringt er mich noch immer.

    Jan Mohnhaupt, Berlin, im März 2015

    Fünf auf einmal

    »Die Handlungen eines Furchtsamen, wie die eines Genies, liegen außerhalb aller Berechnungen.«

    Heinrich Heine: Französische Zustände

    Fünf Stufen – dann ist Schluss, dann muss sich Michael Tönnies setzen. Seine Lunge fühlt sich an, als würde sie gleich rausfliegen. Erschöpft schaut er über seine linke Schulter hinauf zum Mount Everest. Dreizehn Stufen sind es bis zum Gipfel. Michael Tönnies ist 1,86 Meter groß. Wenn er vor der Treppe steht, reicht ihm die dritte Stufe bis zum Knie und die fünfte bis zur Hüfte. Heute ist ein guter Tag, denn meistens schafft er nur drei.

    Er muss hinauf, jeden Tag, denn dort oben wohnt er, wie ein Eremit auf einem Berg. Mount Everest – so nennt er die Treppe zwischen dem Erdgeschoss und ersten Stock im Haus seiner Eltern, weil es jeden Tag für ihn eine Qual ist hinaufzusteigen, so als müsse er täglich auf den höchsten Berg der Welt klettern – ohne Sauerstoffgerät. Er ist wieder da, wo er als Kind schon war. Ein Mann von Anfang 50, auf dem Weg in sein Kinderzimmer. Dort oben wohnt er seit einigen Jahren, seitdem alles den Bach runtergegangen ist – die Karriere, die Kneipe, die Ehe, die Gesundheit, alles. Wie lange das her ist, weiß er nicht. Er zählt die Jahre nicht mehr und denkt auch nicht daran, wie es vorher war.

    Das Einzige, an das er denken kann, ist das Atmen. Einfach atmen, das ist für ihn das Schwierigste. Er atmet flach, das Ausatmen fällt ihm besonders schwer, die Luft will nicht aus seiner Lunge heraus. Michael Tönnies hat ein Lungenemphysem, eine chronische Erweiterung der Lunge. Die Veranlagung für diese Krankheit steckt schon in seinen Genen, doch er hat alles dafür getan, um sie ausbrechen zu lassen.

    Morgens und nach dem Essen ist das Treppensteigen am schwierigsten, dann schafft er nur drei Stufen auf einmal. Bis er oben angelangt sein wird, muss er mindestens zweimal anhalten und sich hinsetzen. Die fünf Schritte am Anfang der Treppe sind das Äußerste dessen, was sein Körper noch leisten kann, bis ihm die Luft wegbleibt und ihn seine Lunge in die Knie zwingt.

    Es gab mal eine Zeit, als die fünf in anderer Form sein Leben geprägt hat. Fünf Tore in einem Spiel schießen nur ganz wenige Fußballer. Und wenn überhaupt, dann passiert so etwas nur einmal im Leben. Michael Tönnies ist es zweimal gelungen, zum ersten Mal im Dezember 1977, damals

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