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So lonely: Ein Leben mit dem MSV Duisburg
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So lonely: Ein Leben mit dem MSV Duisburg
eBook275 Seiten3 Stunden

So lonely: Ein Leben mit dem MSV Duisburg

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Über dieses E-Book

Wer in Duisburg-Meiderich aufwächst, dem ist als Schicksal mitgegeben, Fan des MSV Duisburg zu sein. Davon erzählt Michael Wildberg in seinem Buch, lebendig, frech und temporeich: vom Leben in der nicht immer ausverkauften Fankurve, von abenteuerlichen Begegnungen am Essener Hauptbahnhof, von wilden Partynächten in Duisburg und sogar von einem DFB-Pokal-Finale.
Eines steht dabei fest: dass beim MSV nach jeder Phase der Euphorie ein Absturz ins Bodenlose droht. Diese Achterbahnfahrten der Gefühle vermag Michael Wildberg wunderbar treffend zu beschreiben – so, dass der Fan beim Lesen einstige Glücksgefühle ebenso wiedererlebt wie schiere Verzweiflung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2011
ISBN9783895337864
So lonely: Ein Leben mit dem MSV Duisburg

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    Buchvorschau

    So lonely - Michael Wildberg

    Ahlen)

    Inventar

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der nun folgenden Therapieversuche mehrerer posttraumatischer Belastungsstörungen – ausgelöst durch so Menschen wie Wolfgang Frank, Pierre Littbarski und Jürgen Kohler – ausschließlich durch schwallartiges und unkontrolliertes Herausschreien bzw. -schreiben entstehen konnte, ist es vonnöten, ein paar der auftretenden Protagonisten näher zu erläutern, um etwaige Verständnisprobleme zu vermeiden. Es finden sich also auf den nun folgenden Seiten Gestalten, die zufälligerweise immense Ähnlichkeit mit Personen aus meinem sozialen Umfeld haben. Also, let’s go …

    Der Sozialpädagoge: Der Sozialpädagoge ist bester Kumpan einer mittlerweile über zehnjährigen Reise, die uns gemeinsam sowohl in die tiefsten Niederungen menschlicher Abgründe als auch bis vor die Himmelspforten des Größenwahns geführt hat, also von Essen bis Köln. Seiner Profession hat er es zu verdanken, dass er einen Großteil seiner Zeit mit Eis-Essen, Schwimmen und Kart-Fahren verbringt, im Fachjargon „Erlebnispädagogik genannt, und dafür auch noch bezahlt wird. Den Rest seines Lebens vergeudet er in einer stadtbekannten Oberhausener Kneipe, laut Eigenaussage einzig und allein dem Umstand geschuldet, dass er dort „sturztrunken jeden Oberhausener aufs Übelste beschimpfen kann, der ihm so über den Weg läuft.

    Ben: Eine Galaleistung seiner fußballintellektuellen Fähigkeiten legte Ben am 21. Spieltag der Saison 2000/01 hin. Wir schauten uns gemeinsam mit drei anderen Leuten das Spiel gegen Aachen an, der MSV führte gegen die Alemannia bereits mit 3:0, als er in der 75. Minute aufs Spielfeld starrte und leise vor sich hinmurmelte: „Ich denke, Eugen Hach wird gleich Demir und Hildmann bringen, wahrscheinlich nimmt er Landgraf und Schmidt dafür vom Feld. Alles andere wäre Irrsinn." Als der Trainer der Aachener dann in der 80. Minute exakt diese Wechsel vollzog, floh der Sozialpädagoge fluchtartig, derweil ich Ben entgeistert anblickte und traurig mit dem Kopf schüttelte. Nachdem er sich jahrelang als Manager der Kicker von Hobby Hamborn auszeichnen konnte, verdient Ben seine Brötchen und andere Nahrung mittlerweile im Journalismus. Seine Liebe zu Werder Bremen versteht niemand, wird aber akzeptiert.

    Reinhold: Reinhold trägt seit der Geburt dieselbe Frisur, was sein Leben erheblich erleichtert. „Wenn du 50 Jahre mit diesem Verein zu tun hast, hast du für Veränderungen nichts mehr übrig, ist sein philosophischster Kommentar zu diesem Thema, meistens untermalt von den Gesängen der Beatles, die er fast genauso lange in sein Herz geschlossen hat wie den MSV Duisburg, „nur mit weniger Schmerzen. Auswärtsfahrten sind ohne diesen Menschen undenkbar. Wer sonst sollte uns schließlich nach deprimierenden Niederlagen von den Heldentaten vergangener Zeiten berichten, um uns daran zu erinnern, dass es hier auch anders aussehen kann.

    Philipp: Bens bester Freund, der in unkontrollierter Hektik und in einem mit McDonalds-Tüten vollgestopften Gefährt nahezu täglich deutsche Autobahnen unsicher macht, um SB-Bäckereien zu managen. Sein Lieblingsgetränk ist Cuba Libre, den er immer dann extrem lässig in seiner Hand hält, wenn er des Nachts – gerne mit Lehrerinnen – in obskuren Diskotheken über das Leben, die Liebe und sonstigen Unsinn philosophiert. Früher konnte er noch bei der Wundertruppe Hobby Hamborn glänzen, einer Bande übelster Subjekte, die sich allwöchentlich auf einer Hamborner Wiese trafen, um sich dort im fußballerischen Dilettantismus zu üben.

    Mattes: Mittlerweile Lehrer und Familienvater, vor einigen Jahren noch damit beschäftigt, zu erlernen, wie man sich die Schleifen seiner Schuhe zubindet. Mattes ist ein wandelndes TV-Serien-Lexikon, von Dr. Snuggels bis zu Inspektor Gadget, von Knight Rider bis A-Team. Als Verteidiger und Torhüter Hobby Hamborns verbreitete er über Jahre hinweg Angst und Schrecken im eigenen Strafraum, kam aber nie ohne Schürfwunden vom Feld und tat auch sonst alles, um den jeweiligen Gegner bis aufs Blut zu bekämpfen.

    Tim: Aus dem Dunstkreis des Sozialpädagogen bzw. aus dem Dunstkreis des Tennisclubs Blau-Weiß Oberhausen, einer sportlich äußerst traurigen Angelegenheit, die auch sonst kaum mit glücklichen Menschen aufwarten kann. Sein größter sportlicher Erfolg bestand darin, einen Holländer in einem Ligaspiel zu schlagen, „einen Holländer, kapierst du, einen gottverdammten Holländer". Mit etwa 20 von Bayern München zum MSV Duisburg konvertiert, ein Schritt, für den wir etwa fünf Jahre Vorbereitung brauchten.

    Alle anderen Personen wie z.B. Vater, Mutter, Bruder und Freundin erklären sich von selbst und kommen in diesem Werk als Vater, Mutter, Bruder und Freundin vor. Klagen eurerseits sind übrigens an dieser Stelle ausgeschlossen. Ich habe mich informiert und bin auf der absolut sicheren Seite, ihr solltet es also gar nicht erst versuchen.

    So, und nun lasst die Spiele beginnen, wir haben schließlich keine Zeit zu verlieren. In ein paar Tagen spielt wieder der Meidericher SV, und den will momentan niemand verpassen.

    Gruß aus Neudorf

    Micha

    Als ich anfing, den Dicken zu lieben

    Ich wurde am 4. Juni 1981 geboren. Einer der ersten Sätze, die ich demnach von meinem Vater wohl gehört haben muss, war: „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier", geäußert am 6. Juni 1981, als der MSV sein Heimspiel gegen Bayer Leverkusen sang- und klanglos mit 2:4 verlor. Ich war also bereits zwei Tage alt, als mir das vorherrschende Credo der nächsten Jahrzehnte mit röchelnder Tonmodulation nahe gebracht wurde.

    Dass ich aber dennoch mit Schampus und Partymusik auf die Welt kam, lag daran, dass zur gleichen Zeit der FC Schalke 04 seinen Auswärtsauftritt in Kaiserslautern verhaute und somit schnurstracks Richtung zweite Liga abging. Es ist nicht überliefert, ob mein Vater anschließend die Nacht zum Tag gemacht hat, aber seine Abneigung gegen die Schalker verhehlte er auch den Rest meiner Sozialisation nicht. Vielmehr handelte es sich dabei um ein Postulat, das es nicht zu hinterfragen galt. Schalke war scheiße. Punkt.

    Wären meine Eltern ein bisschen cleverer gewesen, so hätten sie mich zwei Wochen vorher in die Welt entlassen. Der MSV verprügelte die Knappen mit 5:1, Jara, Nigbur und Fischer wurden aus dem Stadion gejagt, 27.000 Zuschauer drehten am Rad und Schiedsrichter war der entenschnatternde Walter Eschweiler gewesen, der Jahre später noch im Frühstücksfernsehen unsinnige Prognosen für den kommenden Spieltag abgeben musste und sich jedes einzelne Mal meinen Zorn zuzog, wenn er dem MSV mal wieder eine Niederlage prognostizierte.

    Ich kam also gottverdammte zwei Wochen zu spät.

    Danke, Mama.

    Danke, Papa.

    In meiner ersten Saison als MSV-Fan, ich wurde mittlerweile ein Jahr alt, stieg der MSV als Gründungsmitglied der Bundesliga einfach ab. Vorbei waren die glorreichen Siebziger, als Ennatz Dietz sich zur vollen Blüte erhob und die Bayern im Alleingang erlegte. Oder als die Mannschaft im UEFA-Cup für Furore sorgte und erst an der Gladbacher Elf im Halbfinale scheiterte. Vorbei auch die Zeiten, als ein Duisburger Spieler eine deutsche Auswahlmannschaft anführte. 1980 nahm Ennatz Dietz den Europameisterpokal in Rom entgegen. Horst Hrubesch hatte das 2:1 gegen die Belgier in der 88. eingeköpft. Eben jener Horst Hrubesch, der 25 Jahre später zu mir „Verpiss dich, du Arschloch sagen sollte, als ich mitten im Stadion sturztrunken neben ihm stand und lauthals schrie: „Guckt mal alle her! Hier sitzt der Hrubesch! Vorbei auch die Zeiten, in denen die Bayern überlegten, hier ihre besten Spieler zu schonen, da eh keine Aussicht auf einen Sieg bestand. Vorbei auch die Schlachten gegen die Reviernachbarn oder gegen die Wundertruppe aus Gladbach von der anderen Niederrheinseite. Es war vorbei.

    Bei mir fing es an.

    Seit diesen Jahren hat nie wieder ein Duisburger eine deutsche Auswahlmannschaft auf das Spielfeld geführt, und Nationalspieler konnten unsere Talente erst werden, nachdem sie den Verein mit wehenden Fahnen Richtung Bayern, Karlsruhe oder sonst wohin verlassen hatten. International wurde nur noch höchstselten gespielt und wenn, dann nur auf freundschaftlicher Ebene. Es gab auch keine glorreichen Siege mehr gegen die Bayern, auf Jahre durfte man gegen sie noch nicht einmal spielen.

    Der furchtbare Niedergang des Traditionsvereins setzte sich fort. 1984 schafften sie es noch einmal in die Relegation, die Frankfurter Eintracht war der Gegner, das Hinspiel fand in Duisburg statt. Mein Vater und mein Bruder pilgerten vorfreudig ins Stadion, der MSV endlich wieder zurück auf dem Weg in die höchste deutsche Spielklasse, ein Traum.

    Das Tor zum 0:5 bekam mein Vater nicht mehr mit. Laut eigener Schilderung irrte er quer durch den Block, auf der Suche nach seinen künstlichen Zähnen, die er, wutentbrannt vor sich hin keifend, schon beim letzten Gegentor verloren hatte. Ich bin mir ziemlich sicher den Satz „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier" an jenem Tage abermals gehört zu haben, diesmal aber aus mehreren Kehlen, mit und ohne Gebiss.

    Abstieg 1986 in die Oberliga, 18 Punkte Rückstand am Ende der Saison, der Verein nahezu pleite. Mein Hirn setzte langsam, aber sicher ein. Ich rannte hinter Bällen her und kugelte mich durch die Gegend.

    1987 wurde ich eingeschult, im Wohnzimmer mit der Eichenschrankwand und den kackbraunen Teppichen starrte man auf den knopfumrandeten Fernseher. Ernst Huberty röchelte durchs Bild, Wechsel auf die Tabelle, damals noch penibel auf kleine Nägel gehangen und mit der Kamera abgefilmt: „Naja, wenigstens vor Hamborn 07." Wer ist dieser Hamborn 07 eigentlich? Weiter kugeln, immer weiter kugeln.

    Mein erstes Spiel, ein Freundschaftsspiel gegen die Bayern. Von Meiderich aus konnte man mit der Straßenbahn zum Stadion fahren. Ich klammerte mich an die Hand meiner Schwester, ein selbst gestrickter Schal um meinen Hals, neben uns die hoch toupierte Flamme meines Bruders. Friseuse, natürlich.

    Meine Schwester, die blöde Kuh, raffte überhaupt nichts, die Friseuse neben uns ebenso wenig. In Marxloh stiegen wir aus, vollkommen falsche Richtung, mindestens die erste Halbzeit verschenkt und ich zum ersten Mal in meinem jungen Leben gegenüber Frauen gewaltbereit.

    Der MSV gewann seinen ersten Titel: Deutscher Amateurmeister 1987, die Stadt flippte aus, Tausende von Wimpeln mussten neu bedruckt werden. Eh dieser Wimpel. Untereinander stehen dort die größten Erfolge unseres Vereins: Deutscher Vizemeister (1963/64), 3 x DFB-Pokalfinalist (1966, 1975, 1998), Deutscher Amateurmeister (1987). Danach gähnende Leere, mittendrin eigentlich auch, oder übersetzt: Nur anschauen, nicht anfassen.

    „Papa, haben wir eigentlich jemals einen Titel geholt? „Halt bloß dein vorlautes Mundwerk! Oder: „Geh doch zu Schalke, wenn du unbedingt enterbt werden willst!"

    Langsam, aber sicher sickerte es durch: Mit meinem Vater war nicht gut Kirschen essen, sobald es um den sportlichen Erfolg unseres Heimatvereins ging. Der Niedergang nagte an ihm, während ich begann, aufzudrehen.

    Mit Pipeff, mittlerweile mit der Klassiker-Kombi Kinderwagen und Pils unterwegs, rannte ich über den Schulhof, Grundschule Zoppenbrück, direkt neben dem Asylantenwohnheim. Das Derby stand an, Hamborn gegen Duisburg, Zweiter gegen den Ersten, 13.000 im Stadion, Oberliga wohlgemerkt, dritte Liga, für mich wichtiger als jedes Länderspiel und jede Niederlage von Schalke 04. Duisburg rannte und rannte und rannte, Hamborn schoss das 1:0 vor der Pause. Die Zebras in der zweiten Halbzeit gegen ein Bollwerk und dennoch: Tönnies zum 1:1, und als es keiner mehr für möglich hielt Struckmann in der letzten Minute. Die Wedau bebte.

    „Tor, Tor, Tor, ich rannte über den Schulhof, die Arme in den Himmel gereckt, Richtung Aula, meiner imaginären Tribüne, und schmiss mich auf den Boden vor meine imaginären Fans, mittags um vier, nach der Schule und keine Menschenseele weit und breit. Pipeff stand im Tor und murmelte: „Drüber, traute sich aber angesichts der sich vor seinem Auge abspielenden Ekstase nicht, weiter den Querulanten zu mimen. Wir hatten auch gar kein Tor, nur zwei Stangen, und über die Höhe der Latte entschieden wir je nach Situation. Hier war es mehr als eindeutig gewesen. Und am Ende der Saison auch: 97 Tore, 61 Punkte, wenn ich mich recht entsinne. Oberhausen stieg mit satten vier Punkten ab, wusste schon damals, dass das mit denen nichts wird.

    Aufstiegsrunde und ich sehe ein einziges Spiel. Das Heimspiel gegen Preußen Münster, mehr als 20.000 im Stadion und ich auf der Tribüne. Ein Epos. Erschlagen von der Menge an Menschen, erschlagen von der Lautstärke, erschlagen von dem Einheitsgefühl und der gleichzeitigen Einsamkeit, dass keiner einem helfen kann, wenn es mal schiefgeht. Es gibt nichts Einsameres, als nach einer Niederlage in einem vollbesetzten Stadion zu stehen. Nirgendwo sonst wird derart deutlich, wie sehr Niederlagen ins eigene Herz brettern können. Keiner da, der dir hilft. Auch nicht dein Vater, der nach dem 1:3 immer nur schreit: „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier", dabei aber wenigstens sein Gebiss nicht verliert.

    Und dann machen sie es klar, in Berlin, vor 50.000 im Olympiastadion.

    Natürlich nicht. Sie spielten in Reinickendorf, bei den Füchsen. Gewannen dort und waren wieder dabei, der Profifußball hatte uns wieder.

    Ich wusste nicht, wie es stand. Ich hatte überhaupt keine Ahnung.

    Auf unserem Campingplatz in der Nähe von Wesel wartete ich auf dem Fußballfeld, mein viel zu enges Trikot an den Wanst gepresst, und stand blöd in der Gegend herum. Eine Ewigkeit lang.

    Von Weitem kommt mein Vater den Hang hochgerannt. Er hält die Arme in die Höhe gereckt, und ich schreie und renne wie wild hin und her.

    Ich hatte eine einfache Formel, um herauszufinden, welcher Spieler sich in einem Formtief befand oder welcher Recke am nächsten Wochenende das Spiel entscheiden würde. Ich nahm einen Ball und ging damit auf unseren Garagenhof. Dann stellte ich mich zwischen die Garagen und schoss mit dem Ball auf die trennenden Betonpfeiler. Zumindest versuchte ich es. Nach und nach zählte ich die Spieler auf: Struckmann, dann der Schuss, Tönnies, dann der Schuss, Torwart Macherey? Macht nicht mit.

    Je nach Tageslaune entschieden fünf bis einhundert Versuche über die Form des Spielers. Wenn ich den Pfeiler mehrmals traf, sah es nach einem Sahnetag aus. Wenn es mal nicht so gut für jemanden lief, kam Frau Hartmann auf den Balkon gerannt und schrie herum, dass sie einen solchen Lärm zuletzt im Sommer ’43 gehört hätte, bevor sie wieder wild keifend hinter der Gardine verschwand.

    Als ich anschließend schwitzend im Wohnzimmer einfiel, erzählte ich meinem Vater, dass Struckmann und Steininger eine Galashow abliefern würden, wohingegen ich mir bei Tönnies und Kober nicht sicher wäre. Notthoff und Strunz hätten aber Normalform: „Also, ich sag mal 2:0, mit viel Hängen und Würgen."

    Mein Vater nickte, nickte noch einmal, guckte mich bescheuert an und las wieder Zeitung.

    Und es ging weiter. Von der Tribüne auf die Nordgerade, im Schlepptau meinen Bruder und Thomas, einen Freund der Familie, Sohn meiner Patentante aus erster Ehe. Mein Vater, der keifte. Mein Bruder, der schrie, und Thomas, der immer hüpfte und bei Toren beide Hände auf den Schultern des Vordermanns ablegte, um sich von dort aus in die Höhe zu schrauben. Kassel und Bayreuth werden zu Hause 3:1 geschlagen, Darmstadt und Aachen auch.

    Erstes Auswärtsspiel auf Schalke, dem Feind, erstes Auswärtsspiel meiner Karriere. Meine Mutter verbietet mir, drei Gabeln mitzunehmen, die ich einpacken wollte, um mich und meine Familie im Notfall verteidigen zu können. Strömender, widerlicher Regen auf der Südgeraden des alten Parkstadions. Duisburg in Gelbblau, nahezu brasilianisch, wusste schon damals, dass da was nicht stimmt. Mein Bruder und Thomas in der Gästekurve: „Papa, warum tragen die alle Schwarz?"

    Als hundert Mann auf den Zaun stürmen und ein bengalisches Feuer entzünden, murmelt er: „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier, muss dabei aber grinsen. 1:1, Uwe Kober stürmt auf den Kasten der Schalker zu, „Schieß, schieß!, er schießt und macht das Tor. Ich drehe durch, die Leute drehen sich um. Abseits, Abpfiff, im immer noch strömenden Regen. Unentschieden auf Schalke. Wenigstens nicht verloren.

    Mein Vater und ich sitzen zuerst im Auto und warten. Mein Vater schaut auf die Uhr und wringt seine Hose aus. Er erzählt mir die Geschichte, wie er früher mal, ganz früher im Stadion dem Vordermann in die Schuhe gepinkelt hat, weil es so voll war, dass man sich nicht bewegen konnte und so geregnet hat, dass der Vordermann gar nicht wusste, was dort mit ihm geschah. Die Autotür wird aufgerissen, mein Bruder und Thomas springen in den Wagen, mein Bruder schreit: „Fahr los! Fahr einfach los!", und streicht sich erschöpft mit der Hand durch die klatschnassen Haare.

    Der pure Wahnsinn der nächsten Saison, 1990/91, Deutschland wiedervereint und Weltmeister geworden. Meine Sportkarriere startete kometenhaft. Endlich Judoka, endlich den kleinen, dicken Körper in einen weißen Kampfanzug zwängen. Mein erstes Turnier: Umgehend Gold. In der Klasse +45 Kilo konnte sich kein weiterer Gegner auffinden lassen, und nach drei Stunden schweißtreibenden Wartens stand ich auf einem Podest, auf dem sonst überhaupt niemand mehr stand.

    Und ein anderer Dicker machte von sich reden. Der beste Stürmer seit Gerd Müller, pfeilschnell, abgewichst, ein sagenhafter Torinstinkt, eine sagenhafte Ästhetik, Weltklasse, absolut. Weder Klinsmann noch Völler, weder Allofs noch Rummenigge, keiner konnte ihm das Wasser reichen. Keiner hatte so viele Kilos auf den Rippen.

    Der Dicke sah aus wie Helmut Rahn in seinen letzten Karrierejahren. Der Helmut Rahn, der mit den Zebras die italienische Defensive nach Deutschland importierte und mit „Rudi-Riegel" Gutendorf die Vizemeisterschaft erlangte. Michael Tönnies. So einen gab’s nur ein einziges Mal.

    Der Dicke war ein Phänomen. Man traf ihn in der Pommesbude und beim Pils, man sah ihn beim Griechen, beim Türken und im Bahnhof abhängen. Der Dicke zwängte sich das Trikot in die Hose und schleppte seinen Körper über das Feld, als müsste er eine Abrissbirne durch die Gegend hieven. Quergestreift wirkte das alles noch voluminöser und hinter vorgehaltener Hand sprach sich herum, dass der Dicke stangenweise Kippen rauchen würde. Wer so lebt, fällt eigentlich mit Herzinfarkt um, aber nicht Michael Tönnies. Der Dicke schoss in 34 Spielen 29 Tore.

    Die Wedau lag ihm zu Füßen. Wer hatte jemals einen solchen Spieler gesehen? Einen Menschen, der anscheinend von der Straße, aus der Kneipe, aus der U-Bahn gekidnappt wurde, als man sah, wie er zufällig mit dem Ball einem ICE hinterherrannte. Es war ein einziger Sturmlauf, eine wild gewordene Fahrt durch den gegnerischen Strafraum, ein Tempo und ein Körper, mit dem es nur ganz wenige aufnehmen konnten. Der Dicke spielte gegen Christian Wörns und Jürgen Klopp. Der Dicke düpierte sie alle. Er stand nicht in der Gegend herum, er sprintete, er bewegte sich, und wenn er die ersten paar Meter hinter sich hatte, war es für jeden Verteidiger schwer, ihn zu halten. Dieser Körper hatte genug Kraft, um jeden flinken, aber körperlich unterlegenen Verteidiger mit einer kurzen, aber heftigen Bewegung aus vollem Lauf einfach wegstoßen zu können. Man konnte diesen kräftigen Kerl auch nicht einfach festhalten. Er war nicht zu bändigen. Und er drehte sich in die Bälle, schlug Seitfallzieher, Flugkopfbälle, Direktabnahmen am 16er, sowie feine Pässe in die Spitze, um seine Mitspieler zu bedienen.

    Und von denen gab es so einige. Lothar Woelk, ein alter Recke des VfL Bochum. Ewald Lienen, der schon die großen Schlachten hinter sich hatte und dieses Spiel auf seine alten Tage immer noch besser verstand als ein Großteil seiner jungen Kollegen. Der aufstrebende Michael Tarnat. Die ewig kämpfende Achse um Pino Steininger, Dirk Bremser, Michael Struckmann und Patrick Notthoff. Joachim Hopp fing an, Karriere zu machen. Und dann die Kampfbienen um Ferenc Schmidt und Jürgen Kober. Im Tor Heribert Macherey, dem schon in jungen Jahren die Haare ausgingen.

    Ich will nicht wissen, wie die polizeilichen Führungszeugnisse eines Großteils dieser Spieler aussahen, aber was sie in der Saison 1990/91 auf den Zweitligaplätzen dieser Republik boten, war dermaßen zerreißend, dass das Fieber ausbrechen musste. Das absolute Fieber.

    Ich hatte nicht nur die richtigen Maße, um auf dem Garagenhof den Dicken zu mimen, sondern auch die nötige Arroganz, um mir im kindlichen Leichtsinn einzureden, dass auch mein Talent nicht zu verachten wäre. All meine Arroganz ergab sich aus dem Umstand, dass ich nach erfolgreich durchgeführtem Nachbarschaftsterror eine neue Herausforderung brauchte und auf den anliegenden Garagenhof zog, wo Daniel und Dennis ihre Tage verbrachten und sich gegenseitig die Bälle zuschossen.

    Während Daniel in meinem Alter war, wir also schon mit satten neun Jahren zum alten Eisen gehörten, handelte es sich bei Dennis um einen sechsjährigen Jungspund, was ein verdammt gefährliches Alter ist, wenn man größere Geschwister hat, deren zentrales Hobby es ist, einen im Schrank einzusperren. Die klassische Arithmetik ergab dann auch, dass Dennis einsam und alleine vor seinem Tor herumstand, derweil wir uns in Position brachten und abwechselnd die Treffer übten, die wir zuvor in

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